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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

94–96

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Steiger, Johann Anselm [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Reformation heute. Bd. IV: Re­formation und Medien. Zu den intermedialen Wirkungen der Reformation.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 332 S. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-05360-5.

Rezensent:

Reinhard Schmidt-Rost

Dieser Sammelband dokumentiert eine Tagung (September 2016) des Hamburger Graduiertenkollegs Interkonfessionalität in der Frühen Neuzeit, zugleich vierter Teil einer fünfteiligen Tagungsreihe Reformation heute, die »an herausragenden Gedächtnisor-ten der Reformation« (5) zwischen 2013 und 2017 stattfand. Ziel der Hamburger Konferenz aus den »Bereichen der historischen und systematischen Theologie, der Geschichtswissenschaft, der Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte sowie der Medienwissenschaft« war es, »die reformatorischen Bewegungen des 16. Jh.s als mediale Ereignisse zu würdigen.« (5) Die Sammlung geht insofern über den Wortlaut (hingegen nicht über den Wortsinn) dieser Absichtserklärung hinaus, als mehrere Beiträge die Folgen der reformatorischen Bewegung(en) bis in die Gegenwart ins Auge fassen: Margit Kern, Bilder der christlichen Konfessionen in der Reise- und Pressefotografie der Agentur Magnum; Bernd Blöbaum, Twitter und Tatort, Krisen und Kampagnen. Dies ist sachgemäß, denn die Reformation des 16. Jh.s hat Öffentlichkeit und Publizistik bis in die Gegenwart beeinflusst.
Der Band beeindruckt vor allem durch besondere Fundstücke und deren kundige Interpretation; Unbekanntes wird dem Vergessen entrissen, Bekanntes neu beleuchtet, man lese die Beiträge von:
Seraina Plotke, Pamphilus Gengenbach und die Druckerstadt Basel; Johann Anselm Steiger, Augsburger Interim, Jüngstes Gericht und Höllensturz. Ein Lübecker Gemälde der Reformationszeit (1557) im Kontext; Bernhard Jahn, Wie der reiche Mann (Lk 16) zu seinem Geld kam. Protestantisches Schultheater als Medium der Kapitalismuskritik; Jeffrey Chipps Smith, Peter Dell the Elder’s Experiments in Early Lutheran Sculpture; Jürgen Sarnowsky, Die mediale Rezeption der Lollarden im England des 16. Jahrhunderts; Ivana Rentsch, Lu- ther-Lieder in katholischen Gefilden. Die mediale Wirkmacht des Gesangbuchs und die konfessionellen Anforderungen an Musik; Laura Balbiani, Interme-dialität und die politisch-konfessionelle Propaganda im Dreißigjährigen Krieg. Ein Fallbeispiel aus der Rezeption von Tommaso Campanella; Marc Föcking, Meditation, Medialität, Medien. Bild und Text in der katholischen Meditation des italienischen 16. und 17. Jahrhunderts (Vincenzo Bruno SJ, Angelo Grillo OSB, Giovanni Valentini); Elena Tolstichin, Mose mit den Gesetzestafeln als Legitimationsurkunde der Linienkünste. Lektüre einer Druckgrafik von Hendrick Goltzius; und Luisa Coscarelli, Die christliche Gebetskette als Medium konfessioneller Markierung? Überlegungen zu den Porträts der Eheleute Martin und Anna Chemnitz von Ludger tom Ring d. J. (1569).
Arbeiten über Medienthemen müssen selbstverständlich einen je eigenen Medienbegriff voraussetzen bzw. entfalten, dies geschieht zumeist an den Gegenständen, die bearbeitet werden. Das Resultat geht bei Fallbeispielen fast unvermeidlich kaum über ein Verständnis von Medium als instrumentum hinaus (vgl. dazu Stoellger, 57).
Der beachtliche Strauß von Phänomenen zum Thema »Die Re­formation und die Medien« ruft nach umfassenden Deutungen. Diese liefern die beiden einleitenden Aufsätze auf jeweils markant unterschiedliche Weise:
Valeska von Rosen (seit 2018 Professorin für Kunstgeschichte in Düsseldorf) erweitert das Spektrum der Phänomene in ganz grundsätzlicher Hinsicht; sie beantwortet die Titelfrage ihres Beitrags: »Gibt es ›das reformatorische Bild‹?« mit dem Untertitel »Zur Re-vision essentialistischer und dichotomer Medienvorstellungen in der deutschen und niederländischen Reformation«; sie erläutert nicht nur die These der Hamburger Jubiläums-Ausstellung von 1983 »Luther und die Folgen für die Kunst«, die gezeigt hatte, »dass bei allem Interesse der Reformatoren an der Sprache und dem Wort den visuellen Medien durchaus ein wichtiger Stellenwert bei der Vermittlung der neuen Glaubensinhalte zugesprochen wurde« (9), sondern sie illustriert diesen Sachverhalt auch mit reichem Bildmaterial und dies nicht nur aus dem Bereich der lutherischen Re­formation in Deutschland, sondern auch aus der niederländischen Reformation. Sie widerlegt damit – und dies ist eine gewichtige Hauptthese der Autorin – das Vorurteil, als ob die Produktion religiöser und »eben auch neutestamentlicher Darstellungen ausschließlich auf die katholische Minderheit im Land ausgerichtet war, wie dies über viele Jahrzehnte in der Forschung implizit und explizit insinuiert wurde« (24). Sie setzt damit einen gewichtigen ökumenischen Akzent.
