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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

227–229

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Calin, Rodolphe, Dangel, Tobias, u. Roberto Vinco [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Tradition der negativen Theologie in der deutschen und französischen Philosophie.

Verlag:

Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2018. 436 S. = Heidelberger Forschungen, 41. Geb. EUR 66,00. ISBN 978-3-8253-6496-0.

Rezensent:

Thomas Rentsch

Der reichhaltige Band (436 Seiten) enthält 19 Vorträge, die im Jahre 2014 auf einer deutsch-französischen Tagung in Montpellier gehalten wurden. Sie behandeln im deutschen Kontext den Prozess gegen Meister Eckhart in Avignon (J. Casteigt), Heidegger ( R. Vinco, E. Cattin), Przywara (E. Cattin), Jaspers (T. Ratsch), Benjamin (G. Raulet, P. König), Adorno (G. Moutot, T. Dangel) und Theunissen (N. Christgau). Im französischen Bereich werden Sartre (S. Neuber), Simone Weil (J.-Z. Périllié), Lacan mit Bezug auf Dionysius Areopagita und Cusanus (P. Ducros), Levinas (R. Calin), Derrida (F. Mary, F. Arnold), Agamben (D. Popa), Blanchot (G. Poppenberg), Marion (C. Serban) und Didi-Huberman (D. Popa) auf ihre Verbindung mit der negativen Theologie untersucht.
Bereits an diesem Überblick wird deutlich, dass die weitreichende Kernthese dieses Bandes keine abgehobenen Spezialuntersuchungen betrifft, sondern das grundlegende Gesamtverständnis der modernen Philosophie unter Einschluss bereits der Spät- und Postmoderne. Die Kernthese betrifft die wichtigsten Philosophen des 20. Jh.s, und sie besagt, dass die negative Theologie nicht auch eines ihrer Themen ist, sondern den Kern oder das Zentrum ihrer Systematik bildet. Der Grundgedanke der Differenzierung, des Anderen, verbindet Heidegger, Adorno, Lacan, Derrida, Marion und andere Theoretiker der Moderne, und er gründet in einer Konzeption der Negativität, der Unfassbarkeit des Einen, der Identität, des Grundes selbst, so die Herausgeber Calin, Dangel und Vinco in ihrer Einleitung des Bandes (7 ff.). Damit bemühen die modernen Philosophen den klassischen Ansatz der negativen Theologie des Absoluten, wie er z. B. von Dionysius Areopagita entwickelt wurde.
»Weil das Denken der Differenz jedoch in ähnliche Paradoxien einmündet wie das Denken der Einheit, drängt sich die Frage auf, ob sich im 20. Jh. spezifische Formen einer negativen Theologie der Differenz ausgebildet haben, die gerade aufgrund ihrer systematischen Nähe zur negativen Theologie der Einheit wieder auf die Frage nach Gott und dem Absoluten (und sei es auch à contre-cœur) zurückzuführen.« (9)
Jens Halfwassen zeigt in seinem Beitrag »Gott im Denken: Warum die Philosophie auf die Frage nach Gott nicht verzichten kann« (11–23), dass die Philosophie seit ihrem Beginn versucht, das Ganze des Wirklichen zu denken (11), somit aus dessen Grund, dessen Ur­sprung, seine Ganzheit und Einheit. Dieses Denken prägt sie seit Parmenides und Platon bis zu Hegel und Schelling, bis hin zu Henrich, Theunissen und Marion (12 ff.). Halfwassen unterscheidet dann drei Grundformen, Gott so zu denken: als das Höchste, Beste, als das umfassende Eine und Ganze, schließlich als »Verneinung«, als Transzendenz. Hier entsteht die negative Theologie des Absoluten als »abstrakte Transzendenz«, klassisch bei Plotin, aber auch bei Jaspers (14–19). Die negative Theologie des Absoluten prägt die gesamte Philosophiegeschichte (20 ff.). Die Beiträge des Bandes vertiefen und präzisieren diese weitreichende Kernthese auf vielschichtige und komplexe Weise in ihren Einzelinterpretationen.
So untersucht Julie Casteigt den Prozess gegen Meister Eckhart in Avignon (67–88) und Robert Vinco vergleicht Thomas von Aquin und Hegel mit Heidegger im Blick auf das Verhältnis von Physik und Metaphysik (49–65). Heidegger denkt den Entzug des Seins als »Transzendenz des Grundes des Realen«, als »Absolutes und Uneinholbares« (63). Emmanuel Cattin vergleicht das »Überhinaus Gottes« bei Erich Przywara produktiv mit Heideggers negativ-theologischer Rezeption der Dichtung Hölderlins (113–126). Gott wird dort »als dieser Unbekannte« (124), als »Geheimnis« und »Ereignis« angesprochen, in dessen »Un­verborgenheit« seine »Verborgenheit« zu begreifen ist, das »Ereignis, die Konstellation, in der sich Entbergung und Verbergung, in der sich das Wesende der Wahrheit ereignet«, so Heidegger (125).
Sehr aufschlussreich ist der Beitrag von Tolga Ratzsch »Zum Zu­sammenhang von Freiheit und Transzendenz in der Philosophie Karl Jaspers’« (89–111). Ihre Kernthese ist, dass Jaspers’ Metaphysik der Transzendenz sehr stark von der traditionellen negativen Theologie geprägt ist. Für Jaspers ist Transzendenz der Grund der menschlichen Freiheit, die menschliche Existenz ist sich »von der Transzendenz in der eigenen Freiheit geschenkt« (91). Jaspers bezieht sich auf die klassischen Ansätze von Plotin, Cusanus und Meister Eckhart, um die Unerkennbarkeit Gottes zu fassen (92 f.). Er will Freiheit als »Aufschwung zur Transzendenz« begreifen (103), als »Erscheinung der Transzendenz in der Existenz« (107). Gott als Grund von Freiheit und Transzendenz bleibt »verborgen« (102).
