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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

231–238

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Habermas, Jürgen

Titel/Untertitel:

Auch eine Geschichte der Philosophie. 2 Bde. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2019. 1752 S. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-518-58734-8.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Es gibt Leistungen, die kann man nur bewundern. Habermas’ große Studie in zwei Bänden gehört dazu. Mit 90 Jahren ein solches Werk vorzulegen, ist eine bewundernswürdige Leistung. Sie zeigt, dass das Feuer der Philosophie noch immer in ihm brennt. Aber sie belegt auch, dass H. zwar alt, aber nicht fromm geworden ist, wie er einmal sagte. Auf über 1700 Seiten geht es ihm um eine Rekonstruktion der Genealogie nachmetaphysischen Denkens am Leitfaden des Diskurses über Glauben und Wissen (I, 9). H. schreibt nicht als Philosophiehistoriker, der er nicht ist, sondern als Sozialphilosoph, der die Hintergründe und Herkünfte der autonomen Vernunft und kommunikativen Freiheit in der Gegenwart zu erhellen sucht. Nicht Athen, sondern Jerusalem wird dabei zur entscheidenden Herausforderung. Die Anfänge einer autonomen Vernunft in Philosophie, Mathematik und Wissenschaft kann man schon in der griechischen Antike entdecken, auch wenn H. das nicht herausarbeitet. Aber erst Judentum und Christentum schaffen die spannungsreiche Konstellation von Glauben und Wissen, der H. nachgeht – in den Denktraditionen des christlichen Westeuropas, nicht des durch den Islam mitgeprägten Mittelmeerraums und der Umgestaltung des hellenistischen Erbes in Osteuropa. Man lernt viel von diesen Bänden, aber vor allem über Habermas.
Seine Ausgangsprämisse ist, dass Vernunft und Freiheit heute säkular, transzendenzfrei und im Kern nichts anderes als diskursive Gemeinschaftsprojekte vergesellschafteter Subjekte sind. Zu ihrer Rechtfertigung kann man nicht mehr auf eine vorgegebene einheitsstiftende Ordnung setzen oder auf für alle verbindliche Ideen, Identitäten, Werte und Normen rekurrieren, sondern muss sich mit verfahrensorientierter Rationalität und dem kommunikativen Aushandeln von gemeinsam Verbindlichem begnügen. Was nicht in vernünftige Diskurse überführt werden kann, hat keine Zukunft. Das gilt auch für die Gehalte der Religionen. Nur solange die Frage offen ist, ob es »unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ›ins Profane‹ harren« (II, 807), stellen religiöse Traditionen für die säkulare Vernunft eine Herausforderung dar. Da es nicht auf der Hand liegt, dass dies nicht der Fall ist – man weiß, dass es keinen Gott gibt, und doch glaubt man an ihn (Horkheimer) –, geht H. in zehn umfangreichen Teilen ausgewählten Konstellationen der westlichen Hintergrundgeschichte des nachmetaphysischen Denkens nach, dem er seine eigene Philosophie zuordnet und das er für die Signatur unserer Epoche hält.
Band 1 untersucht »Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen« in sechs Teilen. Teil I (»Zur Frage einer Genealogie nachmetaphysischen Denkens«) entfaltet ausführlich das Programm des Werkes. Im ersten Band geht es um das Zeitalter des Weltbilds, das H. zufolge mit den Umbrüchen der Reformation zu Ende gegangen ist. Leitfaden ist dabei seine Orientierung an Jaspers Konzeption der Achsenzeit, die er aber als deskriptive Theorie re-ligionsgeschichtlicher Entwicklungen, nicht als wertendes ge­schichtsphilosophisches Konstrukt liest. Teil II entfaltet so »Die sakralen Wurzeln der achsenzeitlichen Überlieferungen« (Mythos, Ritus, das Sakrale und die achselzeitliche Transformation des religiösen Bewusstseins), Teil III bietet einen »provisorische[n] Vergleich der achsenzeitlichen Weltbilder« (mythisches Denken, jüdischer Monotheismus, Buddhas Lehre und Praxis, Konfuzianismus und Taoismus sowie Sokrates und Platos Ideenlehre). Teil IV geht der »Symbiose von Glauben und Wissen im christlichen Platonismus und [der] Entstehung der römisch-katholischen Kirche« nach, wobei vor allem das Denken Augustins im Zentrum steht. Teil V untersucht die »Fortschreitende Differenzierung zwischen sacerdotium und regnum, Glauben und Wissen« im christlichen Europa mit einem Schwerpunkt auf der Theologie von Thomas von Aquin. Teil V schließlich skizziert die »Philosophische[n] Weichenstellungen zur wissenschaftlichen, religiösen und gesellschaftlich-politischen Moderne« in der Via Moderna anhand einer Auseinandersetzung mit Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Niccolò Machiavelli und Francisco de Vitoria.
