Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

98–101

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Breitschwerdt, Jörg

Titel/Untertitel:

Theologisch konservativ. Studien zu Genese und Anliegen der evangelikalen Bewegung in Deutschland.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. 723 S. = Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 62. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-57076-0.

Rezensent:

Volker Spangenberg

Um die Genese und das Anliegen der evangelikalen Bewegung in Deutschland zu beleuchten, greift die eindrucksvolle Untersuchung von Jörg Breitschwerdt weit über das 20. Jh. zurück. Die Wurzeln für die Entstehung von Gruppierungen wie der Bekenntnisbewegung »Kein anderes Evangelium« oder der Ludwig-Hofacker-Vereinigung müssen – so die grundlegende These B.s – lange vor den Auseinandersetzungen um die Theologie Rudolf Bultmanns in einem sehr viel tieferliegenden kirchengeschichtlichen Zusammenhang gesucht werden. Bultmann sei nämlich »nicht zuerst im Rahmen seiner Theologie und in Abgrenzung zu anderen Theologen zu sehen, die von Evangelikalen kritisiert wurden, sondern als Teil einer theologischen Konzeption, die seit der Zeit des Rationalismus die Theologie zunehmend bestimmte« (17). Diese »Konzeption«, mithin also die »Ausbildung und Etablierung der historisch-kritischen Methode« (18) bei Semler, Reimarus und Lessing, und in ihrem Gefolge so unterschiedliche theologische Strömungen des 19. Jh.s, wie sie sich mit den Namen von David Friedrich Strauß und Albrecht Ritschl verbinden, bis hin zur Theologie Bultmanns und seiner Schüler fasst B. unter dem »in den Quellen begegnende[n]« (16) Schlagwort »moderne Theologie« zusammen. Dabei ist sich B. der Angreifbarkeit dieses pauschalen Sammelbegriffs völlig bewusst; er verwendet ihn darum durchgängig in An­führungszeichen.
Für die Gegner der »modernen Theologie« im 19. und 20. Jh. wiederum wählt B. den Begriff »theologisch konservativ«. Bezeichnungen wie »Pietisten«, »Fundamentalisten«, »Neopietisten« und die aus den USA stammende, in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s übernommene Bezeichnung »evangelikal« scheinen ihm ungeeignet, um die keineswegs homogenen »gegnerischen« Gruppierungen zu inkludieren. Eine Definition für das zunächst wenig aufschlussreiche »konservativ« findet sich erst am Schluss des Buches. Das ist einerseits verständlich, weil der Begriff seine Be­stimmung und Tragfähigkeit letztlich erst nach Sammlung und Analyse der Quellen erweisen soll. Es ist andererseits aber auch beschwerlich, da er in der Untersuchung schon von Anfang an verwendet wird. Seinen Konservativismusbegriff, der nicht mit Rückständigkeit oder Fortschrittsfeindlichkeit verwechselt werden darf, entlehnt B. der Geschichtswissenschaft und beruft sich dabei auf Autoren wie Valjavec, Epstein und Kondylis. Demnach handelt es sich beim Konservativismus um eine sich bereits in der »Auseinandersetzung mit der Aufklärung« entwickelnde »Denkbewegung der Moderne, die versuchte, aufgrund der Herausforderung durch das ›moderne Denken‹ althergebrachte Gedanken und Werte mit philosophischen Mitteln der Moderne zu bewahren und aktiv zu verteidigen« (647). Dabei ist sie »im Gegensatz zu einem mehr theoretisch-abstrakten Denken der Aufklärung […] eher einem geschichtlich-konkreten Denken verpflichtet« (648). B. hält diesen Begriff kirchengeschichtlich insofern für anschlussfähig, als sich mit ihm die Gegner der »modernen Theologie« des 19. und 20. Jh.s in ihrer Vielgestaltigkeit von Erweckungsbewegung, konfessionellem Luthertum, Gemeinschaftsbewegung und schließlich evangelikaler Bewegung als eine insgesamt ähnlich argumentierende Größe und damit als ein Gegenüber zur besagten »modernen Theologie« erfassen lassen. Dabei liegt »das theologische Band« (635), das die unterschiedlichen Akteure und Gruppen der »theologisch Konservativen« bei allen Differenzierungen und Diskontinuitäten eint, nach B. letztlich in dem Kampf für »das Bekenntnis zu den sogenannten ›Heilstatsachen‹ als geschichtliche Ereignisse in Raum und Zeit, die insbesondere im zweiten Artikel des Apostolikums benannt wurden« (645) und die »in der göttlich inspirierten Heiligen Schrift als Gottes Offenbarung extra nos« niedergeschrieben sind (654). Dies in seiner historischen Entwicklung und in seinem theologischen Profil zumindest paradigmatisch zu zeigen, ist Ge­genstand der Untersuchung.
