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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

91–94

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Schuster, Susanne

Titel/Untertitel:

Dialogschriften der frühen Reformationszeit. Literarische Fortführung der Disputation und Resonanzräume reformatorischen Denkens.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 297 S. m. Abb. = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 118. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-57133-0.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Zu den signifikanten Verlautbarungsformen der frühen, bis in die Mitte der 1520er Jahre reichenden Phase der Reformation zählt vornehmlich auch eine reichhaltige Flugschriftenproduktion. Als eine Sonderform der Gattung firmieren die quantitativ begrenzten, aber kommunikationsstrategisch besonders interessanten Dialogflugschriften, in denen zumeist altgläubige Kleriker von selbstbewusst auftretenden, reformatorisch gesinnten Laien über die freigelegte Wahrheit des Evangeliums belehrt werden. Diese Textsorte, die bislang überwiegend literaturgeschichtliches Interesse ge­weckt hatte, wurde nun von Susanne Schuster erstmals einer kirchenhistorischen Analyse und Auswertung in monographischem Format unterzogen. Mit der Selbsteinschätzung, durch ihre Studie »konnte das Wissen um den reformatorischen Kommunikationsprozess um einige Facetten bereichert werden« (201), hat S. die Bedeutung ihrer Habilitationsschrift präzise umrissen.
Nach der »Einleitung« (13–15), die zentrale Aspekte der Studie präludiert, bietet das erste Kapitel (17–38) einen sehr ausführlichen, in behutsamer Klarheit urteilenden Überblick zur Forschungsgeschichte sowie eine kriteriologisch abgesicherte Klärung der Gattungsgrenzen.
Mit dem zweiten Kapitel (39–50) sucht S. die im Untertitel der Arbeit annoncierte These zu plausibilisieren, die von ihr untersuchten »Gesprächsbüchlein« hätten das reformatorische Disputationswesen, dem seit der Leipziger Disputation von 1519 ein zusehends öffentlicher Charakter zukomme, auf literarischer Ebene umgestaltend fortgeschrieben, ohne dabei die gattungsspezifischen Differenzen zwischen akademischer Disputation und volkssprachlichem, auf theologische Elementarisierung und individuelle Entscheidung zielendem Dialog zu verwischen. Im Übrigen ist für die Dialogschriften, anders als für die Disputationen, die textuelle Fiktionalität konstitutiv: Sie erlaubt weder irgendwelche »Rückschlüsse auf historische Ereignisse« (49) noch eine Identifikation von Gesprächsakteuren und Autoren. Vielmehr wurden mit Texten dieser Art »den Lesern modellhafte Argumentationsstrategien zur Verfügung gestellt« (48).
Besonders erhellend ist die formale Beschreibung des visitierten Textkorpus (Kapitel III: 51–66), das etwa 70 oft mehrfach gedruckte Dialoge umfasst und an 28 zumeist im Süden und Südwesten des Reiches gelegenen Verlagsorten, allen voran Augsburg, Nürnberg und Basel, gedruckt wurde. Der Umfang der untersuchten »Ge­sprächsbüchlein« variiert zwischen sieben und mehreren Dutzend Druckseiten. Die Produktion setzte 1521 ein, erlebte 1524 ihren Höhepunkt und erlosch bald danach vollständig. Etwa die Hälfte der Texte kam anonym oder pseudonym auf den Markt, die andere Hälfte wurde vorwiegend von studierten, in humanistische Netzwerke eingebundenen Autoren verfasst, teilweise aber auch von Richtern, Druckern, Literaten und anderen Vertretern der stadtgesellschaftlichen Elite. Adressiert waren die Dialogschriften durchweg an den »gemeinen Mann«, der in den diskursdominierend dargestellten Handwerkern und Bauern prototypische Identifikationsfiguren und in den Orten der Handlung, die nicht selten auf offener Straße oder in Wirtshäusern spielt, lebensweltlich vertraute Umgebungen vorfand.
Regestenartig und in chronologischer Ordnung porträtiert Kapitel IV (67–105) mit 32 Texten knapp die Hälfte der einschlägigen Dokumente. Diese exemplarische, differenzierte, nützliche Bestandsaufnahme, die den Forschungsgegenstand anschaulich vergegenwärtigt, hätte sich mit einem Aufweis der Kriterien, von denen die getroffene Auswahl bestimmt ist, durchaus verbinden lassen.