Band 2 (»Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen«) bietet in Teil VII eine detaillierte Diskussion der »Trennung von Glauben und Wissen« in »Protestantismus und Subjektphilosophie«, in der es vor allem um Luthers Denken und seine Folgen für die europäische Philosophie geht. Teil VIII (»An der Wegscheide nachmetaphysischen Denkens«) rekonstruiert die Positionen von Hume und Kant als die beiden verschiedenen Wege der westlichen Philosophie in die Moderne. Hume dekonstruiert das theologische Erbe und nähert die Philosophie an die säkulare Naturwissenschaft an. Kant säkularisiert das lutherische Erbe und leitet die transzendentale Wende der Philosophie ein. Teil IX ( »Sprachliche Verkörperung der Vernunft: Vom subjektiven zum ›objektiven‹ Geist«) geht Hegels Versuch nach, metaphysisches Denken nach Kant am Leitfaden der Idee einer Selbstbewegung des Begriffs neu zu etablieren. Teil X schließlich rekonstruiert die »Zeitgenossenschaft der Junghegelianer und die Probleme des nachmetaphysischen Denkens« in Auseinandersetzung mit Feuerbach, Marx, Kierkegaard und Peirce. Die archäologischen Bemühungen von H. enden mit dem Anfang des 20. Jh.s, dessen komplexe Entwicklungen er nicht mehr berücksichtigt.
An drei signifikanten Knotenpunkten seiner philosophiegeschichtlichen Tiefenbohrungen fügt H. Zwischenbetrachtungen ein, in denen er sich über den Gang der Rekonstruktion Rechenschaft ablegt. Die erste Zwischenbetrachtung (»Die begrifflichen Weichenstellungen der Achsenzeit«) steht vor der Auseinandersetzung mit dem christlichen Denken in Teil IV. H. rekapituliert knapp die »Weltbildrevolution der Achsenzeit« (463) mit ihrer Erzeugung des Gottesbegriffs als eines »transzendenten Bezugspunkts« im Judentum und deren Effekt der »Entdämonisierung der Welt« (464 f.) sowie die Ausdifferenzierung zwischen den performativen Gewissheiten der Lebenswelt und den Formen des theoretischen Wissens in Wissenschaft und Metaphysik. Die zweite Zwischenbetrachtung (»Die Zäsur der Trennung von Glauben und Wissen«) steht im zweiten Band nach den Beschreibungen der reformatorischen Umbrüche in Teil VII. Hier geht es um den säkularen Charakter des nachmetaphysischen Denkens, der mit einer immer deutlicheren Unterscheidung der Aufgaben der Philosophie und der Theologie einhergeht, die H. offenkundig für irreversibel hält. Die Zeit einer Philosophie der »kontemplativen Hingabe an die höchste und allumfassende Idee« (194) ist unwiederbringlich vorbei. Philosophie mutiert von der Lebenspraxis einer selbstinvolvierenden Beteiligtenperspektive in die Theoriehaltung einer dis- tanzierenden Beobachterperspektive. Durchgehend legt sie sich »auf die Beobachterperspektive einer dritten Person fest«, und zwar nicht nur im Blick auf die Behandlung der Außenwelt, sondern auch der Innenwelt (202). Die dritte Zwischenbetrachtung schließlich (»Vom objektiven Geist zur kommunikativen Vergesellschaftung erkennender und handelnder Subjekte«) wird nach dem Hegelteil und vor der Auseinandersetzung mit den Junghegelianern in Teil X eingeschoben. Sie zeigt auf, dass mit dem Ende der Neometaphysik Hegels das philosophische Systemdenken vorüber ist, damit aber die Gedanken des Ganzen und der Totalität neu gefasst werden müssen. Vollzugsdenken tritt an die Stelle des Systemdenkens. »Der für den Prozess im Ganzen maßgebende Begriff der Totalität ist ein versteckt sozialer Begriff« (564 f.). Steht und fällt aber der »sittliche Begriff der Totalität […] mit seinem performativen Gebrauch« (566), dann lässt sich prinzipiell das Ganze nicht mehr aus der Sicht des objektiven Beobachters beschreiben, sondern nur in der Teilnahme an einem kommunikativen Austausch der Argumente unter Beteiligten in Diskursen thematisieren. Es gibt kein Jenseits der Sprache mehr, in die wir alle eingebettet und durch die wir alle vergesellschaftet sind. Nur in diskursiven Verständigungsprozessen können Ich und Welt noch thematisiert werden – von Gott ist an diesem Punkt bezeichnenderweise nicht mehr die Rede.
