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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

114–116

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Polke, Christian, Firchow, Markus, u. Christoph Seibert [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kultur als Spiel. Philosophisch-theologische Variationen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. 200 S. = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 22. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-04813-7.

Rezensent:

Hartmut von Sass

Alles nur ein Spiel? Die einen werden darin die übliche Entschuldigung sehen, dass ›alles‹ nicht vollkommen ernst und ganz anders gemeint war. Und die Gegenseite mag einwenden, man solle das ›nur‹ aus der Frage streichen, um endlich zu erkennen, wie das Spielerische buchstäblich alles durchdringt. Zugegeben sei, dass diese Gegenüberstellung recht holzschnittartig ist; und doch trifft sie die beiden Hauptreaktionen in Theologie und Philosophie, wenn’s ums Spiel geht. Mit der Gegenüberstellung zum Ernst wird das Spiel nicht selten aus dem philosophisch-theologischen Diskurs der Spätmoderne entnommen, um anderen Deutungsmustern den Vorrang zu geben. Oder aber man promoviert das Spiel zur wesentlichen Kategorie der Anthropologie und Kulturtheorie. Und hier unterteilt sich das spielaffine Feld noch einmal in zwei prominente Positionen: Entweder ist das Spiel der humane Grenzwert, sofern Menschen dann ganz menschlich seien, wenn sie spielten (so Schiller im 15. Brief der Ästhetischen Erziehung von 1795); oder aber das Spiel wird als Ursprung oder gar Wesen menschlicher Existenz an­gesehen, um alle sozialen Systeme vom homo ludens aus zu charakterisieren (wie es Johan Huizinga in seinem gleichnamigen Klassiker 1938 – in einer toternsten Zeit also – zumindest nahelegte).
Diese zwei (oder drei) Positionen werden auch immer wieder im vorliegenden Band an- und umgespielt. Er geht auf eine Tagung zurück, die aus Anlass des 60. Geburtstages vom Hamburger Systematiker Michael Moxter veranstaltet wurde. Diese Proto-Festschrift enthält die dortigen Beiträge sowie Aufsätze der drei Herausgeber. Wenn – mit Moxter – »Religion als kritisches Selbst-bewußtsein der Kultur« fungiert, muss sie sich auch auf ein kri­tisch-symbolisches Spiel mit dem Spielen einlassen, sofern man den Ludologien von Schiller, Huizinga und anderen zumindest in Grundzügen zustimmt. Das tun auch die Herausgeber, die es nicht bei einer gegenseitigen Erhellung der titelgebenden Grundbe-griffe – Kultur und/als Spiel – belassen möchten, sondern in den Texten zugleich Erkundungen sehen, die den spielerischen Praktiken menschlicher Existenz exemplarisch nachgehen (18 f.).
Erika Fischer-Lichte (»Die verwandelnde Kraft kultureller Aufführung«, 21–40) zeichnet knapp die Transformation der Theaterwissenschaft nach, als deren Leitbegriffe nicht mehr der ›Text‹ oder die ›Spielerin‹, sondern die ›Aufführung‹ und deren ›Performanzen‹ fungieren (21). Schließlich konzentriert sie sich auf zwei wesentliche, besonders durch den Russischen Formalismus sowie Victor Turner geprägte Konzepte: ›Theatralität‹ und ›Liminalität‹. Damit wird der Verwandlungstrieb des Menschen eingefangen, um den Zustand der Schwebe (limen) als genuin spielerisch zu erweisen. Damit wiederum erreicht man ein Argument für die Allgemeinheit des Theatralen und des Spiels, weil Schwebezustände nicht die Ausnahme sind, sondern Konstanten bezeichnen.
Weit reservierter agiert Philipp Stoellger auf dem Spielfeld (»Spiel als Medium pathischer Erkenntnis und Immersion als theologisches Deutungsmuster«, 41–62); denn in seinem Beitrag kommen zunächst die Grenzen und Ambivalenzen des Spiels als Metapher zum Zuge. Kultur als Spiel zu deuten, sei erhellend, aber kaum erschöpfend (42), flankiert von dem theologischen Votum, dass das ›Spiel‹ kein Wort der christlichen Selbstdeutung darstelle (44). Ohne dies unbedingt ändern zu wollen, erinnert S. im Gespräch mit Gadamer, Hans Weder und Johannes Fischer an spielerische Szenen, die dann doch das Herz der Theologie treffen und betreffen: etwa die entdualisierten Spiele, in denen man – in Nächstenliebe?, oder eher im Liebesspiel – nur gewinnt, wenn auch der/die andere gewinnt (49); die ›immersiven‹ Erfahrungen des sakramentalen In­volviertseins – entweder korporal in der Taufe oder sprachlich in den die Leser hineinziehenden Gleichnisse (52 f.); oder die Inkarnation Gottes als ultimative Immersion, die die Frage provoziert, inwiefern denn Gott selbst ein Spieler sei.