Indem S. daraufhin »theologische und zeitgeschichtliche Brennpunkte der Reformationsdialoge« (Kapitel V: 107–177) herausarbeitet, markiert sie nicht nur formal, sondern auch hinsichtlich ihrer analytischen Deutungskompetenz das Zentrum der Untersuchung. Dabei werden die wichtigsten Themen jeweils zunächst umrissen und daraufhin mit trefflich ausgesuchten, eingehend präsentierten Beispielen illustriert. Hinsichtlich der in Luthers Adelsschrift (1520) grundlegend vollzogenen Revokation der Unterscheidung von Priestern und Laien herrscht in den Dialogschriften der Eindruck vor, »es sei weniger wichtig, das allgemeine Priestertum noch einmal zu begründen, als es in Anspruch zu nehmen« (111). Dergestalt verweisen die laikalen Gesprächsführer schlicht auf die einschlägigen, auch von Luther herangezogenen Bibelstellen, begegnen dabei ihren klerikalen Dialogpartnern »auf Augenhöhe« (111) und agieren selbstbewusst als legitime Verkündiger des Evangeliums, beanspruchen für sich aber bezeichnenderweise niemals die Verwaltung der Sakramente. Als argumentatives Fundament kommen ausschließlich die Heilige Schrift sowie Vernunftgründe in Betracht, und es ist vergnüglich zu sehen, wie der »ge­meine Mann« den altgläubigen Kleriker, der mit ihm disputiert, an solider Bibelkenntnis weit übertrifft. Hinsichtlich einer »im Licht des Evangeliums« (134) konzipierten Lebensgestaltung dominiert die Kritik an der Raffgier kirchlicher Institutionen: Die von ihnen erpressten geldlichen Abgaben sollen verweigert und stattdessen den Bildungsaufgaben sowie der Sozialfürsorge, allem zuvor der Installierung eines gemeinen Kastens sowie der Abschaffung des Bettelwesens, zugutekommen. Nicht zuletzt wegen der damit verbundenen Tariflast drängen die schlichten, aber klugen Dialogführer auch darauf, das Beichtwesen zu entsakramentalisieren (vgl. 145), und lehnen den Ablass, die Heiligenverehrung, das als verdienstlich geltende Wallfahrtswesen oder das Mönchtum als unbiblisch ab.
Auf diese Kritik reagieren die altgläubigen Geprächspartner un­terschiedlich: Manche Klosterbrüder verharren trotzig in ihrem Status, andere beenden umgehend ihre monastische Existenz, und wieder andere suchen ihr Klosterleben in evangelischer, die iustificatio sola fide realisierender Weise neu zu gestalten (vgl. 138–140). Außerdem rekurrieren die »Gesprächsbüchlein« auch auf historische Brennpunkte wie Lu­thers Auftritt vor dem Wormser Reichstag (1521), der ihn als einen standfesten, jedem Ketzerverdacht enthobenen Bibelgläubigen erwiesen habe, dessen Haltung »als konsequente Leidensnachfolge Christi interpretiert« (161) wird. Und der Nürnberger Reichstag von 1524, der auf die konsequente Befolgung des Wormser Edikts drängte, veranlasst die gesprächsführenden Laien zu massiver Kritik am Klerus, ja sogar zur Popularisierung des von Luther vorgetragenen Verdikts, der Papst sei der Antichrist (vgl. 162). Schließlich dokumentieren die Dialogschriften auch eine »Binnendifferenzierung im evangelischen Lager« (170), indem etwa Thomas Müntzer diskussionslos diffamiert wird oder der Dialogautor Andreas Karlstadt seine Luther widersprechende Abendmahlsauffassung zu propagieren versucht.
Im letzten sachhaltigen Kapitel deutet S. zwei »Transformationen der reformatorischen Dialogflugschriften« (179–196) an. Deren eine sieht sie in den späten katechetischen »Gesprächsbüchlein« realisiert, die den Lesern nun nicht mehr reformatorische Identifi-kationsangebote zu unterbreiten, sondern ihnen »grundlegen-des Glaubenswissen« im »traditionellen Lehrer-Schüler-Gespräch« (179) zu vermitteln trachten. Die andere Umformung besteht er­staunlicherweise darin, dass um 1525 zumindest neun Dialogschriften nachweisbar sind, in denen sich altgläubige Autoren das genuin reformatorische Publikationsformat zu eigen machen, um ihrerseits, teils in lateinischer Sprache, »kommunikative Strategien für Geistliche im Umgang mit Sympathisanten der reformatorischen Bewegung oder durch die reformatorische Bewegung Verunsicherten bereitzustellen« (196). Ein bündiges »Fazit« (197–201) fasst die Ergebnisse der Untersuchung noch einmal zusammen.
Die Studie wird durch einen umfangreichen »Anhang« (203–277) bereichert. Er bietet etliche Diagramme zum chronologischen, lokalen und personellen Profil der Subgattung, ferner 17 in ihrer Auswahl leider nicht begründete Titelblätter von Dialogschriften, dazu die interpretatorisch nicht ausgewertete Synopse eines in drei erheblich variierenden Drucken überlieferten Dialogs und ein chronologisch geordnetes »Repertorium der reformatorischen Dialogflugschriften« (252–277).
Damit hat S. eine insgesamt solide kirchenhistorische Aufarbeitung des von ihr inspizierten Quellenkorpus erstellt. Dass dabei die zentralen Thesen und Einsichten vielfach wiederholt werden, ließe sich als mnemotechnische Hilfe für ermattete Leser auch positiv deuten. Als irritierend mag man in einer kirchengeschichtlichen Habilitationsschrift empfinden, dass der Summa theologiae des Thomas von Aquin eine »dialogische Form« (17) bescheinigt, der Beginn der Wittenberger Reformation als »humanistische Universitätsreform« (41) gekennzeichnet oder begründungsfrei deklariert wird, Luther habe »keine Schriftlehre entwickelt, die in sich ge­schlossen wäre« (125).
Dessen unbeschadet ist dieser durch ein Personenregister angereicherten Studie zu attestieren, dass sie tatsächlich, um S.s eingangs zitierte Selbsteinschätzung zu verifizieren, einige interessante Facetten des reformatorischen Kommunikationsprozesses sorgsam aufgearbeitet und dergestalt die interdisziplinäre frühneuzeitliche Forschungsarbeit spürbar befördert hat.