Nach der Lektüre dieses umfangreichen Werkes ist noch deutlicher als zuvor, wie sehr H.s These vom nachmetaphysischen Denken an Jaspers wehmütigen Rückblick auf die Achsenzeit in seiner 1949 publizierten Studie Vom Ursprung und Ziel der Geschichte an­schließt (vgl. I, 100–110.177–179). Beide konstatieren das unwiederbringliche Ende einer Epoche, die sich an der Transzendenz orientiert hat. Beide tun das am Leitfaden der Unterscheidung von Glauben und Wissen. Und beide betonen die »Überlegenheit« der »Philosophie gegenüber allen anderen Glaubensmächten« (I, 105). Während aber Jaspers durch die Sehnsucht nach der mystischen Einheit des Glaubens den Blick über die europäischen Denkgrenzen hinaus auf andere Kulturzusammenhänge und ihre Entde-ckungen und Konfigurationen des Transzendenten richtet, wendet H. seinen Blick von der Einheit von Glauben und Wissen auf die Prozesse, die in der europäischen Tradition zur Befreiung des Wissens vom Glauben und zur Verabschiedung des Glaubens vom Wissen geführt haben. Dabei ist nicht so entscheidend, dass viele wichtige Denker und Entwürfe ausgespart werden (eine Auseinandersetzung mit Leibniz, Pascal, Schopenhauer oder Nietzsche sucht man vergeblich), auch nicht, dass viele Konstellationen nicht so gelesen werden müssen, wie er es vorschlägt (etwa die Alternative von Hume und Kant), sondern dass die ganze Rekonstruktion der behandelten Positionen von einer fragwürdigen Voreinstellung geleitet wird.
Mit Bedacht wählt H. nicht die vorkritische Unterscheidung von Vernunft und Glaube als Leitdifferenz seiner Darstellung, sondern die von Wissen und Glauben. Damit schließt er sich an Kant an, aber auch an Jaspers Konzept des philosophischen Glaubens, das mit dessen Denkfigur der Achsenzeit verknüpft ist. Mit deren Ende ist auch der Glaube ans Ende gekommen und damit auch der philosophische Rekurs auf den Glauben. H. stellt das von der ersten bis zur letzten Seite klar. Nicht nur die an den Naturwissenschaften orientierte szientistische Philosophie der Gegenwart hat mit dem Glauben nichts mehr zu tun, sondern auch die nach wie vor an den »vier Kantischen Menschheitsfragen« interessierte Sozial- und Freiheitsphilosophie, der er sich selbst zuordnet. Ebendas veranlasst ihn zu seiner umfänglichen archäologischen Genealogie des okzidentalen Denkens. »Erst das Verständnis der Gründe, die seit der Reformation die Subjektphilosophie zur anthropologischen Blickwendung, vor allem zur nachmetaphysischen Verabschiedung des Glaubens an eine restituierende oder ›rettende‹ Gerechtigkeit genötigt haben, öffnet die Augen für das Maß an Koopera-tionsbereitschaft, das kommunikativ vergesellschaftete Subjekte dem Gebrauch ihrer vernünftigen Freiheit zumuten müssen.« (I, 14) Wir müssen ohne Glauben leben, und die Philosophie zeigt uns, warum.
