Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

88–91

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kupsch, Alexander

Titel/Untertitel:

Martin Luthers Gebrauch der Heiligen Schrift. Untersuchungen zur Schriftautorität in Gottesdienst und gesellschaftlicher Öffentlichkeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. XIV, 443 S. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 77. Lw. EUR 119,00. ISBN 978-3-16-157575-4.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Wenn es denn einer Bestätigung dessen bedürfte, dass die Theologie Martin Luthers auch nach der das Jubeljahr 2017 umspülenden Literaturflut noch nicht ausgeforscht ist, so böte die vorliegende Untersuchung hierfür den besten Beweis. Sie gewinnt einem in­tensiv traktierten Gegenstand wichtige neue Seiten ab und markiert – gleichermaßen in historischer und systematischer Perspektive – einen magistralen Forschungsfortschritt. Die von Christoph Schwöbel betreute Tübinger Arbeit von Alexander Kupsch wurde im Wintersemester 2017/18 als Dissertation angenommen und ist für den Druck nur geringfügig überarbeitet worden.
Als wäre ihm der stattliche Umfang der Untersuchung seinerseits nicht geheuer, gibt K. im Vorwort einige »leserfreundliche Hinweise zur Navigation«, die einer fragmentarischen Rezeption den Weg bahnen wollen, und benennt freimütig diejenigen Ab­schnitte, die er »für besonders beachtenswert« (VII) hält. Tatsächlich begünstigen das feingliedrige Inhaltsverzeichnis (IX–XIV) und drei detaillierte Register einen punktuell verkürzten Zugriff erheblich. Gleichwohl betröge sich, wer nur Teile zur Kenntnis nimmt, um den im großen Ganzen bereitstehenden Erkenntnis- und Re­-flexionsgewinn.
Der erste, zur »Einführung« (1–36) dienende Teil macht mit der Absicht der Untersuchung vertraut: Ausgehend von der neuzeitlichen »Krise des Schriftprinzips« (W. Pannenberg) will sie den bei Luther zu lozierenden Ursprungsort des evangelischen Schriftprinzips rekonstruieren, dies freilich nicht in abermaliger Systematisierung seiner theoretischen Schriftlehre, sondern, weithin erstmalig, im diskursiven Nachvollzug seines faktischen Schriftgebrauchs. Zusätzliche Sensibilisierung gewinnt K. durch die kritische Aufnahme von Impulsen der Religionswissenschaft sowie der zumal im angelsächsischen Raum entwickelten postliberalen Theologie. Der urteilssicher pointierende Forschungsüberblick (vgl. 18–33) profiliert auf eindrucksvolle Weise die Leerstelle, welche die vorliegende Untersuchung zu füllen verspricht.
Als einen wesentlichen ›Sitz im Leben‹ analysiert K. »Luthers Schriftgebrauch im Gottesdienst« (Teil II: 37–234). Dabei gibt bereits die von Luther konzipierte Lesung der Bibel wichtige Einsichten frei. So hat er die liturgische Rezitation der Schrift dadurch grundlegend reformiert, dass er sie einerseits prinzipiell, wenn auch nicht ausnahmslos in volkssprachlicher Gestalt und andererseits in der Ausrichtung des Lektors zur Gemeinde hin abzuhalten empfiehlt. Sinnenfällig unterstreicht er damit den kommunikativen Charakter des Vorgangs, der die Schriftlesung als Gottes Anrede an die Gemeinde ausweist und sie zugleich auf ihre predigende Auslegung drängen lässt. Dergestalt hebt Luther »die < /span>verständige Aufnahme des Wortes Gottes« als das »Ziel des Gottesdienstes« (47) hervor.
Besonders erhellend sind darüber hinaus die von K. eruierten Umstände der privatreligiösen Bibellektüre. Natürlich weiß er, dass die Heilige Schrift zu Luthers Lebzeiten ein sehr kostspieliges Buch war und darum zumeist nur in ihrem katechetischen Extrakt rezipiert werden konnte. Zugleich führt er aber auch eindrücklich vor Augen, dass für Luther »gerade der einfache Mann zum Zielpublikum seiner Bibelübersetzung gehört« (70). Da jedoch die Lesung der Schrift nach evangelischem Verständnis notwendig zur Ausle gung dränge, habe Luther seine Biblia deudsch mit zahlreichen Illustrationen, Vorreden, erläuternden Randglossen und der graphischen Hervorhebung von Kernstellen versehen, um eine gezielte Leserqualifizierung und Leserlenkung ins Werk zu setzen. Damit wollte Luther, wie K. feinsinnig herausarbeitet, die privaten Rezipienten nicht bevormunden, sondern aufklären und also in funktionaler Analogie zur gottesdienstlichen Predigt die Möglichkeit schaffen, dass sie »sich in eigener Auseinandersetzung mit dem Text ein Urteil zu bilden« (87) vermögen.