Dass eine so vielfältige Sammlung auf einen grundsätzlichen theoretischen Beitrag zu Medien, zur Medialität und zum spezi-fischen Beitrag der Reformation als theologisch gegründeter Me­dien-Bewegung nicht verzichten kann, versteht sich von selbst. Ihn leistet Philipp Stoellger (seit 2015 Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie in Heidelberg) mit seiner Abhandlung »Reformation als Reformatierung der Medialität im Namen der Gottunmittelbarkeit«. Hier kann nur weniges aus dieser an­spruchsvollen Medientheorie hervorgehoben werden
»Medium wird hier verstanden als eine Wahrnehmungsform, die Lebensform sein oder werden kann. Es ist das, worin, wodurch und womit wir ›wahrnehmen‹, sprechen, denken – und das uns so sehen lässt und sehen macht, wie wir dann sehen. Daher sind Medien auch so eminent deutungsmächtig: Sie lassen und machen uns auf bestimmte Weise sehen (denken, sprechen, handeln, fühlen).« (39 f.)
Dieses Medienverständnis, das auf der Wahrnehmungs- und Medientheorie von Fritz Heider (von 1926) basiert, erweist Stoellger als sehr viel fruchtbarer für die Deutung geistiger Prozesse als die viel zitierte Medientheorie von Marshall McLuhan, die Medien als Körperextensionen des Individuums auffasst und damit der Gleichsetzung von medium als instrumentum folgt. Bereits die An­wendung der »Reformatierung der Wahrnehmungsform« auf die Erkenntnisse der Reformation ist überaus aufschlussreich, um nur weniges zu nennen: »Die Gotteswahrnehmung (solus christus) wird reformatiert als allein soteriologisch potent, als soteriologische Allmacht (nicht als logische Allmacht), die Selbstwahrnehmung als soteriologisch impotent: der Mensch als Sünder ist mors et cadaver, die Gnade als Gabe, nicht als Tausch, das Evangelium nicht als anderes Gesetz, sondern als Anderes des Gesetzes …« (41). Stoellgers Conclusio stellt eine Herausforderung nicht nur für die anderen Teilnehmer an dieser Tagung dar. An seinen Gedanken werden sich die Gesprächspartner der verschiedenen Disziplinen mit Gewinn abarbeiten können:
»Zwischen Gotteswerk und Menschenwerk wirkt das Medienwerk. Die unfruchtbare Dualisierung von Gotteswort und Menschenwort, von Gottes Werk und Menschenwerk, wird durch die Figur des Dritten, das Medienwerk entdualisiert. Nur müsste dann zugestanden werden, dass die Medien eine legitime (wenn auch riskante) Eigendynamik haben. Nicht nur das Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken – der Wein auch. Solche Eigendynamik wird im Blick auf Christus schnell anerkannt. Aber gilt das nicht weniger für seine supplementären Medien wie Wort, Werk, Bild, Körper, Musik? Etwas entzaubert formuliert: man wird sich auf die Eigendynamik analoger Medien verlassen müssen, wenn tatsächlich Verkündigung zur Gegenwart des Verkündigten soll werden können; oder Abendmahl oder gute Werke und Lebensform.« (57 f.)
Bezeichnend für einen Band über die Reformation und die Medien – mit DFG-Förderung – ist, dass ein Viertel der Seiten (80 von 320) mit Abbildungen gefüllt, über Predigten und Katechismen aber praktisch nichts zu finden ist. Dass die ältere, neuere und neueste Literatur zur Allgemeinen wie zur Christlichen Publizistik nahezu unerwähnt bleibt, mag den fachkundigen Leser beschweren. Im­merhin erwähnt Stoellger Jochen Hörisch und Niklas Luhmann und stützt sich sozialwissenschaftlich auf Fritz Heider. Dieser Mangel wird in gewisser Weise durch die Vielfalt der Einzelstudien und ihr reiches Informationsangebot aufgewogen. Gerade deshalb aber hätte man sich ein Autorenregister gewünscht, das die interdisziplinäre Diskussion fördern würde. Die ersten drei Bänden der Tagungsreihe Reformation heute verfügen über dieses gesprächseröffnende Hilfsmittel.
Nach einem solchen Kaleidoskop von Eindrücken muss es nicht überraschen, dass es der Herausgeber bei einem kurzen Vorwort belässt. Sein eigener Beitrag ist wie die meisten anderen eine aufschlussreiche historische Einzelstudie, die im Übrigen mit ihren Abbildungen einen modernen Trend der Massenmedien aufnimmt: Bewegen durch Erschrecken.