Aber das müssen wir nicht und die Philosophie zeigt es auch nicht. Sie kann sich nur in dieser Illusion wiegen, wenn sie »Glauben« so versteht, wie es H. im Anschluss an Kant und Jaspers tut. Auf der einen Seite wird »Glauben« in Band 1 kognitivistisch als »Modus des Für-wahr-Haltens« (I, 623 f u. ö.) und als ein Inbegriff von »Glaubenswahrheiten« konstruiert, die vernünftiger Begründung bedürftig, aber aufgrund des »Abstand[s] des transzendenten Gottes zum endlichen Geist des Menschen« (I, 740) nicht zugänglich sind. Auf der anderen Seite wird »Glauben« in Band 2 als performativer Vollzug religiöser Erfahrung von anderen Erfahrungsarten und zusammen mit diesen von der theoretischen Einstellung des Wissens unterschieden und als fideistische Abkoppelung von der philosophischen Bearbeitung des Weltwissens dargestellt. Das geschieht in beiden Hinsichten auf durchaus differenzierte Weise im Durchgang durch viele Entwürfe und Positionen. Aber bei allem Bedenkenswerten, das H.s Analysen zu Tage fördern, bleibt seine philosophische Einseitigkeit und theologische Kurzsichtigkeit an diesem Punkt eine gefährliche Schwäche des ganzen Projekts. Glaube wird durchgehend als Schwachform des Wissens oder als Performanzgestalt von Erfahrung begriffen. Beides aber geht am Kern des Problems vorbei, weil »Glauben« als Glaube an Jesus Christus kein religiöses Lebensphänomen unter oder neben anderen ist, sondern eine Gott selbst verdankte Einstellung des ganzen Lebens zur Gegenwart Gottes, die alle Lebensphänomene prägt und mit keinem zusammenfällt.
H. sieht richtig, dass sich die Frage nach Glauben und Wissen deshalb aufdrängt, weil die Selbstvergewisserung der europäischen Philosophie immer wieder an zwei Bezugspunkten orientiert ist: dem Rückgang auf die griechisch-römische Antike und der Aus-einandersetzung mit dem Christentum. Aber während »die griechisch-römische Antike Teil einer bereits abgeschlossenen Vergangenheit ist«, ist das Christentum eine immer noch »gegenwärtige […] Macht« (I, 25), und zwar bis heute. Das ist ein Stachel im Fleisch einer Philosophie, die gar nicht säkular werden kann, ohne sich von dieser Gegenwart zu emanzipieren. Aber wie soll sie das tun? H.s Lösung ist im Grunde einfach: Sie beschreibt einen Jahrhunderte andauernden Prozess der Trennung der Wege von Theologie und Philosophie, in dem sich die Philosophie von den Bezugnahmen auf den Glauben befreit und die Theologie den Glauben gegen das Wissen immunisiert. Beide bearbeiten nicht die gleichen Probleme auf verschiedene Weisen, sondern die Philosophie begreift sich als ein »fortschreitende[r] Prozess der Lösung von Problemen eigener Art« (27), während die Theologie im Grunde genommen gar keine Probleme mehr zu lösen hat, sondern ganz auf die performative Praxis des gemeinschaftlichen Glaubensvollzugs setzen muss. Das macht die fortdauernde Präsenz von Kirche und Theologie philosophisch aber nur noch verwunderlicher. Glaube und Theologie sind der Stachel im Fleisch einer Philosophie, die ihren säkularen Charakter als irreversiblen Fortschritt zu verteidigen sucht. Und so brechen bei aller Zurückhaltung im Ton sachlich immer wieder alte Fehlurteile und Verkürzungen auf, wenn Glaube und Theologie beschrieben werden.
