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Ausgabe:

März/2020

Spalte:

173–175

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Lange, Melanie

Titel/Untertitel:

Ein Meilenstein der Hebraistik. Der »Sefer ha-Bachur« Elia Levitas in Sebastian Münsters Übersetzung und Edition.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 514 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 62. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-374-05681-1.

Rezensent:

Matthias Morgenstern

Die 2017 an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock verteidigte Dissertation von Melanie Lange beginnt mit Ausführungen zur jüdischen Hebraistik bis zum 16. Jh. und zur Herausbildung der entsprechenden christlichen Disziplin im gleichen Zeitraum. Es folgen biographische Angaben zu den Renaissancegelehrten Elia Levita (1469–1549) und Sebastian Münster (1488–1552). Letzterer arbeitete 1515–1518 als Lektor in Tübingen, siedelte 1518 nach Basel über, war später in Heidelberg als Professor für Hebräisch tätig und trat 1529 zum Protestantismus über. Levita, der aus dem Fränkischen nach Norditalien vertriebene jüdische Gelehrte, der in Rom bei Kardinal Egidio da Viterbo seinen Gönner fand, trat durch sprachwissenschaftliche Veröffentlichungen (darunter ein Targum-Wörterbuch) und Untersuchungen der Masora hervor. Obwohl ein persönliches Treffen zwischen Levita und Münster nie zustande kam (67), hatten beide sich viel zu verdanken: Levita gelangte erst durch Münsters lateinische Übersetzungen seiner Werke zu europaweiter Bekanntheit, während Münster ohne die Informationen, die er von seinem jüdischen Zeitgenossen erhielt, in der frühen christlichen Hebraistik kaum eine Rolle gespielt hätte (68).
Nach einführenden Bemerkungen zu Münsters Tätigkeit als Übersetzer und Editor sowie Ausführungen zur Entstehung von Levitas Sefer ha-Bachur (Rom 1517/18) folgt eine Einführung in dieses von Münster liber electus genannte Werk zur hebräischen Grammatik, das 1525 in Basel zusammen mit Münsters lateinischer Übersetzung ediert wurde. Der besseren Lesbarkeit wegen versah der christliche Gelehrte dabei den ursprünglichen hebräischen Text mit Vokalisationszeichen, fügte propädeutische Anmerkungen, eine Einführung in die hebräischen Buchstaben und die Akzente sowie Konjugationstafeln hinzu, stellte eine ausführliche Vorrede voran und wählte für den so neu entstandenen Gesamttext den Veröffentlichungstitel Grammatica Hebraica absolutissima. Dies macht nicht nur den Anspruch des Werkes, sondern auch das Gespür des Übersetzers und Publizisten für zeitgemäßes Marketing deutlich: »Dieses Werk ist das einzige, das nahtlos alle Regeln der Grammatik beinhaltet und losgelöst ist von überkommenen Vorurteilen, Ansichten und Traditionen.« (105)
Es folgt der Hauptteil der Arbeit (115–395): eine deutsche Übersetzung des hebräischen Textes dieser Grammatik (bei L.: linke Seite), der eine Verdeutschung der lateinischen Übersetzung Münsters zur Seite steht (rechte Seite). Beide Übersetzungen sind von L. mit gelehrten Anmerkungen versehen, in denen Leser Einzelheiten zur Terminologie und Geschichte der hebräischen Grammatik erfahren, etwa zur seit dem spätantiken Sefer Jezira üblichen Klassifizierung der hebräischen Buchstaben in Guttural-, Dental-, Labialbuchstaben usw. (120), zur Benennung der Vokale im Hebräischen als »Bewegung«/העונת (123), zur seit Reuchlin üblichen Wiedergabe des hebräischen »binyan« durch »coniugatio« (131) und zur Terminologie der Vokalisationspunkte. Das »große Kamez« wird nach der hebräischen Wortwurzel »q-m-z« etwa so genannt, »weil der Mensch seinen Mund bei seiner Aussprache zusammendrückt« (124) – eine phonetische Information, die freilich nicht mit der im heutigen Israel (und auch im hiesigen Hebräisch-Unterricht) üb-lichen Aussprache (Kamez = a) zusammenpasst, sondern die von Levita gebrauchte aschkenasische Mundart wiedergibt (»thauro« statt »thora« mit Kamez unter dem letzten Buchstaben). Zur aschkenasischen Aussprache gehört auch die Kennzeichnung der nicht-dageschierten Buchstaben g, d und t durch den Akzent Raphe, der die aspirierte Aussprache andeutet.
