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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

247–249

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Pattison, George

Titel/Untertitel:

A Phenomenology of the Devout Life. A Philosophy of Christian Life, Part I. Bampton Lectures 2017.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2018. 240 S. Geb. US$ 85,00. ISBN 978-0-19-881350-7.

Rezensent:

Claudia Welz

Der Band basiert auf den Bampton Lectures, die George Pattison, Professor an der Universität Glasgow, 2017 an der Universität Ox­ford hielt. Das Buch ist der erste Band einer Trilogie zur Philosophie des christlichen Lebens. Während der erste Band sich auf die Sehnsucht des Frommen richtet, sein Leben auf Gott hin zu orientieren, soll sich der zweite Band (The Rhetorics of the Word) mit der verbalen Artikulation dieser Orientierung befassen und der dritte (The Metaphysics of Love) mit der Frage, was dies über den Charakter der Wirklichkeit offenbart. P. beschreibt den Untersuchungsgang als eine Bewegung von der Sehnsucht über das Wort zur Liebe (1 f.).
P. wählt, wie er in der Einleitung erläutert, von vornherein einen Zugang, der keinen Glauben an Gott voraussetzt, da der Gottesglaube keine Selbstverständlichkeit ist und alle theologischen Diskurse, die in der Öffentlichkeit respektiert werden wollen, sich philosophisch und humanwissenschaftlich hinterfragen lassen müssen (6 f.). Das Phänomen gläubigen Lebens (devout life) gilt ihm als eine Lebensform, in welcher Theorie und Praxis zusammenwirken in einem Prozess wechselseitiger Klärung und Korrektur (8–12). Wenngleich der Hauptfokus auf ausgewählten Verfassern spiritueller Schriften im Frankreich des 17. Jh.s liegt, vor allem François de Salignac de La Mothe-Fénelon und Franz von Sales, werden immer wieder aufschlussreiche Querbezüge zu anderen Denkern erstellt.
Die ersten beiden der insgesamt neun Kapitel des Buches setzen die Methodendiskussion fort. Erklärungsbedürftig ist, wie P. selbst anmerkt, weshalb das Selbst bzw. »a practice of the self« (20) im Mittelpunkt eines Buches steht, dessen Hauptprotagonisten sich in ihrer Frömmigkeitspraxis lebenslang darum bemühten, selbstlos zu werden im Sinne der Selbstentäußerung (self-renunciation) oder -vernichtung (self-annihilation). Kapitel 1 (Starting with the Self) liefert eine dreifache Antwort: Erstens erschließen sich dadurch verschiedene Optionen im Blick darauf, was es heißt, ein Mensch zu sein (23); zweitens bietet die Frömmigkeitsliteratur in ihrem Widerstand gegen rücksichtslos durchgesetzte Autonomie oder gar Selbstvergöttlichung ein komplexeres Menschenbild als eine rein rationalistische Sicht des Menschen; und drittens können wir vor diesem Hintergrund auch unser heutiges Menschsein und -werden besser verstehen (26 f.). Kapitel 2 ( Why Phenomenology?) erklärt, weshalb die Phänomenologie eine dem Untersuchungsziel, die Gottesbeziehung des gläubigen Selbst zu interpretieren, angemessene Methode ist, wenn diese sich auf das begrenzt, was im Horizont menschlicher Erfahrung als Bewusstseinsinhalt erscheinen kann (43). Wie Nelson Pike definiert auch P. die Methode seiner Studie als phenomenography: als deskriptive Analyse nicht von be­stimmten mentalen Zuständen, sondern von Berichten über be­stimmte Phänomene, hier: Texte von Christen über ihr Leben vor Gott (50). Es geht dabei um die ganze Bandbreite von affektivem, volitionalem, intellektuellem und sozialem Engagement (51 f.). Wichtig wird zuvörderst die Tradition der existentiellen Phänomenologie, im Vertrauen darauf, dass eine adäquate Interpretation des frommen Lebens auch zu einem adäquaten Verständnis der menschlichen Gottesbeziehung führen wird (65). Die Grundprämisse ist, dass das spirituelle Selbst als ein offenes, relationales Selbst existiert und nur durch seine Beziehung zu Gott und seinen Mitmenschen sein kann, was es ist (66).
