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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

191–193

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Simmen-Host, Alexandra

Titel/Untertitel:

Das geheimnisvolle Markusevangelium. Eine Auseinandersetzung mit dem scheinbaren Messiasgeheimnis.

Verlag:

Kassel: Kassel University Press 2018. 278 S. Geb. EUR 39,00. ISBN 978-3-7376-0570-0.

Rezensent:

Volker Stolle

Diese Untersuchung von Alexandra Simmen-Host wurde bei Paul-Gerhard Klumbies erarbeitet und 2018 vom Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel als Dissertation (Dr. phil.) angenommen. »Die These der vorliegenden Arbeit lautet: Im Vertrauen auf Jesus und im Glauben an Gott ist der Mensch als Geschöpf Gottes dazu bestimmt, ohne Furcht in Freiheit authentisch zu leben« (55). »Jesus kann zum Vorbild für die Menschen in seiner Nachfolge werden« (67), wobei zugleich gelten soll, dass »das Evangelium einen christologischen Kern enthält, der einen soteriologischen Gedanken in sich einschließt« (67).
Das erste Kapitel bietet eine ausführliche, mitunter redundante, zugleich aber auf die drei Positionen von Wrede, Räisänen und Klumbies gestraffte Darstellung der Forschungsgeschichte, jeweils verbunden mit systematischen Reflexionen über die christologischen Implikationen. Es wird kaum Neues geboten. Die Darstellung wirkt wie eine Materialsammlung, die noch auf ihre eigentliche Bearbeitung wartet. Daraus soll sich eine Fragestellung ergeben. Es wird jedoch nicht deutlich, in welchem Verhältnis die These der Arbeit zu dem im Titel der Arbeit thematisierten Messiasgeheimnis gesehen wird. Wird diese forschungsgeschichtlich überholte Konzeption bestritten, bleibt offen, welche Funktion den einzelnen Beobachtungen, die dieser Annahme zugeordnet wurden, nun zugeschrieben werden soll. Der Rückgriff auf Wrede bei Übergehen alternativer Konzepte, wie sie sich aus dem redaktionsgeschichtlichen Ansatz bei Willi Marxsen, Philipp Vielhauer oder Dieter Lührmann ergaben, erscheint unmotiviert, da die Vfn. nicht einen erneuten Versuch unternimmt, hinter der Überlieferung den historischen Jesus aufzuspüren.
Das zweite Kapitel dient dazu, die »hermeneutischen Voraussetzungen« zu klären. Für die Vfn. ist »nicht die Geschichte des Textes die Grundlage für seine Interpretation, sondern seine vorliegende Endgestalt« (44). Diese soll als literarisches Kunstwerk in ihrem ästhetischen Wert erfasst und der ihm inhärente Sinn erschlossen werden. Der Zugehörigkeit des Markusevangeliums zum biblischen Kanon und einem glaubenden Vorverständnis aufseiten der Lesegemeinde wird besondere Bedeutung zugeschrieben (86.88). Die allgemeinen hermeneutischen Überlegungen werden durch systematisch-christologische Ausführungen weitergeführt, in Aus­einandersetzung einerseits mit Begrifflichkeiten, die dem Markusevangelium überhaupt fremd sind (Theios Aner sowie die als »Prototyp oder Idel(gestalt)« verstandene Bezeichnung »Mensch«), andererseits mit den markinischen Benennungen Christus, Gottessohn und Menschensohn in einem dogmengeschichtlich weit gespannten Horizont. Diese »Titel« sollen ausdrücklich nicht als solche verstanden werden (101), sondern als Ausdruck der einzigartigen Gottesnähe Jesu. Solche systematischen Durchblenden verwischen die Unterscheidung zwischen erzählter Welt (Jesus und seine Jünger) und der Welt des Erzählens (Markus und seine Leserinnen und Leser). Die literarische Textur des Markusevangeliums als Erzählung wird nicht erkundet; der Begriff Mythos verdeckt mehr, als er aufdeckt. Die Stilistik des Kunstwerks wird außer Acht gelassen. Und vor allem bleibt verborgen, wieso das Markusevangelium nun doch unter der Frage nach Geheimnisvollem betrachtet werden soll.
