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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

199–200

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Samerski, Stefan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wenzel. Protagonist der böhmischen Erinnerungskultur.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018. VIII, 329 S. m. 20 Abb. Kart. EUR 69,00. ISBN 978-3-506-78533-6.

Rezensent:

Harm Klueting

Herrscher des Mittelalters als Heilige, als Objekte der Heiligenverehrung und deren Anrufung und das Vertrauen auf ihre Fürsprache bei Gott – Ludwig der Heilige (König Ludwig IX.) in Frankreich, Heinrich und Kunigunde (Kaiser Heinrich II. und Kaiserin Kunigunde) in Deutschland, Leopold der Heilige (Markgraf Leopold III.) in Österreich, der hl. Stephan (König Stephan I. von Ungarn) oder der hl. Wenzel (Herzog Wenzel von Böhmen) in Čechien – kaum etwas dürfte für evangelische Christen fremdartiger sein. Eine Verehrung – nicht aber Anrufung – eines Franz von Assisi, Elisabeths von Thüringen oder auch Edith Steins mag noch angehen. Aber Verehrung einer Fürstengestalt, die in Prag auf einem Denkmalssockel hoch zu Ross und kriegerisch gerüstet dargestellt ist? In den liturgischen »Directorien« der katholischen Bistümer Deutschlands erscheint der 28. September als »nichtgebotener Gedenktag« des hl. Wenzel. An diesem Tag kann der Priester im Hochgebet der Eucharistiefeier den hl. Wenzel erwähnen – »… damit wir das verheißene Erbe erlangen mit deinen Auserwählten, mit der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria, mit ihrem Bräutigam, dem heiligen Joseph, mit deinen Aposteln und Märtyrern, mit dem heiligen Wenzel und mit allen Heiligen, auf deren Fürsprache wir vertrauen« –, muss es aber nicht.
Nach der hagiographischen Überlieferung gilt Wenzel (če-chisch Václav) als Förderer der Christianisierung in Böhmen in einer Zeit, in der die großmährisch-kirchenslavische und die von Bayern und Sachsen ausgehende lateinische Tradition (Patrozinium des hl. Vitus für den späteren Veitsdoms in Prag und Reliquientranslation von Corvey nach Prag) in diesem noch weitgehend paganen Land konkurrierten. Der paganen Reaktion fiel Wenzel wohl 935 zum Opfer, so dass er als Märtyrer verehrt wird. Schon im Mittelalter und wieder im 19. Jh. wurde er zur Integrationsfigur böhmischen Identitätsbewusstseins; seit 1848 gibt es den Wenzelsplatz in Prag, seit 1913 das erwähnte Denkmal. Diese Rolle teilt Wenzel unter den genannten Herrscher-Heiligen am ehesten mit dem hl. Stephan von Ungarn, während das von den hl. Heinrich und Kunigunde in Deutschland nicht und von Ludwig dem Heiligen in Frankreich kaum zu sagen ist, der im Schatten der hl. Jungfrau von Orleans, Jeanne d’Arc, steht.
So greift man gern zu dem von dem katholischen Kirchenhistoriker Stefan Samerski herausgegebenen Aufsatzband. Am Anfang steht der Beitrag des Osteuropahistorikers Thomas Wünsch, »Religiöse Figuren in der Erinnerungskultur – Begriffe und Perspektiven«, der von der »Tendenz zu einer Säkularisierung von Objekten religiöser Sinnstiftung und Gruppenbildung« (21) spricht, die er nicht mit der Kritik der Aufklärung in Verbindung bringt, sondern viel früher ansetzt: »Heilige dienen als Regionalpatrone (wie Hedwig für Schlesien), als Landespatrone (wie Jakobus für Spanien oder Adalbert für Polen), oder als dynastische Heilige – und dabei wiederum als ›Schrittmacher der Nationsbildung‹, wie im Fall Schottland oder Ungarn.« (22) Er nennt das »Sakralisierung der Nation« und »Nationalisierung der Religion« (22), worin er kein Spezifikum des 19. Jh.s sieht, sondern »ein Strukturproblem des historischen Erscheinungsbildes von Religion selbst« (22).
