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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

185–187

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kraljic, Alexander

Titel/Untertitel:

Deuteronomium 10,12–11,32: Gottes Hauptgebot, der Gehorsam Israels und sein Land. Eine Neuuntersuchung.

Verlag:

Berlin u. a.: Peter Lang 2018. 576 S. m. 6 Abb. u. 114 Tab. = Österreichische Biblische Studien, 49. Geb. EUR 99,95. ISBN 978-3-631-75621-8.

Rezensent:

Eckart Otto

Dtn 10,12–11,32 ist Teil des paränetischen Rahmenwerks des Deuteronomiums, Abschluss seiner Einleitungsreden als Übergang zur Gesetzessammlung in Dtn 12–26 und als solcher »hermeneutischer Schlüssel« für die Funktion des vorderen Rahmens Dtn 1–11 im Ganzen des Buches Deuteronomium (s. Deuteronomium, HThKAT I/2, 1018). Nach der rein synchron gearbeiteten exegetischen Studie einer Innsbrucker Dissertation zu diesen Kapiteln des Buches Deuteronomium von Thomas Karimundackal (fzb 135, Würzburg 2017; cf. dazu ZAR 23 [2018], 319–321) wendet sich Alexander Kraljic in einer Wiener Dissertation erneut diesem wichtigen Textabschnitt des Buches Deuteronomium zu, die die synchrone Analyse durch eine auch diachrone ergänzen will. Die Dissertation bewegt sich nach Auskunft des Vf.s in engen, von G. Braulik vorgegebenen Bahnen, der, so der Vf., mit »detaillierten Korrekturen und Literaturhinweisen« geholfen habe, »verwickelte, aber begehbare Wege von Sackgassen zu unterscheiden« und im Dickicht der in der Forschung vertretenen Theorien und Hypothesen »nicht vollends die Orientierung verloren zu haben«. Ziel der Untersuchung soll eine ganzheitliche Sicht des Textes von Dtn 10,12–11,32 sein, »bei der sich synchrone und diachrone Aspekte wie in einem Hologramm zu einem dreidimensionalen Bild verdichten«.
In einem ersten Hauptteil wird Dtn 10,12–11,32 einer synchron orientierten »syntaktisch-rhetorischen Analyse« unterzogen, die von der diachronen Untersuchung unabhängig durchzuführen sei. Dazu wird der Text zunächst in neun »Sinneinheiten« in Dtn 10,12–13/14–19/20–11,1/2–7/8–12/13–17/18–21/22–25/26–32 untergliedert und auf die Strukturierung durch Mikrostrukturen hin befragt. Der Text wird dann als synchrone Einheit makrostrukturell analysiert, mit dem Ergebnis, dass Abschnitte, die zum Halten der Gebote JHWHs aufrufen, mit solchen zur Geschichte Israels wechseln. In diesen »Sinneinheiten« sollen mit performativer Funktion »unterschiedliche klangliche und rhythmische Techniken zum Einsatz« kommen. Ein grundsätzliches Problem der Me­thodik des Vf.s besteht darin, dass die Abgrenzung der neun »Sinneinheiten« ohne ausreichende Begründung recht willkürlich er­folgt.
Damit aber ist die Makrostrukturierung des Gesamttextes präjudiziert und in ihrem Ergebnis verstellt. Der umgekehrte Weg, von einer Erhebung der Makrostruktur in Dtn 10,12–11,32 in einem working down die »Sinneinheiten« abzugrenzen, um sie anschließend auf Mikrostrukturen hin zu befragen, wäre methodisch vielversprechender gewesen. Man wird also weiterhin daran festhalten, dass Dtn 10,12–11,32 durch ein Fachwerk von Gebotsreihen, deren cantus firmus das Gebot, JHWH zu lieben, ist, strukturiert wird, in das thematisch unterschiedliche »Sinneinheiten« eingehängt und durch den Numeruswechsel theologisch akzentuiert und strukturiert werden. Der Vf. aber bekommt nicht das Problem des Numeruswechsels angesichts seiner dem vorliegenden masoretischen Text fernen und nicht inhärent-adäquaten Strukturierung in den Griff und muss zu der wenig befriedigenden These Zuflucht nehmen, der Numeruswechsel diene der »Nu­merusmischung« mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Adressaten zu steigern, was sich schon in exegetischen Analyse anderer Kapitel des Buches Deuteronomium als theologisch zu kurz gegriffen erwiesen und zur einer Fehlinterpretation der Aussagestrukturen der Kapitel und ihrer Theologie geführt hat. Doch wird man letztlich dem Vf. zustimmen können, wenn er insgesamt in seiner »syntaktisch-rhetorischen Analyse« von Dtn 10,12–11,32 zu dem recht unspektakulären Ergebnis gelangt, dass »das Hauptgebot der ungeteilten Liebe zu JHWH und der Gehorsam gegenüber seinem Gesetz in immer neuen Anläufen entfaltet wird, und in einem zweiten Strang Geschichte und Land das Thema setzen«.
