Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2020

Spalte:

183–185

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Heckl, Raik

Titel/Untertitel:

Neuanfang und Kontinuität in Jerusalem. Studien zu den hermeneutischen Strategien im Esra-Nehemia-Buch.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2016. X, 463 S. = Forschungen zum Alten Testament, 104. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-154118-6.

Rezensent:

Matthias Ederer

Wenn die Esra-Nehemia-Schrift zu den in der aktuellen Forschung intensiv und kontrovers diskutierten Texten der Bibel gehört, so hängt dies u. a. mit einer literarischen Eigenheit zusammen, der sie auch ihr spezielles Gepräge verdankt, mit dem intensiven Rekurs auf Dokumente (z. B. persische Edikte, Briefwechsel, Listen oder Nehemias »Memoiren«), die ausführlich zitiert und als »Quellen« inszeniert werden. Bei diesen »Quellen« setzt auch die zu rezensierende Monographie von Raik Heckl an – und sie tut dies mit einer interessanten und innovativen Herangehensweise. So fragt H. nicht allein und vorrangig nach der Authentizität der zitierten Dokumente und ihrer Bedeutung für eine Rekonstruktion der Literargeschichte von Esr-Neh, sondern zunächst nach den Intentionen des Werks und vor allem nach den Intentionen hinter dem Um­gang mit den »Quellen«, auf die Esr-Neh rekurriert bzw. deren Exis­tenz und Gebrauch es seinen Lesenden glaubhaft machen möchte.
H. analysiert ausführlich die theologischen Absichten, die hermeneutischen Strategien und die literarischen Techniken sowohl hinter der Rezeption tatsächlich vorliegender Quellen als auch hinter der Stilisierung eigener literarischer Produkte als benutzte »Quellen«. Die (»klassische«) Frage jedoch, ob diese in Esr-Neh zi­tierten Dokumente tatsächlich auch (literargeschichtlich) Quellen des Buchs sind oder aber fingierte Texte, wird ausgehend von der vorangestellten Frage nach den Intentionen hinter dem »Quellengebrauch« angegangen.
Konkret setzt H. bei drei »Dokumenten« an, die in der Einleitung (1–31), die zugleich eine Profilierung der Fragestellung sowie eine methodische Grundlegung bietet, als geeignete Ansatzpunkte plausibel gemacht werden. Sie werden in den drei Hauptkapiteln der Studie behandelt, die zugleich auch eine genauere Analyse der engeren literarischen Kontexte bieten: 1. das Kyrosedikt in Esr 1,2–4 (vgl. auch Esr 5,13–15; 6,3–5) als Schlüsseltext für Esr 1–6 in Kapitel 2 (32–217), 2. das Artaxerxes-Schreiben in Esr 7,11–26 als Schlüsseltext für Esr 7–8(.9–10) in Kapitel 3 (218–301) und zuletzt 3. die (annähernd) wörtliche Aufnahme der Rückkehrerliste von Esr 2 in Neh 7 als Brückenschlag zur Nehemiaerzählung in Kapitel 4 (302–350).
In allen drei Kapiteln zeichnet H. die theologischen und politischen Intentionen hinter dem Umgehen mit (bzw. hinter dem Fingieren von) Quellen nach und kann zudem zeigen, dass unter den zahlreichen Dokumenten, die in Esr-Neh durch die Erzählstimme als »Quellen« eingeführt werden, zwei Texte auch in diachroner Hinsicht als solche gelten können, als Texte also, die den Autoren von Esr-Neh vorliegen und von ihnen rezipiert werden.
Zum einen ist dies die aramäische Tempelbauchronik (vgl. 110–217), die in ihrem Kernbestand in Esr 5,1–6,18 greifbar wird, der H. aber auch die Liste in Esr 2 zuweist. Letztere ist im vorliegenden Text von Esr-Neh als Rückkehrerliste stilisiert, gehört – so H. – ursprünglich aber in den Kontext von Esr 5, wo sie als Verzeichnis der am Tempel Bauenden fungierte (vgl. 177–181). H. bestimmt die Tempelbauchronik als jüdischen Text für eine jüdische Leserschaft in hellenistischer Zeit (Mitte des 3. Jh.s), der sich literarisch da­durch auszeichnet, dass wesentliche Schritte der Handlung über die im Text ausführlich präsentierten Dokumente (Briefe, Dekrete, …) getragen werden. Auf diese Weise fingiert die Tempelbauchronik eine persische Perspektive (und damit auch Authentizität) und unterstreicht Legalität bzw. Legitimität des Tempelbaus in Jerusalem. Zugleich profiliert H. sie als dezidiert theologischen Text, der – unter Anspielungen auf kanonische Texte – die (geschichts-)theologischen Hintergründe und Grundlagen sowie die Bedeutung des Tempelbaus reflektiert. Den verbleibenden Textbestand von Esra 1–6 weist H. hingegen der Hand der Autoren von Esr-Neh zu, die sich aus der rezipierten Chronik speisen, diese in einen neuen Rahmen setzen und theologische Akzentverschiebungen und Zuspitzungen vornehmen.