Von zentraler Bedeutung erscheint K.’ Analyse des von Luther in der Predigt geübten Bibelgebrauchs. Um hier zu tiefenscharf exakten Einsichten zu gelangen, konzentriert er sich auf die aus dem Kirchenjahr 1528/29 überlieferten Kanzelreden. In formaler Hinsicht begegnen dabei homilieartige und thematisch orientierte Schriftauslegungen in Reinkultur, aber auch in allen denkbaren Mischformen, die darin übereinkommen, dass Luther seinen Kanzelvortrag jeweils auf ein einziges Predigtanliegen zuspitzt. An­hand zahlreicher Beispiele führt K. plastisch vor Augen, wie Luther seine Darlegung immer wieder in direkte Christusrede umschlagen und dergestalt Christus »als Exeget seiner eigenen Worte« (113) erscheinen lässt. Nicht minder erhellend sind die Darlegungen zum Verhältnis von geschriebenem und gepredigtem Gotteswort sowie die rhetorische Analyse der von Luther auf der Kanzel gezielt ei ngesetzten Dialogformen oder der exemplarisch gebrauchten, den Hörern einen eigenen Sprachraum eröffnenden Ich-Rede. Kaum überzeugend erscheint demgegenüber die doch wohl allzu kühne, theologisch ungedeckte Behauptung, Luther habe besonders prägnante biblische Sprüche, die Trost und Vergebung zusprechen, »deutlich […] in die Reihe der Sakramente« (152) eingerückt.
Durchweg sachhaltig, wenngleich etwas breit geraten sind die Ausführungen zu Luthers Schriftgebrauch im Abendmahl. Hellsichtig zeigt K. dabei auf, wie der Reformator die Einsetzungsworte »schrittweise« aus dem um Zusätze erweiterten Bestand des römischen Messkanons in die Gestalt ihres biblischen Wortlauts zurückführte (158). Da er Gott nicht als Adressaten, sondern als handelndes Subjekt der Messfeier ansah, bestand er darauf, dass die Einsetzungsworte laut und öffentlich vorgetragen würden und damit »als Christi eigene Anrede an die Hörer zu begreifen sind« (167). Behutsam, aber schlüssig macht K. auf das Problem aufmerksam, das sich in Luthers Deutung der Einsetzungsworte aus dem Zusammenfluss von Gebot und Verheißung ergibt (vgl. 213–217).
Der dritte Hauptteil widmet sich »Luthers Schriftgebrauch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit« (235–350), für den K. drei Grundformen unterscheidet. Als »Laienbibel« zielte der Katechismus auf das breiteste Forum. Sorgfältig ergründet K. die von Luther der »katechetische[n] Ethosbildung« (243–279) zugewiesene theologische Funktion, die Bibel zu repräsentieren, zu elementarisieren und als Konzentrat ihrer Mitte zusammenzufassen (vgl. 245 f), und dies nicht etwa, um die Heilige Schrift zu ersetzen, sondern um den Zugang zu ihr zu vermitteln. Sehr ausführlich wird diese subsidiäre Bedeutung des Katechismus am Beispiel der Dekalogauslegung vorgeführt (vgl. 253–276). Die Schieflage, in die sich K. zu begeben droht, wenn er dem Katechismus Luthers einen usus elenchticus, einen usus civilis und – nicht dem Wortlaut, aber dem Sinne nach – einen die Glaubenden voranbringenden tertius usus zuweist (vgl. 255 f.), hätte durch die Betonung der unaufhebbar darin waltenden Dialektik entschärft werden können.
Um Luthers problemorientiertem Bibelgebrauch (279–307), den dieser meist reaktiv anwandte, auf die Spur zu kommen, entscheidet sich K. sinnvollerweise für eine einzige Schrift, die er, in methodischer Analogie zu einer vorliegenden Studie, exakt analysiert. Dabei erfasst und interpretiert er die Funktion sämtlicher biblischer Zitate und Anspielungen, die in dem Traktat Von Kaufhandlung und Wucher (1524) aufweisbar sind. Trotz der Fülle an biblischen Referenztexten kommt Luther, wie K. deutlich vorführt, in seinem grundlegenden Argumentationsgang »mit wenigen, aber entscheidenden Schriftbelegen aus« (292). Auch tritt seine biblische Zitationsfrequenz, je weiter sich die Erörterung lebensweltlich konkretisiert, umso mehr hinter rationalen oder erfahrungsorientierten Argumentationsmustern zurück. Darin bricht aber nicht etwa eine Autoritätskonkurrenz zwischen scriptura und ratio bzw. experientia auf, denn »grundlegend für Luthers Argumentation […] ist«, wie K. trefflich festhält, »stets der durch die Schrift vorgegebene konzeptuelle Rahmen, auch dort, wo die Konkretionen sich nicht unmittelbar auf einzelne Schriftverse berufen können« (298).
