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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

204–206

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Blaufuß, Dietrich, u. Jacob Corzine [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wilhelm Löhe und Bildung – Wilhelm Loehe and Christian Formation. Loehe Theological Conference IV, Neuendettelsau 23. – 27. Juli 2014 of the International Loehe Society. Hrsg. i. Auftrag d. International Loehe Society.

Verlag:

Neuendettelsau: Freimund-Verlag; Nürnberg: Verein für Bayerische Kirchengeschichte 2016. 295 S. Geb. EUR 34,80. ISBN 978-3-946083-03-0 (Freimund-Verlag); 978-3-940803-14-6 (Verein für Bayerische Kirchengeschichte).

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Dieser Band geht auf eine Tagung der International Loehe Society in Neuendettelsau aus dem Jahr 2014 zurück. Sie befasste sich mit Löhes Bildungskonzept, dem auch die 15 Aufsätze des Bandes gewidmet sind: Löhe war kein Bildungstheoretiker, wohl aber eine Person, die mit den Beschwernissen, Schule und Pfarramt zu vereinbaren, nicht nur frühzeitig, sondern zeitlebens konfrontiert war. Verschiedene Bereiche werden angesprochen. Sie erstrecken sich von Löhes Publikationsprojekten (Schlichting, Keller) über seine liturgischen Bemerkungen (Schattauer, Silcock, Saar), bekenntnisgebundene Überlegungen (Corzine, Pless) und professionelle Strategien (Honold, Böttcher, Collver, Nessan) bis hin zur Erneuerung des kirchlichen Lebens (Kothmann, Lichtenfeld, Kleinhans, Meinhard). Ausführliche Quellenverzeichnisse und verschiedene Register beschließen den Band.
Die neue, an spiritualistische Gemeinschaftsformen erinnernde Abendmahlslehre wird von Schlichting in spezifische Schwierigkeiten eingezeichnet, die Löhe mit der homiletischen Umsetzung der Rechtfertigung hatte. Trat in den Epistelpredigten die Bildung an diese Stelle, so gilt ihm das Abendmahl als »Einweisung in gelebte Rechtfertigung« (19). Die Vorbereitung erfolgt im Rahmen geistlicher Pädagogik (22). Dem Löheschen Haus-, Schul- und Kirchenbuch liegen verschiedene Texte zugrunde, die Keller hinter den Streichungen des Verlegers wieder sichtbar macht. So umfasst der erste Teil ursprünglich eine Reihe an Spruchbüchern und Katechismen, der zweite Kalendarium, Lektionarium, Oratorium und Chronicon, und der dritte den Psalter. Insgesamt erscheint Bildung als »eine auf Erweiterung und Vertiefung angelegte Information über den Glauben der Kirche« (45).
Liturgisches Lernen umfasst Partizipation und Verstehen von kirchlichen Riten. Insbesondere mit der »Laienagende« (54) sucht Löhe, der Bedeutung von aktueller Teilnahme am Abendmahl sowie seiner historischen Vergewisserung nachzukommen. Schattauer beschreibt dies Verfahren als »spiritual formation« (57). Mit der Beziehung zu Hermann Sasse (1895–1976) befasst sich Silcock, der den indirekten Einfluss spiritueller Vorstellungen auf das australische Luthertum untersucht. Einflüsse finden sich in Form konfessionell-lutherischer Gedanken in Gottesdienst, Abendmahl, Seelsorge (»office of the Keys«, 70) und Frömmigkeit. Im Zentrum steht nicht nur die Rückkehr zur Individualbeichte, sondern auch die Hinwendung zu einem »sacramental realism« (79). Mit dem Phänomen der »Prüfungstafel« (85) befasst sich Saar, der ihren Gebrauch in Löhes Biographie einzeichnet. Diese ältere Tradition prägte das liturgische Denken nicht unerheblich – wie im Fortgang an zahlreichen liturgischen Aktivitäten (die Tafel enthält verschiedene Gebete und Lieder, 98 f.) erläutert wird. Löhes Predigtexhortationen wirken in das eigene Leben deutlich hinein (108).