Eingeleitet wird sie in der Art eines kleinen Kompendiums mit einer Darstellung des protestantischen Schriftprinzips in der Auseinandersetzung Luthers mit Erasmus, seiner Fortentwicklung in Orthodoxie und Pietismus und seiner beispielhaft an Semler und Lessing erläuterten »Krise« bzw. »Transformation« durch die »Un­terscheidung von ›Wort Gottes‹ und ›Heiliger Schrift‹ sowie die Bestreitung der Relevanz der Geschichte für den christlichen Glauben« (60). Damit kann nach B. »der hermeneutische Rahmen deutlich werden […], in dem sich die späteren Diskussionen – zumindest implizit – bewegen« (37).
Diese Diskussionen bzw. Auseinandersetzungen im 19. und im 20. Jh. bilden dann die beiden großen Hauptteile der Untersuchung (81–353 und 355–633). Dabei richtet sich der Fokus beispielhaft auf die Regionen Württemberg und Westfalen, wo die »Bildung theologisch konservativer Netzwerke« vorangetrieben wurde und die als »Zentren […] der sich in den 1960er Jahren […] entwickelnden Evangelikalen Bewegung« gelten können (22). Akribisch und zumeist mit ausführlicher Wiedergabe zahlreicher auch bislang unerschlossener Quellen im Text und in den Anmerkungen werden zunächst die »theologisch konservativen« Reaktionen in der ersten Hälfte des 19. und um die Wende zum 20. Jh. zusammengetragen und analysiert. Hierbei stehen die Auseinandersetzungen um David Friedrich Strauß’ »Leben Jesu« in Württemberg, Karl Schraders Schrift »Der Antipietist« in Westfalen und der Konflikt um den Apostolikumstreit (1892) in Württemberg, im Rheinland und in Westfalen mit ihren Auswirkungen auf die Evangelisch-Theologischen Fakultäten der Universitäten Tübingen und Bonn im Zentrum. Ein zweiter Hauptteil der Untersuchung widmet sich ebenso akribisch wie der erste den »theologisch-konservativen« Reaktionen auf das Entmythologisierungsprogramm Bultmanns, das in dessen Alpirsbacher Vortrag 1941 vorgestellt wurde. Ihnen wird zunächst durch eine Darstellung der Auseinandersetzungen in Württemberg nachgegangen, die zur Bildung der »Evangelisch-kirchlichen Arbeitsgemeinschaft für biblisches Christentum« – ab 1963 »Ludwig-Hofacker-Vereinigung« – als »Sammelbecken des Württembergischen Pietismus seit 1965« (498) führte. Daran schließen sich die westfälischen Reaktionen an mit der Konstituierung des sogenannten Bethelkreises, der Ahldener Bruderschaft um Heinrich Kemner, der Ravensberger Bruderschaft um August Spreen und schließlich der »Bekenntnisbewegung ›Kein anderes Evangelium‹«. Deren Großkundgebung in der Dortmunder Westfalenhalle im März 1966 und der »Düsseldorfer Erklärung« von 1967, die »zu einem Grundlagendokument der sich dann in den 1970er Jahren ausbildenden Parallelstrukturen wurde« (626), stehen am Ende der Studien.
Der Ertrag der Untersuchung liegt zweifellos zunächst in der eine enorme Forschungsarbeit dokumentierenden Sammlung und Darstellung des umfangreichen Quellenmaterials, die zahlreiche bisher nicht bekannte Archivalien und auch Zeitzeugenbefragungen einschließt. Dass es bei der Lektüre der ausgiebig zitierten und sich dabei stereotyp wiederholenden »konservativ-theologischen« Argumente zu einer Ermüdung kommt, ist B. nicht anzulasten. Es mag ihm vielmehr als Beleg für seine These einer »konservativ-theologischen« Gemeinsamkeit der evangelikalen Bewegung und ihrer Vorläufer-Netzwerke dienen. Ob und inwieweit allerdings B. bei seinem Bestreben, die theologischen »Argumentationsmuster der evangelikalen Akteure […] ohne darin untransparent eingetragene Wertung darzustellen« (28), mit seiner Rekonstruktion eines wurzelhaft weit zurückreichenden »theologischen Konservativismus« wirklich überzeugen kann, wird sicherlich erst die notwendige und von B. selbst benannte Entgrenzung seiner Untersuchung erweisen können. Dazu wäre durch weitere Studien zu belegen, dass »sich auch in anderen Regionen Deutschlands oder des europäischen Auslands aus ähnlichen Gründen schon im 19. Jahrhundert konservative Netzwerke gründeten, die theologisch ähnlich argumentierten wie die […] dargestellten Gruppierungen in Württemberg und Westfalen« (654). Zudem wird in der vorliegenden Untersuchung ein landeskirchlicher und partiell ein landeskirchlich-gemeinschaftlicher Teil der evangelikalen Bewegung erfasst, der durch Studien zu den theologischen Wurzeln anderer Teile, wie denen aus dem Freikirchentum und von charismatischen Gruppierungen, zu ergänzen wäre. Zu diskutieren bleibt in jedem Fall die Feststellung B.s, dass die beiden von ihm namhaft gemachten Gruppen der theologisch »Modernen« und »Konservativen« in ihren Auseinandersetzungen im 19. und 20. Jh. die »unterschiedliche Füllung der Begriffe im Wortfeld der ›Heilstatsachen‹ […] nie wirklich […] diskutiert« haben, »so dass es letztlich auch nicht zu einer befriedigenden und damit weiterführenden Debatte um die Verhältnisbestimmung zwischen Geschichte und Glaube gekommen ist« (642).