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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

251–253

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Dressler, Bernhard

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht. Bildungstheore-tische Grundlegungen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018 (2. Aufl. 2019). 332 S. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05594-4.

Rezensent:

Andreas Kubik-Boltres

Was man eigentlich genau macht, wenn man an einer staatlichen Schule Religion unterrichtet, das ist eine Frage, die viel zu denken gibt. Nur selten wagt sich die Religionspädagogik in die Bergeshöhen der Philosophie über ihren Gegenstand. Das Ergebnis einer solchen langjährigen Expedition liegt hier nun vor. Formal stellt es eine Erweiterung von Bernhard Dresslers Buch »Unterscheidungen« (Rez. in ThLZ 131 [2006], 1334 f.) dar, geht aber weit über eine bloße Neuauflage hinaus. D. hat eine Reihe neuerer Aufsätze integriert und die Literatur auf den aktuellen Stand gebracht, so dass – von einigen kleineren Redundanzen abgesehen – ein Werk aus einem Guss entstanden ist. Das ganze Buch atmet den Geist eines Autors, der genau weiß, was er will: »kein Lehrbuch«, sondern »eine prononciert positionelle Grundlegung« (18).
Eine solche lebt von einer konsistenten Grundeinsicht. Man kann diese vielleicht in vier Thesen zusammenfassen. Erstens: Religiöse Bildung legitimiert sich im liberalen Staat am besten vom Recht auf positive Religionsfreiheit her; die Schule muss dafür Sorge tragen, dass Schüler dieses begründet und informiert wahrnehmen können. Zweitens: Information in Sachen Religion kann sich niemals auf bloße Kenntnisse über »Lehrmeinungen und Gebräuche« beschränken, es gilt vielmehr, Religion als einen ureigenen Modus der Weltbegegnung kennenzulernen, was am besten in der vorwiegenden Beschäftigung mit genau einer Religion gelingt. Drittens: Die vorlaufende Vertrautheit mit diesem Modus kann sozialisatorisch nicht mehr vorausgesetzt werden, es braucht daher didaktische Verfahren, um Religion in ihrer spezifischen Modalität auch in der Schule erschließen zu können. Und schließlich: Das eigentliche Bildungsziel des schulischen Religionsunterrichts be­steht im kontrollierten hermeneutischen Wechsel zwischen probeartiger Partizipation an und analytischer Deutung von Religion.
Mit dieser Grundeinsicht ergeben sich die Positionen, von de­nen D. sich religionspädagogisch abgrenzt, gleichsam von allein. D. steht zum einen gegen ein Verständnis von Religionsunterricht, welches sich selbst auf eine kognitive Religionskunde restringiert; hier werde »geradezu ein falsches Verständnis von Religion vermittelt« (58), wonach Religion das »Fürwahrhalten […] vorwissenschaftlicher Tatsachenbehauptungen« (167) sei. Zum anderen verwahrt sich D. gegen die Auffassung, der Religionsunterricht habe vor allem zur Bildung von (ethischen) Werten beizutragen. Auch hier drohe eine Rücknahme der neuzeitlichen Ausdifferenzierung von Religion und Moral ebenso wie eine Aufladung des Religionsunterrichts mit Erziehungszielen, für die man überhaupt nicht kontrolliert einstehen könne.
Jene Grundeinsicht wird in sechs Kapiteln stringent durchgeführt und nach verschiedenen Seiten hin entfaltet. Das erste Ka-pitel enthält eine kritische Apologie des Bildungsbegriffs; in ihm geht es um die Möglichkeit, übernützliche und nicht verrechenbare Momente von Individualität im Prozess des Aufwachsens überhaupt denken zu können: »Im Bildungsbegriff bleibt eine Hoffnung auf Humanität lebendig, er kann aber keine Garantie auf ihre Verwirklichung ausstellen.« (38) Zugleich kann Bildung nach D. nur dort gesellschaftsfunktional sein, wo sie von allen Ansprüchen einer zielgerichteten Funktionalisierung freigestellt wird. Im zweiten Kapitel wird dieser Bildungsbegriff als theologisches Thema eingeholt. Dabei denkt D. vor allem an die Aspekte der christ-lichen Schöpfungs- und Rechtfertigungslehre, welche das überschüssige Moment von Individualität unterstreichen: Jeder Mensch ist immer mehr als das, was er tun und lassen kann, mehr als das, was man von ihm sehen kann, mehr auch als das, was man an ihm erziehen kann. Das dritte Kapitel entfaltet eine Tiefeninterpretation der religionssoziologischen Bedingungen, unter denen Jugendliche heute ihr Leben führen müssen. Der Pluralismus wird da-bei als zentrales Problem geltend gemacht, aber weniger im Sinne des Nebeneinanders verschiedener religiöser Richtungen, sondern eher im Sinne des permanent erforderlichen Wechsels verschiedener Einstellungen, vor allem des Changierens zwischen religiösem und nichtreligiösem Weltzugang. Die »Grundfrage religiösen Lernens« ist mithin: »Wie kann man seine eigene Religion für wahr halten – und dennoch die Rechte Andersgläubiger ebenso anerkennen wie die Geltungsansprüche anderer Rationalitätsmodi?