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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

116–118

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wenzel, Uwe Justus

Titel/Untertitel:

Von Adorno bis Wittgenstein. Philosophische Profile.

Verlag:

Basel: Schwabe Verlag 2018. 370 S. = Schwabe reflexe, 56. Kart. CHF 23,00. ISBN 978-3-7965-3900-8.

Rezensent:

Christian Polke

Zu den eher seltenen Lichtgestalten eines intellektuell versierten, weltoffenen und literarisch versierten Journalismus unserer Tage, denen es vor allem um das, was man im echten Sinne des Wortes immer noch Feuilleton nennt, geht, gehört zweifellos Uwe Justus Wenzel. Das gilt umso mehr, da man offenkundig nicht einmal mehr bei der Neuen Zürcher Zeitung vor allzu populistisch anmutender und Triviales wie Banales mit dem Mäntelchen des Bedeutsamen versehender Redaktionspolitik sicher ist – man nennt das dann »journalistische Reorganisation«. Zum Glück hat dies den veritablen Philosophen, Journalisten und Autor nicht davon abgehalten, seine bis dato (2014) in der NZZ veröffentlichten Porträts, Geburtstagsgrüße und Nachrufe auf große philosophische Intellektuelle unserer Zeit sowie der Geschichte auch abseits des Zeitungsfeuilletons noch einmal zu veröffentlichen. Das Resultat dieser erneuten Sammlungsbemühung liegt im hier anzuzeigenden Bande vor.
»Von Adorno bis Wittgenstein« – der Titel ist schon deswegen Programm, weil er zugleich auf die alphabetische Anordnung der Texte rekurriert, die den Zeitläuften gemäß ja als anachronistisch anmuten dürfte und doch bei der Lektüre großen Sinn macht. Vorangestellt ist eine kleine Hinführung, in der keineswegs nur metaphorisch von »Geistesgiganten«, »Zwergen«, die bekanntlich auf den »Schultern von Riesen stehen« (T. Merton), und von »philosophischen Tagelöhnern« die Rede ist. Wer was ist, von den in diesem Band Porträtierten, das kann man einerseits den Schilderungen des Vf.s entnehmen, man darf aber andererseits sich auch selbst ein eigenes Urteil bilden. Mit etwaigen Widersprüchen darf und kann man leben. Und so gelingt es, sich auf seine Weise Descartes und Kant, Habermas und Heidegger, Kierkegaard und Lévinas, Nietzsche, Ricœur, Simmel und Spaemann und nicht zuletzt Theunissen, Tugendhat und Bernard Williams zu nähern.
Will man bei der Auswahl auf ein Desiderat zu sprechen kommen, dann fällt einem vielleicht am ehesten das Fehlen eines Beitrages zu Hegel auf; aber der hatte in den letzten Dekaden eben kein großes Jubiläum, und um Vollständigkeit ging es dem Vf. ja gar nicht. Denn das Buch ist weniger als Einführung in denn als eine Hinführung zum Denken der geschilderten Autoren zu verstehen. Und gerade in der Kombination von pointiertem Aufschlag und prägnantem Zugriff auf ein Grundmotiv gelingt es dem Vf., auf das »Herz« oder »Epizentrum« der jeweiligen philosophischen Gedankengebäude aufmerksam zu machen. Hier nur eine kleine Kostprobe aus dem Nachruf für einen ganz gewiss nicht einfachen Denker analytischer Provenienz: Donald Davidsons Ansatz der »radikalen Interpretation« wird dem Leser dergestalt erläutert, dass diese Theorie
»ihr Szenario in der Situation des ethnologischen Feldforschers [hat], der auf einen wildfremden Menschen trifft, dessen Sprache er ebenso wenig kennt wie dessen Intentionen: Peu à peu werde der ›Interpret‹ den Fremden wie auch seine Sprache verstehen – nicht durch Einfühlung […] sondern durch die Beobachtung seines Verhaltens […] Verstehen ist in diesem Verständnis nicht etwas vom Erklären himmelweit Verschiedenes. Verstehen heisst vielmehr: das Verhalten des anderen, auch das sprachliche, erklären, es in seinem Bedingungsverhältnis wahrnehmen können.« (76)
