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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

222–225

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Gardiner, John Eliot

Titel/Untertitel:

Bach. Musik für die Himmelsburg. Übers. a. d. Engl. v. R. Barth.

Verlag:

München: Carl Hanser Verlag 2016. 760 S. Geb. EUR 34,00. ISBN 978-3-446-24619-5.

Rezensent:

Konrad Klek

Der weltweit gefragte britische Dirigent John Eliot Gardiner (geb. 1943) hat es sich anlässlich seines 70. Geburtstags nicht nehmen lassen, dieses umfangreiche Buch zu Johann Sebastian Bach zu verfassen. Die deutsche Übersetzung (Richard Barth) hat etwas auf sich warten lassen, liegt aber jetzt vor. Zu Bachs Person und Werk gibt es gewiss fundierte Literatur zur Genüge. Es gibt wohl keine Note in seinem Werk und kein noch so rudimentäres Lebensdokument, das nicht bereits erforscht wäre. Was kann ein Bach-Dirigent da noch Neues beisteuern?
Dieses Buch ist ernst zu nehmen als ein persönliches Künstler-Bekenntnis zu Bach im 21. Jh. G. ist ja beileibe kein bloßer Bach-Interpret und erst recht kein Kirchenmusiker. Als Dirigent ist er sehr breit aufgestellt, war als Leiter eines Opernhauses tätig (Lyon). In der Komponistenriege sieht er sich speziell den großen Bs verpflichtet – Bach, Beethoven, Berlioz (!), Brahms. Als Engländer hat er aber auch sehr viel Händel (namentlich die Opern) aufgeführt, war Leiter der Göttinger Händelfestspiele. Sein Chor trägt nicht nur wegen seiner Ursprungslegende Monteverdi im Namen, den Erfinder der Musikdramatik. Dass jedoch Bachs Werk, namentlich seine geistliche Vokalmusik, für G. eine Sonderstellung einnimmt, zeigte bereits die (organisatorisch irrwitzige) Aktion der Bach Cantata Pilgrimage im Bach-Jahr 2000 – die Aufführung sämtlicher Kantaten am jeweiligen Sonntag im Kirchenjahr im Rahmen eines Pilgerwegs, der von den Originalstätten in Mitteldeutschland ausging und bis in die »Neue Welt« nach New York führte. Die Aufnahmen davon liegen als Gesamteinspielung des Kantatenwerks vor. Die letzte CD darin enthält als Textdokument eine Art Pilgertagebuch, das G. während des Projektes führte.
Mit diesem Buch nun bringt G. in 14 Kapiteln – Anlehnung an die BACH-Zahl 14! – sozusagen in Form, was ihm nach lebenslanger Beschäftigung und Begegnung mit Bach – eines der beiden originalen Bach-Porträts hing im Treppenhaus seines Elternhauses! – zu sagen auf den Nägeln brennt. Leitende Intention ist, einfach gesagt, Bach als den über alles Herausragenden, Genialsten zu profilieren und seiner Persönlichkeit, die via Schriftdokumenten kaum greifbar ist, über die Spezifika seiner geistlichen Werke auf die Schliche zu kommen. Als Musiker reklamiert G. für sich sozusagen einen unmittelbareren Zugang zu Bach, als er den Wissenschaftlern gegeben ist. Deren Erkenntnisse sind nicht irrelevant, aber nicht hinreichend, um das Spezifische zu erfassen.
G. beginnt, indem er die Bedingungen seines persönlich geprägten Vorverständnisses klarlegt, mit seiner eigenen Lebensgeschichte mit Bach. Dann befasst er sich als studierter Historiker zunächst mit dem zeitgenössischen geistigen Umfeld (»Schwelle zur Aufklärung«), anschließend mit dem speziellen Hintergrund Bachs in der Bach-Familie. Interessant ist im dritten Kapitel die Gegenüberstellung zu den Wirkkontexten der anderen »85er«, den Komponisten des Jahrgangs 1685, Scarlatti und Händel plus Telemann als 81er.
Jetzt geht es in Bachs eigene Vita, zunächst seine Schulzeit in Thüringen. Hier wertet G. stärker als sonst üblich Dokumente über die schulische Situation in Eisenach und Ohrdruf aus mit dem Befund einer wohl sehr problematischen Schulkarriere. Sein Persönlichkeitsbild des Frühwaisen Bach geht von einer traumatischen Kindheit aus. Er benennt aber auch sehr deutlich die durch und durch religiös bestimmte Schul- und Lebenswelt. »Im Räderwerk (engl. mechanics) des Glaubens« heißt das Kapitel. Am Ende der Adoleszenz steht der junge Bach da als religiöses wie musikalisches Genie mit den drei frühen Kantaten Christ lag in Todesbanden BWV 4, Aus der Tiefen BWV 131 und Gottes Zeit (Actus tragicus) BWV 106, welche ausführlich und geradezu im Überschwang der Begeisterung besprochen werden. Im Lokaltopos Eisenach sieht G. eine enge mentale Verwandtschaft von Luther und Bach begründet. Da liest sich manches wie ein Remake der emphatischen »Luther und Bach«-Huldigungen im Jahre 1917 in Eisenach, sogar eine gemeinsame Prägung durch die »urwüchsige Waldlandschaft« (182) wird ins Feld geführt. Von der Jugend springt G. direkt ins Leipziger Kantorat ab 1723, wo sich Bachs Agieren als »incorrigibler Cantor« – diese Formulierung aus einem Aktenvermerk ist als Überschrift gewählt – laut G. aus den frühen Prägungen ableiten lässt. Bach als »Fehlbesetzung« (260) musste gravierende Probleme bekommen. Ohne dass es Quellen dafür gibt, sieht G. Bach in einem grundsätzlichen Konflikt mit dem »Leipziger Klerus«. Seine Musik muss An­stoß erregt haben, in der Gemeinde wie bei den Geistlichen, weil sie weit jenseits des erwarteten »kirchlichen« Normalmaßes agiert. Ein späteres Kapitel »Ganz auf einer Linie oder über Kreuz« versucht dies an einzelnen Werkbeobachtungen zu belegen, wobei eine bestimmte Wirkung auf die Hörer suggeriert wird, die G.s eigenem Erleben korrelieren mag, als historisches Faktum aber rein spekulativ ist.
