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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

111–113

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Heinsohn, Nina

Titel/Untertitel:

Simone Weils Konzept der attention. Religionsphilosophische und systematisch-theologische Studien.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XII, 324 S. = Religion in Philosopy and Theology, 97. Kart. EUR 79,00. ISBN 978-3-16-155415-5.

Rezensent:

Stefanie Priester

Nina Heinsohn widmet ihre Arbeit einem Schlüsselbegriff des Denkens bei Simone Weil: der attention. Die attention dient ihr dabei sowohl als »Leitbegriff der Erschließung« des Weilschen Werkes als auch als ›Instrument der Kritik∫ selbst (266). Dies vermutet H. als »typisch protestantische Schrifthermeneutik« (ebd). H. weiß sich in der evangelischen Tradition verankert, in der sie es als Desiderat ansieht, sich in systematisch-theologischer Perspektive mit der Philosophie Weils zu beschäftigen, obwohl Weil selbst sich in den späten Schriften (mit explizit religiöser Thematik) fast ausschließlich mit der katholischen Kirche auseinandersetzt. Dorothee Sölle und Erika Schweizer haben hier als Pionierinnen begonnen, was H. fortsetzen möchte.
Trotz der hohen Relevanz, die dem Konzept der attention für Weils Denken allgemein zugesprochen wird, fehle dennoch eine Gesamtschau auf Weils Lebenswerk, welche sich umfassend diesem Leitbegriff widmet. H. will aufzeigen, dass die attention nicht nur ein Thema des spirituellen Spätwerkes bei Simone Weil ist, sondern bereits ein früher philosophischer Schlüsselbegriff ihres Denkens. Der Weilschen Platon-Rezeption misst sie bei der Zusammenschau von Spät- und Frühwerk maßgebliche Bedeutung zu.
H. ordnet nun Weils Konzept der attention in aktuelle philosophisch-anthropologische Debatten ein. Besonders für die heutige bildtheologische Rezeption sieht sie darin hohe Relevanz. Reflexionen werden ebenfalls zum Verhältnis der attention zum Phänomen »Zeit« angestellt. Zudem erkennt H. im Konzept der attention als »konstitutiver Bestandteil von Beziehungsgeschehen« (10) eine hohe ethische Relevanz, welcher bisher noch nicht gebührend ge­folgt wurde. Die attention sei maßgeblich für jedwede Erkenntnisprozesse und Kommunikationsgeschehen.
H. versucht eine Gesamtinterpretation der Religionsphilosophie Weils durch die Fokussierung auf den Leitgedanken der attention, wobei sie deren Philosophie zunächst grundlegend rekonstruiert. Sie untersucht die religionsphilosophischen Schriften Weils aus den Jahren 1936–43 im Überblick, bevor sie sich intensiv den Réflexions des études scolaires en vue de l’amour de Dieu widmet. Bei der Untersuchung der späten Schriften werden ähnlich markante Begriffe für das Weilsche Denken von dem der attention abgegrenzt: attente, désir, regard, imagination, décréation stehen als ebenso starke Leitbegriffe nicht der attention gegenüber, sondern führen in je eigenem Aspekt zu ihr hin. Sie ist die »Substanz der Liebe« (216), welche zum Gebet und zur Kontemplation wird. Die Dichotomie von Aktivität und Passivität wird in der attention ebenso gebrochen wie die menschliche Spannung zwischen Verwurzelung und Loslösung. Dem Begehren (désir) wird eine konstitutive Rolle im Wahrnehmungsvorgang zugeschrieben: Stärker noch als der Wille nährt das Begehren die attention – als Aspekt des »Unverfügbaren«, ein Begriff, welchen H. religionsphilosophisch einordnet und mit Hilfe von Tillichs Kategorien der Erwartung resp. des Wartens eingrenzt.
