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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

253–255

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kleeberg, Sylvia E.

Titel/Untertitel:

Staat – Kirche – Volksschule im Reußenland. Teil 1: Eine vergleichende Mikrostudie zur Entwicklung der Schulaufsichtsfrage in den Fürstentümern Reuß älterer Linie (1778–1918) und Reuß jüngerer Linie (1848–1918) unter den Bedingungen des langen 19. Jahrhunderts.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 443 S. = Studien zur Religiösen Bildung, 9. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04181-7.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Kleeberg-Hörnlein, Sylvia E. [Hrsg.]: Staat – Kirche – Volksschule im Reußenland. Teil 2: Ausgewählte Rechtsquellen zur Entwicklung des Staats-Kirchen-Volksschul-Verhältnisses in den reußischen Territorien vom 16. bis 20. Jahrhundert. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. 531 S. = Studien zur Religiösen Bildung, 10. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-04182-4.


Im Zentrum der zwei Bände (Text/Quellen) umfassenden Jenenser Dissertation von Sylvia E. Kleeberg-Hörnlein steht die Entwicklung der Schulaufsichtsfrage in den reußischen Territorien im langen 19. Jh. Die Eingrenzung bezieht sich auf den Zeitraum zwischen 1778/1848 und 1918. Die Vfn. zeichnet ihre Mikrostudie in einen säkular werdenden Kontext ein und geht vom Bedeutungsverlust religiöser Bildungsinhalte aus. Die zur Zeit ihrer selbständigen Existenz in den Fokus geratenen Fürstentümer Reuß, die ältere wie die jüngere Linie, verfügen über ein Netz an Verwandt schafts- und Freundschaftsbeziehungen. Sie sind in politischer Hinsicht (absolutistisch/konstitutionell), aber auch in religiöser Ausrichtung (orthodox bzw. mild lutherisch) verschieden (28 f.).
Allgemeine historisch-systematische Begriffsbestimmungen do­minieren im ersten Teil (31–126). Die Schulaufsicht wird als Dienstaufsicht über Lehrkräfte, Unterricht und Schulverwaltung sowie als Normierungsrecht wahrgenommen (32 f.). Das Schulaufsichtsgesetz von 1872 leistet weniger einer Trennung von Schule und Kirche Vorschub. Es fasst vielmehr das Ergebnis der Schulentwicklung seit dem 16. Jh. zusammen: Der Unterhalt erfolgt durch die Kommunen, die Schulen werden konfessionell homogen (45). Entwicklungsstruktur (Systemfindung, -konstitution und -komplettierung), aber auch Bildungsexpansion (Titze) tragen zum modernen Schulsystem bei (53). Infolge staatlicher Verwaltungs- und Machtpolitik setzt eine Bürokratisierung ein, die nicht ohne Folgen für Staatsgebilde und Schulpolitik bleibt (70). Episkopalismus, Territorialismus und Kollegialismus ringen im 19. Jh. um eine zeitgemäße Ausformung des landesherrlichen Kirchenregiments. Auffällig ist ein unter Heinrich XXIV. zu Reuß-Köstritz eingeführter Staatspietismus (106–109), der sich gegenüber einem auserwählten Hauskirchenpietismus in einzelnen Gemeinden wie Zeulenroda kaum durchsetzen kann (113). Die Schulentwicklungen verlaufen in einzelnen Gebieten – wie Obergreiz, Ebersdorf und Köstritz – zwar unterschiedlich (126), sie sind aber durch ein Abstreifen von nicht-schulischen Nebenämtern durch Lehrkräfte (118) sowie eine gleichbleibend mangelhafte Lehrerbildung geprägt (122).