Zuletzt fragt K. nach Luthers Schriftgebrauch »in der weisheitlichen Beratung« (307–350). Da dessen einschlägige Korrespondenz ein viel zu weites Feld darstellt, fokussiert sich die Analyse pragmatisch auf die sogenannten Fürstenspiegel und dabei exemplarisch auf die Auslegung von Ps 101 (1534/35). Hier erscheint David »als ideale Instanziierung des evangelischen Fürsten« (317). Im Verbund damit öffnet Luther den Blick auf weltgeschichtliche Erfahrung und weist neben dem biblischen David auch profanen Gestalten wie Herkules, Hannibal oder Kaiser Augustus eine partielle Vorbildfunktion zu. Solche Kombination ist von der Überzeugung getragen, dass Gottes Wirken in der Welt vielfältigen außerbiblischen Niederschlag finde (vgl. 326). Deshalb kann Luther auch die eigene, ferner die alltägliche, die zu Sprichwörtern geronnene und sogar die in der klassischen antiken Literatur artikulierte Welterfahrung in den Zeugenstand rufen. Die Komplementarität dieser Bezeugungsinstanzen bleibt freilich, wie K. klar hervorhebt, insofern asymmetrisch, als Luther allein die Bibel zum Ausgangspunkt seiner weisheitlichen Beratung nimmt, von ihr ausgehend dann auch die anderen Instanzen ins Bild hebt, als heilsrelevanten Wahrheitsbürgen jedoch allein die Heilige Schrift anerkennt (vgl. 349 f.).
Erst mit dem vierten und letzten Teil (351–407) vollzieht K. den Übertritt von der präzisen historischen Analyse zur systematisch-theologischen Ertragssicherung, indem er nun den Schriftgebrauch des Reformators mit gegenwärtigen, auf Luther rekurrierenden Schrifttheorien ins Verhältnis setzt. Dabei unterscheidet er drei Strukturmodelle: einerseits den konsequent aufklärungs- und neuzeitkritischen Ansatz, prototypisch repräsentiert durch Reinhard Slenczka und Oswald Bayer, dem er einleuchtend vorhält, er habe »in der methodischen Gestalt des demütigen Nachsprechens vorgegebener Texte de[n] hermeneutische[n] Prozess ausgeblendet« (361), andererseits den etwa von Jörg Lauster und Rochus Leonh ardt vertretenen subjektzentrierten Ansatz, der, unbeschadet aller Verdienstlichkeit, die naturhafte Perspektivität und End-lichkeit menschlichen Verstehens unterbelichte (vgl. 373), sowie schließlich das »pragmatisch-gemeinschaftszentrierte Modell« (377), das, vorwiegend von englischsprachigen Autoren wie Stanley Hauerwas, Rowan Williams oder Stephen E. Fowl vertreten, die Gemeinschaft des Glaubens zum genuinen Rahmen einer luther-affinen postmodernen Gebrauchstheorie der Bibel erkläre. In siebenfacher thetischer Zuspitzung speist K. am Ende die Ergebnisse seiner Untersuchung als Impulsgeber in die künftig zu führende theologische Fachdiskussion ein.
Wenn dergestalt auch das systematische Leitinteresse K.s unverkennbar ist, soll seine Studie doch vorrangig als ein methodisch und material gleichermaßen innovativer Beitrag zur Lutherforschung gewürdigt sein. Sie demonstriert abermals, dass die Arbeit am Reformator kaum durch kollektiv begangene Jubiläen, umso mehr hingegen durch die historiographische Potenz einzelner Forscherpersönlichkeiten befördert wird. Mit der vorliegenden Untersuchung hat K. der Lutherforschung einen gewichtigen, zu kräf-tigem Fortschreiten ermunternden Meilenstein auf den Weg ge­setzt. Was die gegenwartsanalytischen Konsequenzen und Herausforderungen anbelangt, bleibt zu hoffen, dass K. auch weiterhin auf solider historischer Basis produktiv tätig sein wird.