« (109) Die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und die damit sich verbindende »Ambiguitätstoleranz« (107) werden damit zu zentralen religiösen Bildungszielen. Kapitel 4 reklamiert den Religionsbegriff als unverzichtbar, weil nur er nach D. in der Lage ist, zwischen einer schultheoretischen Begründung des Religionsunterrichts und den Anliegen der Religionsgemeinschaften zu vermitteln. Religion ist mit Lübbe, Kambartel u. a. ein spezifisches kulturelles Verhalten zum Unverfügbaren; das müsste auch eine ›neutrale‹ Religionskunde deutlich machen. Folglich – und dies ist eine überraschende, aber in meinen Augen zwingende Konsequenz – gibt es zwischen konfessionellem Religionsunterricht und einer Religionskunde nur » graduelle Unterscheidungen« (171), aber keine prinzipielle Differenz. Im Umkehrschluss kann das fünfte Kapitel dann ohne Scheu die Vorzüge des Religionsunterrichts nach Art. 7.3 GG deutlich machen. Auch in einem religionskundlichen Unterricht wäre es schlicht und ergreifend »sachangemessen« (vgl. 201), die Religionsgemeinschaften aktiv zu beteiligen. Hier und dort müsste man von der »Vorfindlichkeit« (140) der Religion ausgehen: Schülerinnen und Schüler brauchen, um ihr Recht auf Religionsfreiheit gebildet wahrnehmen zu können, »Erfahrungen mit öffentlichen Gestaltungsformen von Religion« (211), die es zu erproben und zu deuten gilt. Im sechsten Kapitel verteidigt und präzisiert D. die von ihm maßgeb lich mitentwickelte »performanzorientierte Religionsdidaktik« (290). Diese ist weniger ein methodisches Prinzip, sondern sagt den »orientierenden Bezug auf die Gestalten christlich-religiöser Kommu-nikation« (290) aus. Infolgedessen ist auch die häufig geforderte »Authentizität« (298) der Lehrperson weniger eine Aussage über deren psychische Einstellung als vielmehr eine über ihre Kompetenz, in die Sinnhaftigkeit der Vollzüge von Handlungen und Zeichen der jeweiligen Religion einzuleiten. Religionslehrer und -lehrerinnen sind heute weniger ›Zeugen‹ als vielmehr »Fremdenführer in andere Sinngebiete« (325). Ihre Aufgabe ist ganz analog zu den Aufgaben der Lehrkräfte anderer Fächer zu »zeigen« (312), wie der spezifische Modus des fachlichen Gegenstandsbereichs – also hier: der Religion – funktioniert.
Eine systematische Philosophie des Religionsunterrichts zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass eigentlich keine Sachprobleme unbehandelt bleiben. D.s Buch erschließt folglich auch die aktuellen religionspädagogischen Debatten: Ob konstruktivis-tische Religionspädagogik, interreligiöses Lernen, Kompetenzorientierung oder die Kinder- und Jugendtheologie – nichts bleibt unerörtert, überall fällt auch für die mit den jeweiligen De­batten Vertrauten noch ein neuer, interessanter Gesichtspunkt mit ab. (Gerade deswegen wäre allerdings die Anfertigung eines Regis-ters unendlich hilfreich gewesen – sehr schade!)
Zwei zentrale Einwände wären anzubringen, die sich nicht einfach aus einer anderen Positionalität, sondern m. E. aus seinem An­satz selbst ergeben.
Zum einen scheint mir D.s Aversion gegen das Verständnis des Religionsunterrichts als Werteerziehung (die ich an sich teile) zu unterschlagen, dass für weite Teile der Bevölkerung das Christentum tatsächlich in seinem Beitrag zu einem stabilen Wertekorsett besteht. Man mag das normativ für falsch halten; chris-tentumstheoretisch dürfte es sich hierbei aber um eine Frömmigkeitsrichtung handeln, welche ebenfalls in ihrer Vorfindlichkeit allererst zu erschließen wäre. Damit verbindet sich ein Zweites. D.s Konzept lebt ersichtlich von »einer grundlegenden Neubewertung der neuprotestantischen Traditionen« (70). Die neuprotestantische Religionstheorie (U. Barth, J. Lauster) ist diejenige Form der Theologie, welche nach D.s Urteil allein in der Lage ist, die neuentdeckte pädagogische Religionssensibilität (J. Baumert, D. Benner) konstruktiv aufzunehmen. Freilich ergibt sich damit in der Durchführung, dass immer dort, wo von »Religion« – dem Bildungswert der Religion, der humanen Bedeutung der Religion usw. – die Rede ist, in Wahrheit stets erst einmal nur die christliche Religion, vor allem in evangelischer Zuspitzung gemeint ist. Ob sich etwa der Islam in diesen Ausführungen wiederfände, bedürfte »jedenfalls einer besonderen Diskussion« (312). Man kann fragen, ob sein Konzept nicht faktisch auf ein Plädoyer für einen »Religionsunterricht für alle in christlicher Verantwortung« – wenn man sich nur den Namen aus Hamburg ausleiht – hinausläuft.
Ich würde mir wünschen, dass D. seine Theorie im Hinblick auf diese hegemonialen Voraussetzungen, die sich schlicht aus der wohletablierten, ausfinanzierten und rechtlich durchaus privilegierten Stellung der christlichen Theologien ergeben, noch etwas weitertreiben wollte, wie es umgekehrt wünschenswert wäre, dass andere Religionen dieses grandiose Ge­sprächsangebot aufgreifen. Denn letztlich wäre es wohl auch in deren Sinne, wenn im Zentrum des Unterrichts der Vollzugssinn der jeweiligen Religion bliebe und dieser weder im Hinblick auf Wertebildung funktionalisiert noch auf reine Sachinformation herunterrasiert würde.