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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

218–220

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Stuckrad, Kocku von

Titel/Untertitel:

Die Seele im 20. Jahrhundert. Eine Kulturgeschichte.

Verlag:

Paderborn u. a.: Wilhelm Fink Verlag 2019. XII, 279 S. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-7705-6437-8.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Zu einer umsichtigen Wissenschaftsforschung gehört nicht nur, ihren eigentlichen Gegenstandsbereich historisch sorgsam und kontextsensibel zu entfalten. Zu bedenken ist ebenso, wovon sie ihr Thema abgrenzt und was sie in jenem Klärungsprozess als ›Anathema‹ entsprechend aussondert. Zuweilen kommt es zu einer methodischen Inversion der Verhältnisse, indem die zum Mainstream gewordene Sicht lediglich als Hintergrundfolie für das Marginalisierte, Verdrängte, das negativ Überflüssige fungiert, um jener schwächeren Gegenseite einmal den Vortritt zu lassen. Dass es hier eine Grenze zwischen Standard und Abweichung gibt, ist Ergebnis eines komplexen Aushandlungsprozesses; doch die Frage, wo diese Demarkation genau verläuft, liegt ihrerseits noch innerhalb dieser Aushandlung und mag prekär bleiben.
Die Geschichte der Psychologie des ausgehenden 19. und von fatalen Brüchen geprägten 20. Jh.s lässt sich als eine derartige begriffliche und schließlich normative Klärung erzählen. In einer als »diskursorientierten Religionsforschung« (VIII) bezeichneten Zugangsweise nimmt sich der in Groningen lehrende Religions- und Kulturwissenschaftler Kocku von Stuckrad der komplizierten Geschichte an, die der Begriff der Seele in jenem langen Jahrhundert durchlaufen hat. An Foucaults archäologischer Diskursana-lyse geschult bedenkt der Vf., welche Rolle die Seele in den kulturellen Debatten, gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, aber auch im sich erst allmählich abzeichnenden Selbstverständnis der Wissenschaften konkret gespielt hat. Dies aufzuzeigen, gelingt der Studie ausgesprochen gut, auch weil sie neben der zeitlichen Begrenzung eine geographische vornimmt und sich auf die europäisch-amerikanische ›Seelenwanderung‹ konzentriert.
Dies geschieht in einer insgesamt knapp ausgefallenen Synopse, die nicht so sehr einen eigenständigen Beitrag zur Forschung etwa über C. G. Jung oder zu den modernen Formen des Animismus bietet, sondern einen personen- bzw. positionszentrierten Überblick vorschlägt, um den generellen Entwicklungen der Wissenschaften von der Seele nachzugehen. Mit jener letzten Wendung ist das im Buch verhandelte Problem bereits angedeutet, da bekanntlich die wissenschaftliche Psychologie im Zuge der Etablierung eines an Überprüfbarkeit und empirischer Fundierung orientierten Wissenschaftsverständnisses der Seele sukzessive verlustig geht. Der Vf. geht nun den Varianten der Gegenseite nach, die diese methodisch provozierte Verabschiedung der Seele als reduktionistisch ansehen, aber dennoch den Anspruch des Wissenschaftlichen nicht vollends aufgeben wollen.
In einer ersten Hälfte werden in fünf Kapiteln die europäischen Debattenlagen zwischen 1870 und 1930 nachgezeichnet. Es wird daran erinnert, dass die diskursive Trennung von Metaphysik und Psychologie im Werk von W. Wundt oder W. Jerusalem letztlich darin mündete, die Verwissenschaftlichung des Seelenbegriffs in dessen Eliminierung aufgehen zu lassen (23 f.). Interessant ist, dass der genau in jener Zeit lebhafte ›Okkultismus‹ – seinerseits ein damaliger Neologismus – eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer sich als akademisch verstehenden Psychologie ge­spielt hat (15). Damit zeigt sich auch hier die eingangs berührte ›Dialektik‹ zwischen Standard und Divergenz.
Anschließend wird der Fokus stärker auf religiöse und religionswissenschaftliche Aspekte gelegt, indem Elemente einer »Faszinationsgeschichte des Rausches und der Ekstase« (41; etwa bei Martin Buber) zusammengetragen werden. Bereits hier kommt ein Nebenstrang des Buches zur Geltung, zumal die gängige These einer fortschreitenden Säkularisierung korrigiert wird und gerade im Anschluss an Max Weber weit eher von Transformationen des Religiösen innerhalb anderer ›sozialer Systeme‹ zu sprechen wäre (51, auch 106.224.235). Eines dieser Systeme, das politische, kommt nun zu Wort, wobei die ›Seele‹ als national gefärbtes Konzept (bei E. Renan und A. Rosenberg) oder in seiner ›spiritualisierten‹ Variante (bei jüdischen Denkern; etwa Buber und G. Scholem) zur Geltung kommt (67.71). Nachdem in einem eigenen Kapitel an C. G. Jungs Amalgamierung von Alchemie, Mystik, Ikonographie und vergleichender Religionsforschung zum Zwecke einer nicht-reduktionistischen Kollektivpsychologie erinnert wird (Kapitel 4), wird gegen Ende des ersten Teils zur skizzierten Ausgangsdebatte zurückgekehrt: Im Gespräch mit W. Ostwald und E. Haeckel kann deutlich gemacht werden, wie im Konflikt zwischen Naturwissenschaft, Monismus, Holismus und Vitalismus entweder der Geist als Funktion des Körpers wissenschaftlich integriert werden sollte oder aber radikal vom Begriff des Geistes oder der Seele Abstand genommen wurde (97 u. a.).