Mose präsentiere sich »als Rhetor und Pädagoge, der sein Publikum werbend und mahnend zur Annahme seiner Botschaft zu bewegen sucht« durch »eine höchst personale Argumentation, bei der die Zuhörer körperlich, seelisch und emotional zu den angeführten Tatsachen und Ereignissen in Beziehung gesetzt werden.« Bedauerlicherweise macht der Vf. keinen Versuch, den synchron analysierten Abschnitt des Deuteronomiumrahmens in einem synchron in den Blick genommenen Deuteronomium und vor allem Pentateuch zur Sprache zu bringen und auszulegen. Die Gründe für diesen Ausfall liefert der zweite Hauptteil der Dissertation, der sich der diachronen Einordnung des Textes zuwendet, die das Deuteronomium wieder in seine captivitas babylonica, Teil eines mehrschichtigen Deuteronomistischen Geschichtswerk (DtrG) zu sein, zurückführt und nicht die neueren Entwicklungen der Deuteronomiumsforschung, die das Deuteronomium als Teil des Pentateuchs in einem Enneateuch begreift, umzusetzen vermag. Synchron aber ist das Deuteronomium nicht anders als ein Teil des Pentateuchs zu verstehen.
Wird man dennoch den Ergebnissen der synchronen Analyse des Vf.s ein Stück weit folgen wollen, ändert sich das Bild mit der literaturhistorisch-diachronen Einordnung von Dtn 10,12–32 im zweiten Hauptteil der Dissertation grundlegend, die das Buch Deuteronomium vom Pentateuch löst und in ein Geflecht deuteronomistischer Schichten unterschiedlicher Siglen einbindet, die in der vom Vf. zugrunde gelegten Gestalt von der Deuteronomiumsforschung seit mehr als einem Vierteljahrhundert nicht mehr vertreten werden und sich, so insbesondere eine vorexilisch datierte Erzählung DtrL unter Einschluss von Landnahmeerzählungen des Buches Josua, sowie eine exilische Redaktionsschicht DtrÜ, in der Deuteronomiumforschung nicht durchgesetzt haben. Damit wird das Deuteronomium und insbesondere der Rahmentext Dtn 10,12–1,32 aus seinen literarischen Kontexten im Pentateuch herausgelöst und ein gründlich überholter Forschungsstand der Deuteronomiums- und Pentateuchforschung zugrunde gelegt, der den Vf. zu der These führt, Dtn 10,12–11,17 (ohne Dtn 10,19;11,8*) sei in vorexilischer Zeit formuliert worden und enthalte Textmaterialien, die auf eine »Vereidigungszeremonie« des Königs Josia im Jahre 622 v. Chr. zurückgehen sollen, ehe Dtn 11,18–12,1 Dtn 11,18–32 noch frühexilisch angefügt und nachexilisch die Verse Dtn 10,19;11,8* eingefügt worden seien.
Diesen Frühdatierungen widerspricht, dass in Dtn 10,12–11,32 das priesterschriftliche Exodusbuch und das postpriesterschriftliche Buch Numeri mit der Datan-Abiram-Erzählung in Num 16 vorausgesetzt werden. Schließlich widerspricht der extremen Frühdatierung, dass die Sprachgestalt von Dtn 10,12–11,32 durchgängig spät ist und in die nachexilische Zeit weist. Schließlich ist der literaturhistorische Ausgangspunkt von Dtn 10,12–11,17 in einer »Vereidigungszeremonie« des Königs Josia historisch nicht belastbar und nur spekulativ, da von einer derartigen Zeremonie keine historisch verlässlichen Daten vorliegen, geschweige denn noch Textelemente aus einer derartigen Vereidigungszeremonie im Deuteronomium zu finden sind.
Die Dissertation hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite zeugt sie von großer Akribie und von Fleiß der Arbeit in einem vorgegebenen Rahmen, worauf der für eine Dissertation erhebliche Umfang weist, und auch zeigt sie eine profunde Belesenheit des Vf.s zum Deuteronomium. Die enge Bindung an vorgegebene Thesen und Studien, die, so wohl die Intention des Vf.s, zu Ende gedacht werden sollen, macht einerseits die Stärke der Dissertation aus und andererseits auch ihre Begrenzung. Da sie im Wesentlichen apologetisch in Bezug auf die Vorgaben arbeitet, sind ihre Argumentationsstrukturen primär zirkulär, da die Ergebnisse schon vor Beginn der Argumentation festzustehen scheinen und nur untermauert werden sollen, was der Dissertation viel von ihrer Überzeugungskraft nimmt. Dennoch wird der Studie aufgrund der Materialfülle ein Platz in den zukünftigen Diskussionen zur Deuteronomiumsforschung einzuräumen sein.