Das ist besonders deutlich in dem der Reformation und ihren Folgen gewidmeten Teil VII, der den 2. Band eröffnet und eine Schlüsselstellung im ganzen Projekt hat. Anders als viele sieht H. nicht in Descartes, sondern in Luther die entscheidende Wende zur nachmetaphysischen Moderne. H. sieht auch richtig, dass Luther »den performativen Eigensinn christlicher Glaubenswahrheiten vor deren theoretischer Vergegenständlichung in metaphysischen Grundbegriffen retten« will, also dem Vollzug des Glaubens Vorrang einräumt vor dem rationalen Erweis der Vernünftigkeit seiner Gehalte; dass es damit aber »nicht länger die Vernunft« ist, »die den Menschen mit Gott verbindet«, sondern dass die Vernunft »selbst in die korrumpierte Welt tief verstrickt« ist; und dass mit dieser »entschlossenen Emanzipation des Glaubens von aller Metaphysik das Tor zu einer anthropologischen Wende der Philosophie« aufgestoßen und das »Zeitalter des Weltbildes« beendet ist (13 f.). Aber er entfaltet dann eine völlig unzulängliche Sicht des Glaubens bei Luther, die diesen ganz im Licht des romantischen Gegensatzes von »Innerem und Äußerem« als bloße Innerlichkeit der Subjektivität (14) auslegt. Das »Gottesverhältnis der Menschen gehört zu einer inneren Sphäre, die von [der] äußeren oder natürlichen Welt strikt geschieden ist« (29). Es hat daher auch nur für den Gläubigen und in der »Perspektive des Beteiligten« (28) eine Bedeutung. Das » Wie des Glaubensaktes« habe damit »Vorrang vor dem Glaubensinhalt« (34), der Glaube sei nur noch »eine Sache des Vertrauens, nicht der Erkenntnis« (35) und das laufe auf eine »fideistische Abkoppelung des Glaubens von der philosophischen Bearbeitung des Weltwissens« (38) und die »definitive Entkoppelung des Glaubens vom Wissen« (34) hinaus. Doch diese »fideistische Wendung« der Theologie sei nichts anderes als »Selbstimmunisierung« und »Abschirmung des religiösen Glaubens gegen Einsprüche des Weltwissens« (36 f.). Sie begründe die »hermeneutische Wende der Theologie« (38) und ihre Verabschiedung vom rationalen Diskurs der Vernunft. Nicht die Theologie, sondern allenfalls die religiöse Praxis stellt für die Philosophie daher eine Herausforderung dar. Mit der Theologie gibt es nichts zu verhandeln, und die religiöse Praxis muss sich »ins Profane« übersetzen, wenn eine säkulare Philosophie sich ernsthaft mit ihr befassen soll.
H.s Interpretation des Glaubens bei Luther ist eine Kombination des tridentinischen Missverständnisses des Glaubens als fideis-tische Gläubigkeit und einer an Feuerbach anschließenden Deutung des Gegenstands des Glaubens als bloß imaginative Konstruktion des gläubigen Subjekts. Das Resultat dieser Kombination von katholischem Missverständnis (Fideismus) und säkularem Antihegelianismus (Feuerbach) ist desaströs, weil es an allen entscheidenden Punkten Luthers Anliegen verfehlt.
Zum einen wird Luther ein abgrundtiefer »anthopologische[r] Pessimismus« (56) und ein »tief pessimistische[s] Bild von der Natur des Menschen« unterstellt, »dem ein autoritäres Bild von Staat, Recht und Gesellschaft entspricht« (59). Der Mensch werde nur negativ gesehen, unfähig, etwas Gutes zu bewirken, unfähig einen freien Willen zu praktizieren. Dass die negativen Aussagen über die Realität des menschlichen Lebens ihre Pointe darin haben, die Priorität und bedingungslose Güte der Zuwendung Gottes zu allen Menschen und gerade nicht nur zum »Kreis der Auserwählten« (30) herauszustreichen, wird zwar immer wieder gesehen, aber nicht verstanden. Weil Gott in der Rekonstruktion H.s keine reale Größe ist, sondern ein Konstrukt der Gläubigen, wird die Differenz zwischen coram mundo und coram deo auf die Unterscheidung einer allen zugänglichen Öffentlichkeit und einer rein privaten Innerlichkeit reduziert (33), ohne zu beachten, dass für Luther der Mensch nicht nur als inneres und privates Selbst, sondern auch als soziales und öffentliches Wesen vor Gott und damit im Wirkkreis der Gegenwart Gottes lebt. Es geht nicht um ein Innen, das als Privates im Gegensatz zum Öffentlichen steht, sondern um ein Endliches (Geschaffenes), das das Private (Innen) und Öffentliche (Außen) umfasst und im Gegensatz zum Unendlichen (Gott) steht. Gott ist nicht nur eine Privatrealität der Gläubigen in der Binnenperspektive der Beteiligten, sondern Gott gegenüber gibt es niemanden, der nicht in der Beteiligtenperspektive existieren würde. Das ist die Pointe der Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf, die in H.s Rekonstruktion der Position Luthers keine Rolle spielt. Seine Sicht bewegt sich durchweg in den Leitlinien der Analysen von Max Weber und von Quinton Skinner, die nicht an den Leitunterscheidungen des 16., sondern an den Problemlagen des 19. Jh.s orientiert sind, und er lässt sich auch dort nicht beirren, wo er bemerkt, dass Luther anders denkt und argumentiert (vgl. seine Schwierigkeiten mit Luthers »Disputation über den Menschen« [34]). Er ist überzeugt: »Für Luther spielt sich in der Innerlichkeit des Gläubigen alles Wesentliche ab« (I, 164), unbeeindruckt vom Weltwissen und ohne Fundierung in einer rituellen Gemeinschaftspraxis.