Die folgenden sieben Kapitel charakterisieren dieses Selbst. Kapitel 3 (The Aspiring Self) beschreibt devotion in Absetzung vom Wissen als Verhaltensweise mit besonderer Betonung des Fühlens und Wollens (76). Philothea, das fromme Mustersubjekt, wird vor allem definiert durch »desire (aspiration)« (77) und das Gezogenwerden von Gottes Ruf (81). Kapitel 4 (The Whole Self) sieht das gläubige Leben als ein holistisches, körperlich-seelisches, raumzeitliches Ganzes, das vom Willen bestimmt wird, den eigenen Willen Gott unterzuordnen (89.91), und sich dadurch in Gelassenheit und Geduld übt (95) auf der Reise zu und mit Gott (102). Kapitel 5 (The Relational Self) nimmt zwar Kierkegaards Formel vom Selbst als Selbstverhältnis im Verhältnis zu Gott zum Ausgangspunkt, entwickelt dann aber eine dezidiert anti-reformatorische Position, welche die Willensfreiheit des mit der göttlichen Gnade kooperierenden theozentrischen Selbst hervorhebt (109 f.121) unter dem nicht weiter erläuterten Motto respondeo ergo sum (114). Die Theologie Luthers und Calvins wird leider nur karikiert. Hätte man die Meinungen der katholischen Hauptpersonen an den protestantischen Quellen gemessen, wäre deutlich geworden, dass hier nicht »a residual desire for the good« (109) abgewiesen wird, sondern eine gott-lose Erfüllung dieser Sehnsucht nach dem Guten. Zudem drängt die Entgegenstellung eines »katholischen« Modells lebenslanger Umkehr, Buße, Vergebung und Erneuerung und eines »protestantischen« once and for all (134 f.) zu einer Nuancierung.
Kapitel 6 (The Tempted Self) sieht die Versuchung als allgegenwärtig, »inherent in the human condition«, doch am gefährlichsten sei der Glaube »that we have been overcome by it« (124). Als Beispiele werden die unzulängliche Sprache, in sozialen Relationen auftretende Phänomene wie etwa der Neid und schmeichlerische Anpassung genannt sowie im Blick auf spiritual trial das Beinahe-Opfer Isaaks. Kapitel 7 (The Humbled Self) handelt von einem Paradox: »The devout self […] must strive to let go, it must act so as to become passive« (145). Im geistlichen Kampf muss das Ich sich besiegen lassen und demütig seine Abhängigkeit von Gott anerkennen (147 f.). Die Demut gilt als Basis aller anderen Tugenden (149) und Christus selbst als Vorbild (152–160). Das in Kapitel 8 vorgestellte Annihilated Self möchte »nichts werden«, um Gott und die Mitmenschen selbstlos lieben zu können. Das zunichte gewordene Selbst kann, mit Kierkegaard zu sprechen, nicht das Geringste ohne Gottes Hilfe (171). Kapitel 9 (The Self in and before God) fragt nach der Struktur des sich selbst bzw. den eigenen Willen vernichtenden Selbst. Die Antwort (pre- bzw. post-subjectivity) ist jedoch schwer mit der Phänomenologie des 20. Jh.s zu vereinen, denn verabschiedet man das Subjekt der Erfahrung ganz, kann man ihm eigentlich auch kein Selbst-Verstehen (205), keine Gelassenheit oder Antwortfähigkeit auf den Ruf Gottes mehr zuschreiben (s. dagegen 186 f.191 f.). P. bemerkt treffend, dass »abandonment of self« und »affirmation of self« ineinsfallen (197). Es würde sich lohnen, diesen Ge­danken weiter zu entfalten. Gerade Kierkegaard, dessen Name oft ohne Literaturhinweise genannt wird (z. B. 100.183), böte wertvolle Anstöße dazu.
Von Gott kann phänomenologisch nur die Rede sein, sofern er im Horizont des frommen Lebens erscheint. Er wird einerseits definiert als das, was in der Sehnsucht »zieht« und was wir vorbehaltlos lieben können (199), andererseits gilt: »if God is beyond understanding then he is beyond language« (200). Wie diese beiden Bewegungen (die kata- und die apophatische) zusammengehen, ist ein weiterer Punkt, welcher der Entfaltung harrt. Man darf gespannt sein darauf, wie dieser Themenkomplex in den nächsten beiden Bänden der Trilogie weiterentwickelt wird.