Im Territorium der Herrschaft Reuß, älterer Linie, betreffen die Grundlagen der Schulaufsichtsfrage im langen 19. Jh. die Landes-, Kirchen- und Volksschulgeschichte. Unter den verschiedenen Herrschern findet sich immerhin eine Frau: Fürstin Caroline ruft um die Mitte des 19. Jh.s lutherische Geistliche an den Hof und beendet damit das Eindringen neupietistischer und erwecklicher Frömmigkeit (155). Im Durchgang durch die verschiedenen Maßnahmen des Herrschaftsgeschlechts (Einrichtung eines Seminars) sowie deren zunehmend lutherisch-orthodoxe Haltung verdich-tet sich die Erkenntnis, dass keine »bloße Staatsschule« (184) eingeführt, sondern eine Arbeitsteilung zwischen Schule und Gemeinde erreicht wurde. Die rechtlichen Grundlagen fokussieren die Staats-, Kirchen- und Schulverwaltung. Politische und kirchliche Strukturen entsprechen sich: In die staatlichen Verordnungen sind Paragraphen zur kirchlichen Situation integriert (206). Die Einrichtung von Gemeindevorständen eröffnet auf den unteren Verwaltungsebenen Formen von Eigenständigkeit (212). Auf der Ebene der Schulverwaltung tritt der reußische Staat seine Rechte (u. a. Überwachung der Schulpflicht) aus pragmatischen Gründen an andere Instanzen ab: Die Konsistorien agieren als Oberschulbehörden. Schulische Verwaltungsangelegenheiten gehen an die örtliche Ge­meinde über. Eine Verselbständigung der Schulverwaltung er­folgt erst 1919.
Die Herrschaft Reuß jüngere Linie zeichnet sich durch größere Liberalität in den Grundeinstellungen aus. Das Recht auf Staatsbürgerschaft bleibt aber selbst nach 1856 an das Bekenntnis gebunden. Eine Teilnahme an Kirchenzucht und kirchlichen Feiertagen ist verpflichtend (247 f.). In Anlehnung an die preußische Entwicklung wird das Schulwesen seit 1870 ausgebaut (278). Die Verwaltung wird horizontal gegliedert (309). Bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte gelten allen Personen (313). Eine Verselbständigung der Kirche oder eine Trennung von Schule und Kirche ist weder in der Mitte des 19. Jh.s noch später vorgesehen (342), auf den mittleren Verwaltungsebenen können entsprechende Vollzüge namhaft gemacht werden (344).
Bis zum 18. Jh. war das Schulwesen in beiden Territorien von seiner doppelten Bindung an Staat und Kirche spezifisch betroffen. Insofern die Kirche insbesondere für das Schulwesen verantwortlich ist, kommt es zu einer Vermischung verschiedener Legitima-tionstypen. Die Kirchentheorien kommen in Ansätzen vor: Episkopal-, Territorial- und Kollegialtheorie verschränken sich. Obwohl die Ausgangsvoraussetzungen in den Territorien verschieden sind, findet sich ein ähnliches Muster. Die Bürokratisierung befördert bis zum 18. Jh. einen Herrschaftsauf- und -ausbau. Der bisweilen staatskritische Pietismus spielt in einzelnen Gebieten eine herausragende Rolle, nicht zuletzt deshalb, weil er die Verstaatlichung der Schulaufsichtsfrage vorantreiben will. Noch 1911 werden in beiden Gebieten kirchliche Aufsichtsstrukturen genutzt. Die Differenzen zwischen den Territorien sind seit Mitte des 19. Jh.s kaum noch zu erkennen. Insofern folgert die Vfn., dass weniger die Säkularisierung als vielmehr eine Pragmatisierung der Verwaltung zu einer Ausdifferenzierung des modernen Schulwesens führt. Dann wäre die 1919 erfolgte Trennung von Kirche und Staat nicht Ergebnis eines Säkularisierungsprozesses, sondern Folge des Zusammenbruchs von monarchistischen Staatssystemen. Dass der Religionsunterricht nach 1919 erhalten blieb, scheint vor diesem Hintergrund gewissermaßen folgerichtig.
Der zweite Teilband der Untersuchung veröffentlicht die im ersten Teilband im Quellenverzeichnis zusammengetragenen Ge­setzestexte und Verordnungen, sofern sie für die Geschichte der Schulaufsichtsfrage in Reuß älterer und jüngerer Linie von Relevanz sind.
Die Studie gelangt zu einem interessanten Ergebnis, das die eigenen Ausgangsvoraussetzungen in Frage stellt. Dies gelingt, ob­schon ein Verständnis von Mikrohistorie zugrunde liegt, das sich in einem Gegensatz zu der – etwa von der École des Annales – eingeführten Begrifflichkeit befindet. Nicht mentalitätsgeschicht-liche Analysen oder methodologisch innovative Vorgehensweisen, sondern die positivistische Suche nach motiv- und beziehungsgeschichtlichen Zusammenhängen fokussiert einen Umgang mit der Schulaufsichtsfrage, der sich säkularisierungsskeptisch geriert.