In ihrem Aufweis der anthropologischen Relevanz der attention zeigen die Frühschriften Weils hohe Bedeutung. Im Vergleich mit Blumberg wird zum einen deutlich, dass »attention als Deutungskategorie produktiv auf religionsphilosophische Symboltheorien angewandt werden kann« (271), zum anderen tangiere Weil hier die »Grenze menschlicher Verfügungsmacht« (ebd.), da die attention selbst nicht auf alle menschlichen Lebensbereiche gelenkt werden kann. Das Vergessen, die Abwendung vom Unerträglichen oder das Verdrängen nennt H. als Beispiele für solche auch der attention unverfügbaren Gebiete. Dahingegen erkenne Weil die Tiefendimension des Unglücks als Medium für »Wirklichkeitskontakt par excellence«. Unglück und Freude – beides Wege, den Menschen näher zur Wirklichkeitserfahrung zu führen, welche hier allerdings nur durch die Einführung des Gottesgedankens in eine sinnvolle Hermeneutik gelangen. Durch ihn wird die Spannung beider Extremerfahrungen (Freude und Leid) vertieft: Die Schöpfung als »acte d’amour de Dieu«, an dessen Liebe der Mensch nur durch eigene Ent-werdung teilhaben kann? H. erkennt, dass Weil diese Spannung ( tension) nicht abbauen will, da sie ihren Leitgedanken der at-tention und der at-tente bereits auf semantischer Ebene in­newohnt. Ohne die unauflösliche Spannung der konträren Welterfahrungen kann die attention nicht greifen. Das Aushalten der innerweltlichen Spannungen, das »Warten auf das Unverfügbare« (274), sei Grundlage für die Wirksamkeit der attention. Hier findet H. religionsphilosophisch relevante Anknüpfungspunkte: Die im menschlichen Leben sowie am Kreuz Jesu erfahrene »Abwesenheit Gottes« kann nur im Abwarten ausgehalten und im Glauben ertragen werden. H. stellt einen Bezug zu Tillichs »Nicht-Haben und Haben zu gleicher Zeit« her: Das Erwartete ist dem Wartenden indisponibel. Nur die auf das Erwartete gelenkte attention stiftet Beziehung in der Abwesenheit und lässt in der Kontingenz die eigene Gottesbezogenheit begreifen. H. beschreibt hier das Ungleichgewicht von Warten und Erfüllung: Die Präsenzerfahrung Gottes ist in ihrer Punktualität nicht aufzuwerten gegen die Dauer und Dichte des Wartens.
In der Abgrenzung zum Phänomen des Wartens, der attente, erkennt H. das Proprium und die Prägnanz des Weilschen Konzepts der attention. Dies gewinnt nicht nur im Hinblick auf die künst-lerische Inspiration an Bedeutung, sondern weist die Rolle der Erwartung des Unverfügbaren für den Erkenntnisakt selbst auf. Unter Aufgriff der Waldenfeldschen Phänomenologie unterscheidet H. zwischen primärer Aufmerksamkeit, welche sich auf Bekanntes bezieht und der wegen der unleugbar möglichen Projektion eigener Wünsche eine gewisse Skepsis hinsichtlich ihrer Erkenntnisakte entgegenzubringen ist, und sekundärer Aufmerksamkeit, welche frei von verselbständigtem Denken und Routinen rein auf das unvorhergesehene Unbekannte wartet. Diese sekun-däre Form der attente – frei von jeder willentlichen Lenkung – ist zwar per definitionem nicht herbeizuführen, wird aber zur attention, welche die eigentliche Erkenntnisrelevanz in sich trägt. Da sie sich auf die allgemeine Erkenntnisfähigkeit der menschlichen Vernunft bezieht ebenso wie auf die Erkenntnis des Phänomens »Gott«, spannt H. den Bogen zur theologischen Anthropologie. In Zusammenschau von Weils Früh- und Spätwerk konstatiert sie zum einen das große »Freiheitspathos« der Weilschen Texte, zum anderen die Abhängigkeit des Menschen vom Unverfügbaren, welche der attention innewohnt. Durch den Wahrnehmungsprozess können Potentiale verwirklicht werden, die jedoch nicht intentional gestaltet werden. H. umschreibt die attention somit als Fähigkeit des Menschen, »sich immer wieder aufs Neue offen zu halten« (299) für das Mögliche, welches durch sie wahrgenommen werden kann. Der Mensch ist ihrer zugleich fähig und bedürftig.
H. gelingt in ihrer Arbeit eine feinsinnige Durchsicht des Werkes Simone Weils, wobei sie deren Konzept der attention herausarbeitet und es für die heutigen philosophischen-theologischen Diskurse aktualisiert. Dies immer mit dem Anliegen, der attention, der »selbst ein Charakter des Selbstverständlichen innewohnt« (57), mehr Aufmerksamkeit zu schenken.