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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

84–87

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Gehrt, Daniel, Hund, Johannes, u. Stefan Michel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bekennen und Bekenntnis im Kontext der Wittenberger Reformation.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 313 S. m. 8 Abb. = Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ge­schichte Mainz. Beihefte, 128. Geb. EUR 70,00. ISBN 978-3-525-57095-1.

Rezensent:

Marco Stallmann

Der Band dokumentiert die Ergebnisse eines interdisziplinären Arbeitsgesprächs, das vom 30. September bis zum 2. Oktober 2015 in der Forschungsbibliothek der Universität Erfurt in Gotha stattfand. Ein Vorwort der Herausgeber erläutert die Zielsetzung vor dem Hintergrund der jüngeren Forschungstendenz, das sogenannte Konfessionelle Zeitalter weniger vom Begriff des Bekenntnisses als vielmehr von der Konfessionalisierung des Christentums bzw. der Herausbildung von Konfessionskulturen her zu verstehen. Im Zuge dieser vergleichenden Perspektive sei die geschichtliche Bedeutung des reformatorischen Bekennens nicht selten in den Hintergrund gerückt oder vorschnell im Sinne einer Orthodoxie missverstanden worden. Deshalb möchte man in diesem Fall die Bedeutungs- und Funktionsvielfalt vorrangig der lutherischen Be­kenntnisse in den Blick und dabei das durchaus intensive Nor mierungsverhalten des Luthertums als »Strategie zur Sicherung der eigenen konfessionellen Identität« (7) ernst nehmen.
Bereits der erste Beitrag verdeutlicht die Wechselwirkungen von theologischen Deutungsinteressen und religionspolitischen Voraussetzungen in der Gattung der Bekenntnisschrift: Sigrid Westphal erläutert den Funktionswandel der Confessio Augustana vom Ausschlusskriterium aus Sicht der altgläubigen Augsburger Reichs­tagsmehrheit von 1530, hin zum Einschlusskriterium des Religionsfriedens 1555 auf der Basis des Wiedervereinigungsgebots und der gemeinsamen Abgrenzung von Sekten. Lehrreich wird ge­zeigt, dass mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 bereits Instrumente zur Friedenssicherung geschaffen worden waren, die es letztlich ermöglichten, das »Sicherheitsrisiko Reformation« (15) im Rahmen der Reichsverfassung zu entschärfen. Der notwendige Preis war ein neutralisierter, von religiösen Exklusivitätsansprüchen abgelöster Bekenntnisbegriff im Zusammenspiel mit einem »dissimulierenden Recht« (M. Heckel), dessen offene Formulierungen wiederum verschiedene Interpretationen des Religionsfriedens hervorrufen und das »Reich als Friedensordnung« (16) auf die Probe stellen sollten.
Damit war bei den Protestanten ein theologischer Identitätsfindungsprozess verbunden, den Robert Kolb anhand der Konsensbemühungen Jakob Andreaes, Martin Chemnitz’ und der Konkordisten mit Blick auf die Genese der Konkordienformel von 1577 und des Konkordienbuchs von 1580 nachzeichnet. Methodisch lässt der hier gewählte, bekenntnisorientierte Zugriff wenig Platz für die Berücksichtigung sozial- und kulturgeschichtlicher Manifestationen des Luthertums, wie sie im Rahmen der neueren Kirchengeschichtsschreibung gefordert worden sind. Allerdings entspricht dies der Zielsetzung der Tagung, weshalb die Bekenntniskonzepte der zweiten reformatorischen Generation schließlich weiter vertieft werden: In ihnen offenbarten sich unterschiedlichste Motivationen und Verhältnisbestimmungen, die sich allesamt auf Vorbilder innerhalb der Wittenberger Reformation berufen konnten, wie Stefan Michel anhand der negativ-abgrenzenden Mansfelder Be­kenntnisse von 1559, 1562 und 1565 sowie der konsensorientierten Reußisch-schönburgischen Konfession von 1567 für den Raum Mitteldeutschland aufzeigt. Mit Joachim von Alvensleben und Herzogin Dorothea Susanna von Sachsen-Weimar kommen bei Daniel Gehrt dann interessante Beispiele für adlige Bekenntnisformen ohne normative Geltung im Sinne einer Territorialverbindlichkeit in den Blick.