Das bleibt erst einmal offen, weil sich Birgit Recki (»Glück im Spiel?«, 63–84) anderen Aspekten des Spiels widmet. Sie erinnert nochmals an den eingangs eingespielten »anthropologischen Ma­ximalismus« bei Schiller, sofern der Spieltrieb zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermittelt und somit das Spiel philosophisch geradezu feiert (66). Anschließend geht sie auch auf die implizit bleibende Gegenseite ein, zumal Cassirer und Blumenberg »Spielverderber« seien, die entgegen der eigenen Theorieanlage das Spiel keiner eigenen Reflexion würdigten (73–76). Und auch Huizinga kommt zum Schluss zu Wort, indem an die wesentlichen Facetten seiner Begriffsarbeit – der Selbstgenügsamkeit, Wiederholbarkeit, der Bezauberung, des Agonalen, aber auch der ethischen Bedeutung des Spiels – erinnert wird.
Wiederum anders geht Jörg Dierken vor (»Darstellung – Ausdruck – Spiel«, 85–99), der das Spiel als Grenzfall (zweck)freien Handelns bei Schleiermacher thematisiert. Auch hier werden die von Schiller und Kant in die Debatte eingetragenen Muster der Verbindung zwischen Handlungen und ihren sittlichen Formen deutlich, wodurch die parallele Relation zwischen Subjekt und Gemeinschaft zum Tragen kommt. Von letzterer Beziehung zeichne Schleiermacher, so D. (97), ein zu harmonisches Bild, obgleich das darstellende Handeln und die Gemeinschaft als geradezu austauschbare Konzepte angesehen werden. Die Pointe der Ausführungen liegt darin, die Inversion des Titels zu erproben und das Spiel als Kultur zu bedenken (95).
Und nun kommen die drei Herausgeber zu Wort. Markus Firchow (»Religion als symbolisches Spiel«, 101–140) macht den Auftakt und tritt für die recht naheliegende These ein, Religion sei als symbolisches Spiel zu verstehen. Dies wird in einem etwas lang geratenen Gespräch mit Georg Simmel konkretisiert, indem jener spielerische Symbolismus als Versinnlichung des ästhetischen Verhältnisses coram Deo und des ethischen Verhaltens coram mundo in­terpretiert wird. Simmels Philosophie des Schauspielers, der Koketterie, aber auch des Rollenspiels als Spiel im Blick des anderen, dessen theologischer Grenzwert das »Auge Gottes« ist, werden heranzitiert.
Sehr viel nüchterner geht es in Christoph Seiberts Beitrag zu (»Spielräume des Handelns«, 141–166). In Aufnahme vorangehender Arbeiten widmet sich S. der Imagination als anthropologischer Grundoperation, und dies im Anschluss an den Amerikanischen Pragmatisten John Dewey. Zentral ist der pragmatistische Einspruch gegen die angeblich primäre Propositionalität des Wissens, um für die Weisen praktischen Eingewobenseins in Kontexte zu plädieren. Hier kommt das Spiel zur Geltung, das uns einen Möglichkeitssinn verleiht und die imaginativen Ideale als unsere Exis-tenzbedingung antreibt (162).
Im abschließenden Text von Christian Polke (»Spiel, Kreativität und Utopie«, 167–196) wird in einem Dreischritt argumentiert. Zunächst geht es um das Ursprungsdenken, das auch bei Huizinga durchscheint. Ob also der Ursprung der Kultur im Spiel liegt, kann jedoch nicht beantwortet werden, ohne die evolutionären, auch animalischen Wurzeln des Spielens einzubeziehen (175). So seien bereits viele Tiere auf ›unproduktive Weise kreativ‹, um spielerisch Teile der Wirklichkeit außer Kraft zu setzen und Alternativen möglicher Welten zu imaginieren. An diesem Punkt laufen zahlreiche Fäden des gesamten Bandes zusammen; und schön ist, dass gegen Ende die zuvor nur gestreifte Frage zumindest aufgenommen wird: Hatte bereits Schleiermacher »Gott als Künstler« bezeichnet, bei dem Darstellung und Sein gleichgesetzt werden dürfen – eine wunderbare These, die wohl jede divine Koketterie ausschließt, jedoch auch die göttliche Ironie? –, ist nochmals zu fragen, ob Religion als Spiel, ob Gott als Spieler dogmatisch lizen ziert sei. Doch genau hier endet leider der Text und der Band, nicht, ohne dieser theologischen Debatte eine christologische Wendung zu geben. Wir bräuchten, so P., womöglich eine spielerische Christologie, zumal Jesu Verkündigung etwas Ludisches eigne (193).
Sollte man weiter in diese Andeutungen investieren und daran festhalten, dass die Form dem Gegenstand entsprechen möge, folgt aus der Spitzenthese, Gott und sein Sohn seien Spielernaturen, die (Auf)Forderung einer spielerischen Theologie. Doch davon sind wir weit entfernt. Game over.