An dieser Stelle (123) hätte manchem Leser wohl eine Anmerkung zu den Unterschieden der sefardischen und aschkenasischen Aussprache des Hebräischen geholfen. Auch sollte in der Übersetzung neben »gh« und »th« ein »dh« (statt einfach »d«) stehen (ebd.). Etwas irritierend ist, dass das sprachliche Beispiel »Af Ben Ruah Kadosch, El Aehad«, das auf das trinitarische Bekenntnis anspielt (»Vater, Sohn, Heiliger Geist, ein einziger Gott«), sich nicht nur in Münsters Übersetzung, sondern auch im edierten Text findet (122 f.); muss man damit rechnen, dass der christliche Übersetzer es in Levitas Vorlage hinein-ediert hat? Ist die nicht mit der Transkriptionstabelle des Buches (478 f.) übereinstimmende Transliteration (»af« statt »av«) L. oder dem Übersetzer des 16. Jh.s anzulasten? Störend ist auch, dass Inkonsistenzen zwischen der rechten und der linken Seite der Edition nicht kommentiert und erklärt werden (z. B. S. 127 fehlerhafte Transkriptionen des hebräischen Textes, die möglicherweise auf Münster zurückgehen).
Den Abschluss der Arbeit bilden Untersuchungen zur Wahrnehmung von Judentum und Christentum bei Elia Levita und in Münsters Edition, zur Bedeutung der Bibel bei beiden Autoren, zum didaktischen Konzept des Sefer ha-Bachur sowie zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des Werkes und seiner Edition. Ausführliche Indizes (Bibelstellen, Sach-, Personen- und Ortsregister) machen das Buch zu einem nützlichen Werkzeug zur Weiterarbeit an Fragen der historischen Grammatik des Hebräischen.
Eigens hingewiesen werden soll auf einen Exkurs – den für den Rezensenten spannendsten Abschnitt des Buches –, der das Sprach- und Übersetzungsverständnis Münsters mit dem Martin Luthers vergleicht (79–96). Beide stimmten in der Meinung überein, »dass die Hebraistik in ihrer Gesamtheit letzten Endes eine ancilla theologiae sein muss« (83), doch treten im Detail relevante Unterschiede zutage.
Während Münster die Bedeutung und Notwendigkeit der Vokalzeichen für das Verständnis des hebräischen Textes hoch einschätzte, hielt der Wittenberger Reformator das Vokalisationssystem für eine Erfindung der Rabbinen: »Und ist das vorteil da, das Mose und die Propheten nicht haben mit puncten geschrieben, welches ein new menschen fuendlin, nach ihrer zeit auffbracht, Darumb nicht not ist, dieselben so steiff zu halten, als die Jueden gern wollten, Sonderlich, wo sie demnewen Testament zu wider gebraucht werden« (94; die Quellenangabe aus der Weimarer Ausgabe – Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi – ist zu korrigieren; sie muss lauten: WA 53, 647, 34–648, 3). Dementsprechend äußerte Luther in seinen Tischreden immer wieder herbe Kritik an Münster, der nicht zum Textsinn vordringe und »judaisiere«.
Besonders augenfällig werden die Unterschiede zwischen beiden anhand ihrer Kontroverse um die Wiedergabe von Jona 2,5: Von seinen eigenen Erfahrungen der Anfechtung inspiriert, sah Luther hier die verzweifelte Angst des Propheten, der fürchtete, den Tempel und die Nähe Gottes nie wieder wahrnehmen zu können; Münster (»miror, quo Lutherus respexerit, quod negative verba Ionae exposuerat«) deutete den Vers hingegen im Sinne einer tiefen Glaubenszuversicht, für die es außer Frage steht, dass der Beter den Tempel wiedersehen wird (93). Doch auch Münsters Arbeit gibt – in seiner Übersetzung wie in der Edition – den Standpunkt des christlichen Humanisten zu erkennen, der den jüdischen Sefer ha-Bachur zu einem Lehrwerk für christliche Hebraisten transformiert (vgl. 472). L. zeigt dies besonders in ihren Anmerkungen zum didaktischen Konzept des Übersetzers (445–462). Überhaupt ist es das für das 16. Jh. so charakteristische Spannungsverhältnis von Theologie und Philologie, das die Arbeit Sebastian Münsters für die Nachwelt so fruchtbar machte. Die Arbeit von L. macht dies eindrücklich sichtbar – ein »Meilenstein« in der Beschäftigung mit Sebastian Münster.