Wichtig sind auch die Texte zu Benjamin und Adorno von Raulet, König, Moutot und Dangel. Durch sie wird deutlich, dass die klassische Kritische Theorie auf komplexe Weise mit Traditionen der negativen Theologie verbunden ist. Gérard Raulet erläutert »Benjamins Idee einer leeren Transzendenz« und seine Rezeption des jüdischen Messianismus in den Auseinandersetzungen mit Adorno und Horkheimer gerade auch im Blick auf ein Verständnis Kafkas (127–146). Peter König analysiert »Walter Benjamins theologische Philosophie« (147–176) im Blick auf dessen Satz »Mein Denken verhält sich zur Theologie wie das Löschblatt zur Tinte. Es ist ganz von ihr vollgesogen« (147). Der Bezug zu Gershom Sholem, Benjamins kritische Sprachphilosophie mit ihrem negativ-theologischen Kontext, seine Auseinandersetzung mit Kant wie auch seine Interpretation der Wahlverwandtschaften Goethes werden so verstehbar (Benjamin: »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben« [175]). Gilles Moutot untersucht die Bezüge der Negativen Dialektik Adornos zur negativen Theologie, wie sie von Habermas und Wellmer akzentuiert wurden. Der Kontext von Kierkegaard und eben Benjamin und Kafka wird vertieft, ebenso die Bedeutung des Bilderverbots für Adornos Systematik (267–294). Tobias Dangel expliziert »Die negative Theologie in Adornos Ästhetischer Theorie« (295–318). Systematisch wird unter Einbezug der relevanten Forschung dieses Verhältnis sehr präzise herausgearbeitet. Adornos Konzeption des »Nichtidentischen« als des absolut Anderen, der absoluten Differenz wird so verständlich (306).
Zentral ist die »Bedeutung der Erfahrung in Michael Theunissens Negativer Theologie der Zeit«, wie sie Nataniel Christgau genau freilegt (371–396). Theunissens eigene Lebenserfahrung als Kind antifaschistischer Eltern und Zeuge der Judenverfolgung bildet den biographischen Hintergrund seines Denkens, das mit der Ohnmacht der Philosophie und der Endlichkeit des Menschen ringt (371 f.).
Die französischen Beiträge zeigen sehr gründlich die Bedeutung der negativen Theologie für die französische Moderne auf.
Innovativ arbeitet Simone Neuber bereits bei Sartre diesen Bezug heraus: »Göttliche Fluchtlinien im Selbstbezug? Sartre über Selbstbewusstsein und das Reale« (199–230). Sehr genau wird erkenntniskritisch aufgewiesen, dass Sartres Ansatz letztlich ambivalent und unklar bleibt. Jean-Luc Périllié zeigt, wie Simone Weil Formen des Widerspruchs, der Kontradiktion, auf allen Ebenen der Erfahrung zum Gegenstand der Kontemplation macht (»Simone Weil: Dieu dans la contemplation de la contradiction«) (177–198). Paul Ducros vergleicht Lacan mit Dionysius Areopagita und Cusanus. Die moderne sprachkritische Reflexion unterscheidet ihre Formen der negativen Theologie von der Lacans (231–249). Rodolphe Calin untersucht die moderne »Théologie négative sans Dieu«. Er zeigt, wie diese das Denken von Wittgenstein, Derrida, Theunissen und Adorno prägt, und konzentriert sich dann auf diese Dimension der Philosophie von Levinas als einer negativen Theologie ohne Gott (25–47). François Mary und Florian Arnold weisen auf, dass für Derridas Methode der Dekonstruktion Ansätze der negativen Theologie der Tradition wegweisend waren (319–339), insbesondere auch bei der »Dekonstruktion des Bildes«. So erschließt sich die komplexe Negativität von Derridas Grundbegriff der différance (341–370). Délia Popa kommentiert den Dialog von Didi-Huberman mit Agamben in Bezug auf Benjamin und die Negativität der Bildwahrnehmung (419–436). Gerhard Poppenburg behandelt die »Innere Erfahrung« der mystischen Tradition historisch und dann im Blick auf Bataille und Blanchot (251–265). Er zeigt, dass die extrem paradoxe Struktur der mystischen Erfahrung, ihre Negativität, auch diese modernen Denker grundlegend prägt. Schließlich reflektiert Claudia Serban die negative Theologie im Denken von Jean-Luc Marion (397–418). Sie zeigt, dass bei ihm wie bei Derrida Differenz und Dekonstruktion ohne den Hintergrund der negativen Theologie nicht denkbar sind. Sie zitiert den Mystiker Angelus Silesius: »Das Überunmögliche ist möglich.« (402)
Die Leistung der Konferenz und des Bandes muss sehr hoch eingeschätzt werden. Es wird mit sehr vielen Bezügen auf viele der wichtigsten Philosophen der Moderne, der Spät- und Postmoderne gründlich und genau deutlich, dass ihr Denken ohne die Tradition der negativen Theologie nicht zu begreifen ist. Hätte man noch Wittgenstein stärker einbezogen, würde sich dieses Ergebnis mit dem Blick auf den Tractatus wiederum evident bestätigen. Das Ergebnis des Bandes wird bislang in den philosophischen Diskussionen der Gegenwart viel zu wenig, ja kaum beachtet. Demgegenüber muss jetzt die Frage mit ins Zentrum der philosophischen Diskussion rücken: Was bedeutet diese breite Präsenz der negativen Theologie für das Verständnis unserer Zeit und unser Selbstverständnis?