Der Jan Hus-Biograph František Šmahel behandelt »Die Verehrung des hl. Wenzel im hussitischen Böhmen« und zeigt, dass Hus und der Hussitismus die Verehrung des hl. Wenzel nicht nur nicht verdrängten, sondern zu dieser Transformation beitrugen. Vor Hus hatte schon Kaiser Karl IV. als König von Böhmen die politische Instrumentalisierung des hl. Wenzel zur Legitimation seiner Herrschaft eingesetzt; auf ihn gehen die Wenzelskrone und die prachtvolle Ausschmückung der Wenzelskapelle im Prager Veitsdom zurück, wie er auch persönlich eine Vita des hl. Wenzel verfasste. Hus paraphrasierte noch im Jahr seiner Exkommunikation, 1412, in einer Predigt eine Lobrede des Stanislaus von Znaim auf den hl. Wenzel, der »Christo durch Keuschheit, Demut, Geduld und seinen Tod nachfolgte« (106). Der hussitische Ikonoklasmus ließ viele Denkmäler der Wenzelsverehrung und vor allem die Wenzelskapelle im Veitsdom unversehrt. Im April 1420 riefen die Prager Hussiten dazu auf, Böhmen mit Hilfe des hl. Wenzel »von der Unterdrückung des Volkes tschechischer Sprache [zu] befreien« (108). So hielten die gemäßigten Hussiten, die Kalixtiner oder Utraquisten, an Wenzel als Landespatron fest; den radikalen Taboriten gelang es nicht, seine Verehrung zu verdrängen.
Der Prager Historiker Jaroslav Šebek konstatiert in »Der hl. Wenzel und die mentalen und gesellschaftlichen Veränderungen in den böhmischen Ländern der modernen Zeit« für die Zeit seit Beginn des 19. Jh.s und besonders seit dem Revolutionsjahr 1848 eine »Spaltung der Tradition« (162). Für die Katholiken ein Heiliger, wurde Wenzel von der čechischen national-liberalen Bewegung, »nur noch als Staats- und Nationalsymbol empfunden – ohne Sakralinhalt« (164). Zugleich sahen liberale und nationalistische Čechen in Wenzel eine Gestalt der Unterordnung unter alles Deutsche und in der katholischen Kirche eine Stütze der verhassten österreichischen Herrschaft, während Jan Hus für sie »in das nationale Pantheon« (167) rückte, was sich nach einer kurzen Zeit der Belebung der Wenzelstradition im Ersten Weltkrieg in der neuen Tschechoslowakei mit der antikatholischen Welle jener Zeit verstärkte, bevor der Ausgang der Wahlen von 1929 mit der Stärkung der katholischen Parteien einen Wandel brachte, der die Feierlichkeiten zum 1000. Todestag des hl. Wenzel 1929 möglich machte. Die deutsche Besetzung seit März 1939 führte einerseits zu einer Wiederbelebung der Verehrung des hl. Wenzel als nationalem Schutzheiligen, andererseits instrumentalisierten Kollaborateure und NS-Propagandisten die Wenzelstradition, während die kommunistische Volksrepublik nach 1948 Hus und der hussitischen Tradition den Vorzug gab. Seit 2000 ist der 28. September in Čechien säkularer Staatsfeiertag, unabhängig von der Feier des Wenzelstages in der katholischen Kirche.
Die anderen Beiträge können hier nur genannt werden: »Böhmens Landes­patrone im Mittelalter« (Franz Machilek), »Wenzel. Ein mittelalterlicher Heiliger in der Gesellschaft der frühen Neuzeit« (Jiří Mikulec), »Salve Decus Bohemiae: Ruhm und Verehrung des hl. Wenzel im 17. Jahrhundert« (Marie-Elizabeth Ducreux), »Die Prager Wenzelsfeiern 1929« (Ondřej Bastl), »Ein namenloser Feiertag: der 28. September im staatlichen Gedenken Tschechiens« (Stefan Samerski), »Das Staatssymbol im Karneval. Darstellung Wenzels in der Kunst der 1990er Jahre« (Veronika Siska), »Zwischen ›Anschluss‹, ›Westorientierung‹ und ›Deutschfreundlichkeit‹: Wenzel in der sudetendeutschen Publizistik seit 1945« (Tobias Weger), »Musik um den hl. Wenzel: ein Thema voller Rätsel« (Viktor Velek), »Der hl. Wenzel an der Goldenen Straße vom 14. bis 16. Jahrhundert. Ikonografie und Kunsthistoriografie« (Marco Bogade), »Die Wenzelskrone – ihre Form und Funktion« (Karel Otravský) und »Die Kronkammer im Veitsdom auf der Prager Burg« (Petr Chotěbor).