Es folgt das zentrale Kapitel, in dem einzelne Texte bei Markus untersucht werden. Sie sind unter dem Gesichtspunkt ausgewählt und behandelt, ob darin das Motiv der Geheimhaltung begegnet. Hier wirkt sich aus, dass auf eine Textanalyse ebenso verzichtet wird wie auf eine formgeschichtliche Einordnung. Weder die sprachliche Struktur noch die pragmatische Ausrichtung noch die Position in der Gesamterzählung werden gewürdigt. So wird z. B. übersehen, dass der Hinweis auf das Wissen der Dämonen in Mk  1,34 einen Rückverweis auf 1,24 darstellt (139) und damit die textinterne Begründung für das Schweigegebot darin liegt, die dämonische Macht im Gegenüber abzuwehren. Das Schweigegebot an den Aussätzigen (Mk 1,44) ist eindeutig dadurch motiviert, dass die Heilung allein der Priester feststellen kann (Lev 14,1–9), hier also ein anderer das Wort hat. Damit aber erübrigen sich alle andersartigen Mutmaßungen. Es geht hier nicht darum, wer Jesus ist, sondern darum, ob der Aussatz tatsächlich verschwunden ist. Da die Vfn. das Summarium Mk 3,7–12 nicht in seiner Funktion, einen neuen Erzählkreis zu eröffnen, wahrnimmt, entgeht ihr auch, dass dem Schweigegebot an die unreinen Geister das ausdrückliche Redegebot an den geheilten Besessenen korrespondiert (5,19–20). Auch hier geht es nicht um Geheimhaltung, sondern darum, wer zu reden hat. Die Scharnierfunktion von Mk 4,10–12, zwischen dem Sä­mannsgleichnis (4,3–9) und seiner Auslegung auf den Samen und die Gesäten hin (4,14–20) bleibt unberücksichtigt. Während der Begriff μυστήριον nur einmal hier im Markusevangelium begegnet (Mk 4,11), sieht die Vfn. das »tatsächliche Geheimnis Gottes« in Mk 13,32 (234). Das heißt, ein abstrakter Begriff des Ge­heimen wird zum heuristischen Leitbegriff. Er erweist sich jedoch durchgehend als wenig geeignet, das Verständnis der Erzählung des Markus zu erschließen.
In gleicher Weise überrascht die starke Hervorhebung der Vorbildhaftigkeit Jesu. Hier fehlt im Evangelium die sprachliche Grundlage (μιμέομαι/μιμητής, τύπος/ὑποτύπωσις, ὑπόδειγμα) ganz. Und im Erzählaufbau des Markus erscheint Jesus gerade nicht in der Rolle einer Identifikationsfigur für die Lesegemeinde. Die Annahme: »Jesus ist der Mensch, der die Rezipientin oder Rezipient gern sein möchten« (144) erscheint mir unbegründet. Zur »Nachahmung« seiner Wirksamkeit kommt es durch ausdrück-liche Sendung durch ihn (Mk 6,7–13.30–31; vgl. aber 9,18.38–40).
Die Vfn. hätte ihr Anliegen, über die »Einheit von Menschlichkeit und Göttlichkeit in der Person Jesu als Christus« (113) nachzudenken, viel stimmiger durchführen können, wenn sie der markinischen Diktion folgend das Verhältnis von Vater und Sohn (Mk 1,11; 8,38; 9,7; 13,32; 14,61; vor allem 14,36) in die Mitte gestellt hätte. Dann hätte sich auch eine Verknüpfung mit der Geschichte der Christologie ergeben, freilich nicht mit der Diskussion der Gießener und der Tübinger im 17. Jh. (114–116), sondern mit dem monotheletischen Streit im 7. Jh. (Mk 14,36). Diese zentrale Seite des Markusevangeliums wird jedoch eher im Vorübergehen behandelt (96.102.105–107.247). Schade.
Im abschließenden Kapitel werden zuvor entwickelte Gedanken zusammengestellt und noch einmal systematisch reflektiert. Literaturverzeichnis und Autorenregister folgen.
Der Anlage und Durchführung der Arbeit fehlt es an Stringenz, um tragfähige Ergebnisse erzielen zu können. Die Erfassung eines Kunstwerks erfordert selbst große Kunstfertigkeit. Stattdessen wird in freier Assoziation viel im Konjunktiv vermutet oder in den Text hineingeheimnisst.