Zum anderen wird Luthers »fideistische Abkoppelung des Glaubens vom Wissen« als Grund dafür gesehen, dass der so verstandene Glaube und damit der Protestantismus »seine Verwurzelung in der rituellen Praxis der Gemeinde verliert« (II, 51). Zwar habe Luther mit der »radikalisierten Versprachlichung des Sakralen«, die an den Sakramentsdebatten exemplifiziert wird, den »Übergang zur Mo­derne« gebahnt, aber er sei ganz in seiner »schwarzen Anthropologie« befangen geblieben (II, 52) und habe anders als Erasmus kein vernünftiges Konzept menschlicher Willensfreiheit entwickelt. H. sieht nicht, dass Luther gerade in der Auseinandersetzung mit Erasmus ein Konzept der Freiheit ins Spiel bringt, das strikt an der Freiheit Gottes orientiert ist, die nicht darin ihre Pointe hat, das eine zu wählen oder etwas anderes, sondern gerade darin, das, was sie wählt, auch realisieren zu können. Frei ist, wer die Macht hat, das Gute, das er bewirken will, auch ins Werk zu setzen, und zwar so, dass es nicht in den üblen Folgen, die es auslöst, untergeht. Gott ist frei, weil er die Auswirkungen seines Wirkens unter Kontrolle hat. Der Mensch ist nicht frei, weil er genau das nicht hat. Und während H. deutlicher als viele andere betont, dass Kant zentrale Einsichten der reformatorischen Tradition philosophisch aufnimmt, sieht er nicht, dass gerade der Autonomiebegriff Kants dieses Konzept göttlicher Freiheit anthropologisch reformuliert: Im konkreten Handeln sind Menschen stets von den vielfältigen Bedingungen ihrer kontingenten Handlungssituationen abhängig. Nur an einem Punkt haben sie nach Kant wie Gott völlige Kontrolle über das Ergebnis ihres Tuns: Wer sich zum Guten bestimmt, realisiert dieses Ziel, indem er es tut.
Man kann das Gute wollen und es im Handeln verfehlen. Man kann aber nicht das Gute wollen und verfehlen, dass man es will. Wer Gutes will, will Gutes. Und wer es nicht will, nicht. Man kann mich zwingen, Übles zu tun, aber man kann mich nicht zwingen, das Üble, das ich tue, für gut zu halten. Autonomie im kantischen Sinn ist nicht eine Folgegestalt der Freiheitskonzeption von Erasmus, sondern von Luther.