Als zweite (literarhistorische) Quelle in Esr-Neh identifiziert H. die Nehemiaerzählung (vgl. Kapitel 4), die durch die Einfügung von Neh 7–8 eine entscheidende Rekontextualisierung erfährt und eng an die Tempelbaugeschichte (Esr 1–6) angeschlossen wird.
Alle weiteren Dokumente aber qualifiziert er als fingierte Texte aus der Hand der Autoren von Esr-Neh – so etwa die Briefe in Esr 4, das »Original« des Kyrosedikts in Esr 1,2–4, aber auch das Artaxerxes-Schreiben in Esr 7,11–26. Letzteres deutet H. als Ausgangstext für die Esra-Erzählung in Esr 7–8(.9–10), die auf die vorgegebene Nehemia-Erzählung hin angelegt ist, eine Brücke zwischen dieser und der Tempelbauerzählung in Esr 1–6 schlägt und zugleich die Figur des Statthalters Nehemia dem Priester und Schriftgelehrten Esra nach- und unterordnet (vgl. Kapitel 3).
Für einen schnellen Zugriff auf die Erträge der Monographie ist die »Synthese« in Kapitel 5 (351–417) hilfreich, die die wesentlichen Einsichten der Untersuchungen bündelt und weiterführende Perspektiven andeutet.
In der Gesamtschau auf die Monographie ist festzuhalten, dass H. das theologische Profil der von ihm postulierten Quellen (vor allem der aramäischen Tempelbauchronik) ausführlich nachzeichnen, deren Rezeption und Neukontextualisierung in Esr-Neh plausibel darstellen und auch die Intentionen hinter der Rezeption (und dem Fingieren) von Quellen und Dokumenten anschaulich machen kann. So erhellt die Studie diejenigen Diskurse des hellenistischen Judentums, die Esr-Neh hervorbringen, und kann dabei auch Entwicklungen und Verschiebungen innerhalb dieser Diskurse abbilden.
Zugleich jedoch entfaltet H., indem er seine eigentliche Fragestellung nach den Intentionen und Strategien der Texte bearbeitet, auch ein Modell für die Literargeschichte von Esr-Neh, das vor allem durch seine »Ökonomie« überzeugt. Immerhin kommt es mit zwei klar konturierten Quellen, der Tempelbauchronik und der Nehemiaerzählung, sowie der Hand der Autoren von Esr-Neh aus und kann damit auch ohne eine – hermeneutisch problematische – Inflation hypothetischer Entitäten ein plausibles Bild zeichnen. Kurzum: Wer sich mit Esr-Neh beschäftigt, wird in H.s Studie anregende und weiterführende Impulse finden (methodisch wie inhaltlich-theologisch).
Eine Anfrage jedoch richtet sich an ein zunächst kleineres Detail der Studie. So setzt H. sich in der Einleitung (vgl. 19) von der Idee ab, kanonische Texte entstünden in einem »kanonischen Prozess« bereits als kanonische Texte, wobei er mit der Unveränderlichkeit als zentralem Kennzeichen der Kanonizität – bzw. an anderer Stelle mit der allgemeinen Akzeptanz als heilige Schrift (vgl. Vorwort)– argumentiert, die tatsächlich im »kanonischen Prozess« noch nicht (uneingeschränkt) gegeben sind. Aus dem Blick gerät dabei allerdings die ebenfalls zentrale Funktion kanonischer Schriften, identitätsbildende Grundlage einer Gemeinschaft zu sein – eine Funktion, die sich zusammen mit den Schriften ausbildet und diese bereits in ihrer Entstehung begleitet. Genau dieser funktionale Aspekt von Kanon aber könnte sich in der Studie als durchaus interessant erweisen – z. B. in Kapitel 2, wo er letztlich die Motivation hinter der nachgezeichneten literarischen Rezeption der aramäischen Tempelbauchronik noch präziser reflektierbar machen könnte: Die Tempelbauchronik wird »aufgehoben«, passend »zugeschnitten« und neu »gerahmt«, weil sie – zumindest von den Autoren von Esr-Neh – als kanonisch (im funktionalen Sinne) wahrgenommen, d. h. auch für neue und veränderte Diskurslagen als hilfreich und wertvoll erachtet wird?