Verschiedentlich ist der Versuch unternommen worden, Löhes Faszination für das Bekenntnis zu erklären. Corzine weist darauf hin, dass von Löhe empfohlene Praktiken – wie u. a. die Selbstbeobachtung – zwar nicht vom Neuen Testament ableitbar, wohl aber von Löhe auf dieses zurückgeführt worden seien (110 f.). Dabei spielen nicht nur Überlegungen Melanchthons eine Rolle, der in Art. 25 der Confessio Augustana die Selbstprüfung auf das Abendmahl zurückbezieht (113). Auch in der Gegenwart sollten diese Fragen formuliert werden (124). Löhes zum Gebet anleitendes Handbuch (Seed-Grains) wird von Pless vorgestellt. Dabei erhält der Psalter offensichtlich einen exponierten Platz, wenngleich Schriftlektüre und Gesang in den Seed-Grains über eine vergleichbare Stellung verfügen (133). Nicht wenige der aktuell gebräuchlichen Gebets-Anthologien enthalten entsprechende Auszüge.
Die Diakonissenausbildung schwankt offensichtlich zwischen unterschiedlichen Zielen: Geht es um ein spezifisches Bildungsideal oder um die Anpassung an vorfindliche Verhältnisse? Honold zeigt auf, dass die Strategie, Frauen- und Mädchenkurse überall in Bayern einzurichten, nur gelegentlich zu dauerhaften diakonischen Initiativen führte (142). Spezifisch ist nicht die Krankenpflege, sondern die Allgemeinbildung, die die Schülerinnen erhalten. Ab 1858 schwenkt auch Neuendettelsau in die Mutterhausdiakonie (151) ein. Allgemeine Bildungsmöglichkeiten sind seither eingeschränkter (152 f.). Mit der Bildung der Diakonissen befasst sich auch Böttcher, die die strukturellen Veränderungen unter den Chiff-ren »Diakonissensinn« und »Macht der Verhältnisse« nachzeichnet (159). Im Unterschied zu Kaiserwerther Diakonissen stammt die Belegschaft in Neuendettelsau aus bildungsbürgerlichen Familien (161). Dieser Umstand ist offensichtlich für die Veränderung zur Mutterhausdiakonie verantwortlich: Nicht die Bildung, sondern die Sicherheit patriarchaler Strukturen erweist sich für dieses Klientel als erstrebenswert (170). Die Entwicklung der Missionsgesellschaft(en) verfolgt Collver, der das spezifisch gelagerte Vorgehen herausstellt: Im Unterschied zu anderen Missionaren legte Löhe großen Wert auf Rückkoppelung an die eigene Kirche (182). Die Strukturen des Missionsseminars stellt Nessan dar. Schrift und Symbole stehen im Zentrum des Ausbildungsunterrichts. Neolutherische Sichtweisen in den dem Unterricht zugrundeliegenden Schulbüchern bestimmen auch die ethischen Problemstellungen (Freiheit, Ursünde, Zeitgeist, Gebote, christliches Leben und Tod; 197).
Kothmann zeichnet den gesamtkatechumenischen Hintergrund im 19. Jh. nach. Bereits baulich lässt sich eine größere kirchliche Dichte im Süden und Westen Deutschland ausmachen. Insofern trifft auch das Unkirchlichwerden des 19. Jh.s das süddeutsche Gebiet nur bedingt. Löhes Katechismus wird eingezeichnet in eine Reihe von zeitgenössischen Versuchen, der Konfirmation feste Struktur und Ordnung zu geben (216–218). Das kirchliche Katechumenatsdenken stellt aktuell vor das grundsätzliche Problem, ob sich der Einzelne oder die Gemeinschaft gegenüber unkirchlichen Bewegungen behaupten könne (236). Die Frage, ob und inwiefern heutiges Bildungsverständnis an Löhe anknüpfen kann, beschäftigt Lichterfeld, der aktuellen Überlegungen dessen »Bildung für die Ewigkeit« (242) gegenüberstellt. Sie ist kritischer Maßstab und Auftrag für eine »lehrende und zugleich lernende Kirche« (248). Kleinhans befasst sich mit dem Wartburg College, das bis heute für alle Studierenden zwei verbindliche Kurse in »Faith and Reflection« vorschreibt. Das College führt diese Tradition explizit auf Löhe zurück, den es in religiöser Hinsicht als Vermittler zwischen katholischen und reformierten Traditionen begreift (253). Die Geschichte der Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg beschreibt schließlich Meinhard, der nicht nur einzelne Etappen, sondern auch das Bemühen der Schule um die Wahrung von Tradition herausstellt: Neben modernen Liedern werden auch Lutherlieder einstudiert (260).
Den Herausgebern ist es gelungen, aus einer sehr spezifischen Perspektive heraus Anknüpfungsmöglichkeiten von Wilhelm Löhe hin zu einer allgemeinen Bildungsgeschichte zu eröffnen. Dabei kommt nicht nur manch interessante Einzelbeobachtung zur Sprache, sondern durchweg eine fast liebevolle Verbundenheit zu jener Person, die nicht nur einer Region ihre spezifische Vorstellung von religiöser Bildung einprägte.