In der Besprechung der Kantatenproduktion ist G. daran gelegen, dieses Überschießende in Bachs Vertonung geistlicher Texte zu profilieren. In Bachs Kantaten stecke mehr »Dramatik« als in jeder Barockoper. Leider baut er als Negativfolie dazu nicht nur die Theologie der Geistlichkeit auf, sondern auch das in seinen Augen eigentlich inakzeptable Niveau der Texte, obwohl doch gerade diese Texte Bach zu solchen Höchstleistungen gebracht haben. Die Werkbesprechungen differenzieren denn auch nie präzise zwischen Libretto und Vertonung. Für das Bemerkenswerte in den Kantaten ist stets nur das Genie Bach verantwortlich. Den Bezugsrahmen des Kirchenjahres würdigt G. (in einem eigenen Kapitel) als dem unmittelbaren menschlichen Erleben dienlich. Allerdings verrät bereits die Überschrift-Formel »von Jahrgängen und Jahresläufen« allerhand Naturmythologie aus der Weltanschauung G.s als Öko-Bauer im Nebenberuf, der sogar Ausführungen zur Ge­schichte der Kartoffel in Europa in sein Bach-Buch integriert. Bachs Theologie in seiner Musik ist für G. so überzeugend, weil sie nicht nur »Lehre« reproduziert, sondern solche allgemein »menschliche« Dimensionen aufgreift. Das Komponieren von »Musik« zum Kirchenjahr ist aber keine spezielle Entscheidung Bachs, sondern beruflicher Standard für jeden Kantor im Barock.
Je eigene Kapitel erhalten die großen Opera Johannes-Passion, Matthäus-Passion und h-Moll-Messe. Das an Übernahmen aus weltlichen Kantaten reiche Weihnachtsoratorium fällt durchs Sieb, wie G. überhaupt mit Bachs diesbezüglicher Parodiepraxis wenig anfangen kann. Die Sujets der höfischen Huldigungskantaten – wie sie auch in der Köthener Zeit entstanden, die übergangen wird– sind ihm zu flach und zu langweilig. Daraus kann dann auch keine packende geistliche Musik werden. Die parodienreiche h-Moll-Messe ist in der konkreten Zusammenstellung aber wieder genial. Allerdings bleiben die analogen vier Kyrie-Gloria-Messen unberücksichtigt.
In einigen theologischen Aspekten rezipiert G. englischsprachige Autoren, die seine Lesart stützen, etwa (E. Chafe): Der erste Leipziger Kantatenjahrgang sei johanneisch profiliert, darum eine Johannes-Passion als Höhepunkt. Der zweite Jahrgang sollte dann matthäisch sein, nur war das Projekt Matthäuspassion 1725 zu ambitioniert, weshalb eine (verunglückte) zweite Fassung der Johannespassion herhalten musste. Bei zahlreichen Punkten hätte man sich kritische Gegenleser vonseiten der musikalischen wie theologischen Wissenschaft gewünscht. Da wäre z. B. der Hinweis fällig gewesen, dass Bachs Zusammenarbeit mit dem Librettisten der Matthäus-Passion, Picander, im Februar 1725 überhaupt erst begann. In vielen weiteren Details muss man »falsch« an den Rand schreiben, z. B. dass G. den zweiten Bach-Sohn »Emanuel« nennt, wo dessen Rufname doch »Carl« war. Das assoziative Verfahren G.s, dass er plötzlich in weit entfernte Analogien springt (Naturphänomene, Bildende Kunst damals, Sport heute), ist Kennzeichen eines guten Chorleiters, der seinen Leuten so musikalische Dinge plas-tisch macht. In Literatur kann das aber schnell verwirren und zu Missverständnissen führen, vollends bei der Übersetzung in eine andere Sprache. Aber auch fachlich geht da manches schief: Wenn etwa aus Lutheran chorals als Grundlage des Choralkantatenjahrgangs Luther-Choräle (398) werden, ist das einfach falsch, denn Bach hat da nicht nur Lutherlieder vertont.
Der Buchtitel »Musik für die Himmelsburg« rekurriert auf den Namen von Bachs Wirkungsstätte in Weimar, die Schlosskapelle, wo die Musikempore himmelsnah im Dachstuhl platziert war. Dies ist für G. Chiffre für die geistliche Dimension von Bachs Mu­sik, deren alle andere Musik überragende Leistung allerdings sei, nicht nur dem Himmel zu dienen, sondern gerade auch das Drama des menschlichen Lebens abzubilden und zu bewältigen. Die Theologie kann dem Dirigenten G. dankbar sein für dieses »Zeugnis«, aber sie sollte sich auch herausgefordert sehen, sein Anliegen sachlich solider zur Geltung zu bringen, wie es im Kreise der leider aufgelösten Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung, deren Publikationen G. offensichtlich nicht rezipiert, früher durchaus schon geschehen ist.