Zum dritten wird eben diese Entkoppelung von Glauben und Wissen als Geburtsstunde des modernen Vernunft- und Freiheitsverständnisses beschrieben, das ohne Rekurs auf religiöse Gewissheiten auskommt und über die entscheidende Transformationstelle Kants zum »detranszendentalisierte[n] Begriff der vernünftigen Freiheit« führt, »der impliziert, dass niemand für sich alleine autonom sein kann« (806). Wir können nur zusammen frei zu sein versuchen, und das wird immer nur vorläufig, versuchsweise und riskant gelingen können. Aber wir können auch ohne Absicherung im Trans-zendenten oder Begründen im Transzendentalen »Mut schöpfen« für diese tastende Freiheitspraxis aus den »Spuren jener moralisch-praktischen Lebensprozesse […], die sich im Zuwachs an institutionalisierten Freiheiten und heute vor allem in den Praktiken und rechtlichen Gewährleistungen demokratischer Verfassungsstaaten verkörpern« (806). H.s nachmetaphysisches Denken verabschiedet nicht nur das Freiheitskonzept einer allein durch Gott exemplifizierten Freiheit, die Gutes nicht nur will, sondern bewirkt, sondern auch dessen Nachfolgegestalt im Kantischen Autonomiebegriff. Für ihn kann »niemand alleine autonom sein« (806), sondern alle können sich nur in tastenden Diskursen und fragilen Versuchen um ge­meinsame Freiheiten bemühen. Was ihm bleibt, ist die Berufung auf die »Kraft«, die »in den Kommunikationsbedingungen unserer ge­sellschaftlichen Existenz angelegt, aber keineswegs transzendental gewährleistet« ist (807).
Dass der Glaube – nicht die von H. zitierte »religiöse Erfahrung« – sich demgegenüber auf die »Vergegenwärtigung einer starken Trans-zendenz stützen kann«, bleibt »ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt« (807). Nur kann man sich diesen Pfahl nicht dadurch vom Hals halten, dass man die Geschichte von Glauben und Wissen seit dem 16. Jh. ohne philosophische Bezugnahme auf Gott beschreibt. H.s Re­konstruktion kennt nur Selbst- und Weltbeziehungen zur Beschreibung der Probleme, keine Gottesbeziehung und keine mit »Gott« benannte Realität, die mehr als anthropologische Fiktion wäre. Hier bleibt er ganz auf der Linie Feuerbachs und versucht nicht, diese noch einmal kritisch zu reflektieren. Alles wird daher auf die nachkantische Alternative von Innen und Außen, Geist und Natur, psychischer Innerlichkeit und physischer Äußerlichkeit zurückgebunden. Damit aber fehlen die begrifflichen Mittel, das zu rekonstruieren, was theolo gisch »Glauben« genannt zu werden verdient: die Verankerung des Lebens in der sich selbst erschließenden Gegenwart Gottes, die weder als Konstrukt fideistischer Gläubigkeit noch als rationalistische Begründung coram mundo zureichend zu verstehen ist, weil sie die wirksame Wirklichkeit darstellt, der wir uns verdanken und in der nicht wir handeln und wirken, sondern in der an uns gehan-delt und gewirkt wird. H. betont zu Recht die Priorität des per-formativen Vollzugs vor der theoretischen Einstellung rationaler Argumentation. Aber er kennt nur ein Handeln des Menschen, kein Wirken Gottes. Gott ist die Realität, mit der das nachmetaphy-sische Denken nichts anzufangen weiß. Darin bleibt es ganz den Sackgassen und Kurzschlüssen der philosophischen Moderne verpflichtet.
Die Frage nach dem Beitrag der Philosophie »zur rationalen Klärung unseres Selbst- und Weltverständnisses« (I,12) greift zu kurz, wenn sie die Frage nach der rationalen Klärung des Gottesverständnisses nicht einschließt. Man muss die ganze Triade von Gott, Selbst und Welt postmetaphysisch in den Blick nehmen und nicht nur zwei Elemente davon, um den Problemlagen des Glaubens und Wissens in der westlichen Tradition gerecht zu werden.
Erst wenn die Philosophie wieder lernt, das Gottesthema als solches ernst zu nehmen und das Gottesverhältnis nicht nur als Konstrukt subjektivistischer Innerlichkeit auf der Basis anthropologischer Selbst- und kosmologischer Weltverhältnisse zu verhandeln, sondern umgekehrt diese in das sich real vollziehende Gottesverhältnis einzuzeichnen oder aus diesem zu entfalten, wird es möglich werden, die Geschichte der okzidentalen Philosophie nachmetaphysisch wirklich neu und anders zu erzählen.