Wo liest man schon solche elementaren Sätze, die zugleich einen der ganz Großen der sprachanalytischen Zunft im Kern treffen?
Manchen Denkern werden gleich mehrere Beiträge gewidmet, oftmals, weil rundes Jubiläum und/oder Todestag zeitlich nicht (mehr) weit auseinanderlagen. Émmanuel Levinas zählt hierunter. Die beiden ihm gewidmeten Texte (vgl. 203 ff.213 ff.) stellen einerseits Variationen um ein und dasselbe Grundmotiv, Ethik als erste Philosophie, dar, und doch wird andererseits der »Blick des Anderen« einmal alltagsphänomenologisch und dann wieder aus dem Geiste der jüdischen Tradition heraus erfasst und rekonstruiert. Man muss bei all diesen kleinen Kabinettstücken des porträtierenden wie im gleichen Atemzug auch philosophierenden Feuilletonisten genau lesen, um etwaige Sym- von Antipathien zu trennen. Denn mit Blick auf seine Rolle, die von ihm geschilderten Denker zu ihrem Recht kommen zu lassen, sind die Texte vorbildlich. Und der Vf. kann dabei sehr einfühlsam sein, ohne die Distanz, die vom Respekt vor der persönlichen Lebensgeschichte der Protagonisten lebt, zu verlieren. Die Würdigung von Michael Theunissens negativistischer Philosophie beginnt deshalb mit einem Zugleich aus Distanznahme und Einfühlung:
»Erst nach der Befriedigung ihrer Notdurft, mit der Befreiung zur Musse haben die Menschen zu philosophieren begonnen. Gegenüber dieser schwer bestreitbaren Einsicht des Aristoteles beharrt Michael Theunissen auf einer zweiten Wahrheit: ›Die Menschen würden aufhören zu philosophieren, gäbe es je eine leidenslose Welt. Philosophie erwächst wesentlich aus dem Leiden.‹ […] Eine Verletzung raubte dem Fünfzehnjährigen das rechte Augenlicht und fesselte ihn ein Vierteljahr lang mit verbundenen Augen ans Krankenbett. Keine acht Jahre später wird der gebürtige Berliner mit einer eindrucksvollen Arbeit über den ›Begriff Ernst bei Søren Kierkegaard‹ […] promoviert.« (325)
Hier interpretieren sich die Zeilen wechselseitig, so dass der Hinweis auf die Verbindung von »erfahrenem Leid« und »existentiellem Ernst« (ebd.) eigentlich unnötig ist, sie stellen sich beim Leser, ohne voyeuristisch zu werden, fast von selbst ein.
Wieso aber gehört ein solcher Band in einer wissenschaftlichen Literaturzeitung rezensiert? Gewiss, man kann über manche überspitzten und daher mitunter zur Vereinseitigung neigenden Formulierungen streiten; aber der eigentliche Gewinn der Lektüre dieses Buches liegt für Wissenschaftler in zweierlei: einmal in der möglichen Wieder- oder Neuentdeckung von vielleicht bislang in der eigenen Arbeit übersehenen Denkern als Zeit- und Ideengenossen; und dann vor allem im Ansinnen der Leichtigkeit eines Stils, der Tiefsinn und Nachdenklichkeit mit Humor und bisweilen Ironie zu verbinden vermag. Oder wie soll man es anders bezeichnen, wenn man (Michael Walzers) Gesellschaftskritik auch als »Fortsetzung der Nörgelei mit anderen Mitteln« (347) bezeichnet? Alles Vorzüge eines Stils, der hierzulande immer noch, aber nicht zwangsläufig den akademischen Veröffentlichungen zumeist ab­geht. Auch das lässt sich von einem philosophierenden Feuilletonisten lernen, von dem ich jedenfalls in dieser Hinsicht eines mit Sicherheit zu wissen vermag: Zu den Zwergen seiner Zunft gehört er nicht!