Der Titel des zweiten Teils fasst die Transformation der Seele als Thema bündig zusammen: »Von Europa nach Amerika und zurück: Die Seele von 1950 bis heute«. Der Zweite Weltkrieg führte auch hier dazu, dass führende Protagonisten der Debatte auf die andere Seite des Atlantiks wechselten (121 f.). Jene Themen gelangten wiederum nach Europa, nicht jedoch ohne entscheidende Verschiebungen. Dazu zählen die transpersonale Psychologie, behaviorismus-kritische Strömungen der Gestalt- und Ganzheitstherapie, aber auch das Experimentieren mit bewusstseinsverändernden Stoffen (141). Nicht selten wurde zum Gegenangriff ausgeholt, indem man ›den‹ Wissenschaften ihrerseits den Dogmatismus ungedeckter Annahmen vorwarf. Der Vf. aber wendet den Blick stärker auf die wissenschaftsinternen Sympathisanten wie W. Pauli oder D. Bohm, die für eine Renaissance der Naturphilosophie oder gar eine mystische Aufladung der Quantenmechanik standen (157).
Neben dem Kampf gegen den latenten oder expliziten Anthropozentrismus in Wissenschaft und Politik tritt der wissenschaftsaverse Bezug zu neuen spirituellen Praktiken wie Animismus und Schamanismus, um schließlich auf die Seele in Literatur und Film einzugehen. Eindrücklich ist hier vor allem der Amerikanische Transzendentalismus von Emerson und Thoreau, der für eine Sakralisierung der Natur und die Verzauberung der Welt steht (191), später jedoch zu einer wesentlichen Quelle umweltethischer Bewegungen geworden ist (184). Ein etwas erratisch bleibender Exkurs zur Seelenteilung bei Harry Potter schließt sich an, um im letzten Kapitel auf ökologische Bewegungen im Zeitalter des ›An­thropozän‹ zurückzukommen (204). Hier wird greifbar, dass das strategische Pendant zu einer Aussortierung des Seelenbegriffs dessen Naturalisierung bildet, und zwar nicht im reduktiven Sinne, sondern im expansiven. Eine naturzentrierte Spiritualität geht einher mit der Ausweitung des Seelischen auf Tiere und schließlich auf Pflanzliches. Dies ist im Einklang mit den tierethischen Arbeiten im Gefolge von Peter Singer, aber mehr noch mit neueren Ansätzen, die kategoriale Differenz zwischen Humanem und Nicht-Menschlichem im Rahmen einer Akteur-Netzwerk-Theorie zu unterlaufen (225; man denke an die Arbeiten von B. Latour und D. Haraway).
Das Buch endet mit dem Hinweis, dass die Seele auch heute ein »Bedeutungsträger« bleibe; die hier betrachteten »Diskursarrangements« – dies der gegen Ende immer wieder verwendete Lieblingsbegriff des Vf.s (214 u. ö.) – hätten gezeigt, dass nicht nur die Rede von der wissenschaftsbedingten Entzauberung irreführend sei, sondern auch die Vorstellung von der Feindschaft zwischen Religion und Naturwissenschaften (234). Dieses Votum gehört zu den ganz seltenen Einlassungen normativer Art, verlässt der Vf. doch sonst nicht den Zugang einer ›rein deskriptiven‹ Religions- und Kulturforschung. Dass jener Konflikt jedoch eine bloße Chimäre sei, wird man nur dann behaupten können, wenn man über einen normativen Begriff der Religion verfügt (und von dem, was sie nicht sei). Was diese Monographie hingegen bietet, ist eine aufschlussreiche Synopse marginalisierter Kapitel einer Wissenschafts- und Forschungsgeschichte, die wahrgenommen werden sollten, wenn man die Kontingenzen des ›Wissenschaftlichen‹ etwas besser verstehen möchte. Wie es mit den Erklärungsansprüchen und der methodischen Architektur von Okkultismus, Animismus, Schamanismus und sakralisierender Naturphilosophie aussieht, steht auf einem ganz anderen Blatt und gehört ins Register wissenschaftstheoretischer, auch genuin theologischer Kritik.
Eine Kritik etwas anderer Art mag sich auf das beziehen, was fehlt. Dass der Vf. den Hauptstrang der Seelenforschung in Form einer philosophy of mind und ihren zahlreichen Allianzen mit den Kognitionswissenschaften vollständig auslässt, wird sich durch die genannte Umkehrung der Betrachtung zugunsten unterlegener, ›okkulter‹ Positionen rechtfertigen. Selbst dann aber sucht man eine Analyse der Ambivalenzen von Okkultismus, Proto- und Pseudo-Magie, Panpsychismus und anderen Strömungen leider vergeblich. Nur ein Beispiel: Die sagenhafte Figur des Aleister Crowley (1875–1947) streift der Vf. zwar, aber ohne an ihr dem Abgleiten von Strängen jenes Denkens in Satanismus, Sexualmagie und rituelles Opfertum nachzugehen (176). Doch auch obskure Kapitel wie dieses gehören zu jener »Kulturgeschichte« und einer in sich widersprüchlichen Rezeption der ›Seele‹, die ihre Fortsetzung etwa in dem Wahnsinn der »family« um Charles Manson findet (der auch im neuen Film von Tarantino, allerdings bewusst abgewandelt, traktiert wird). Für die dunkleren Kapitel einer »Genealogie« der Seele samt der ihr eigenen Konfusionen, Irrationalismen, auch ihrer Brutalität wird man daher zu einem komplementären, weniger irenischen Buch greifen müssen.