Diskutiert wird auch die Rolle Philipp Melanchthons in diesen Debatten: Dessen Bekenntnisbegriff rekonstruiert nach einer verhältnismäßig langen Kontextualisierung Christian Peters mit be­sonderem Fokus auf die Verschränkung von confessio, doctrina und praxis pietatis, mit der Melanchthons Humanismus der Lehrkanonisierung des Wittenberger Reformationserbes den »Stempel eines lutherischen Theologen eigener Prägung« (113) aufgedrückt habe. Wie Inge Mager an anderer Stelle plausibilisiert, war er beispielsweise mit dafür verantwortlich, »dass die Rezeption der Zwei-Reiche-Vorstellung über Jahrhunderte unterbrochen worden ist« (194). – Dem Vergleich mit Martin Luthers »Verständnis von Be­kenntnis« (83) kann der Beitrag Ernst Kochs dienen: Seine Analyse der Abendmahlsschrift von 1528, der Schmalkaldischen Artikel von 1538 und des kurzen Bekenntnisses vom heiligen Sakrament von 1544 zeigt seine ausgewiesene Quellenkenntnis. Einen Hinweis verdient hätte wohl die schon früher einsetzende, ambivalente Entwicklung konfessionellen Identitätsbewusstseins beim Reformator, der, wo es nicht der kontroverstheologischen Auseinandersetzung diente, gegenüber einer Berufung auf seinen Namen skeptisch blieb.
Dann erfolgt ein Blick über den Wittenberger Tellerrand: Jan-Andrea Bernhard untersucht zentrale reformierte Bekenntnistexte in ihrer Entstehung aus den im helvetischen Raum stattfindenden Disputationen und in ihrer theologischen Entwicklung im zweiten Drittel des 16. Jh.s. Nach einer ersten Bündelung lokaler Re­formbemühungen in der Confessio Helvetica prior von 1536 erkennt der Autor im Consensus Tigurinus von 1549 die »Geburtsstunde des reformierten Protestantismus als europäische Bewegung« (67). Dessen spezifische Eigenart, den »Vorbehalt der besseren Einsicht in die Heilige Schrift« (68), herauszuarbeiten, ist ein zentrales Anliegen des Beitrags. Im ursprünglichen reformierten Verständnis (nicht mehr in den apologetischen Auseinandersetzungen des 18. Jh.s) habe dieser bescheidene Vorbehalt die Verurteilung einer Nichtübereinstimmung mit dem Bekenntnis als Häresie eigentlich ausgeschlossen.
Ob dies zeitgleich auch in lehramtlichen römisch-katholischen Texten der Fall war, lässt sich bei Peter Walter studieren: Die bereits in der Vulgata wurzelnde, semantische Vielfalt des Begriffs confessio sei im 16. Jh. weitgehend auf eine confessio sacramentalis enggeführt, im Hinblick auf das Glaubensbekenntnis durch professio abgelöst und als confessionistae in katholische Polemik übertragen worden. Darin offenbare sich letztlich ein »Narzißmus der kleinen Differenzen« (S. Freud), mit dem die Religionsparteien auch in sprachgeschichtlicher Hinsicht eigene Wege gegangen seien. Dieser Befund schmälert allerdings nicht die ökumenische Dialogfähigkeit, für die der erst kürzlich verstorbene Autor aufgrund seiner Gelehrsamkeit und Integrität ge­schätzt wurde.
Im zweiten Teil des Buchs verlagert sich der Schwerpunkt auf wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen: In den historisierenden Zugängen der halleschen Aufklärungsherme-neutik, namentlich bei Siegmund Jacob Baumgarten und Johann Salomo Semler, erkennt Christian Witt mit einigem Recht eine apologetische Strategie, die sich gleichermaßen gegen offenbarungstheologische Überschätzungen wie gegen radikale Infragestellungen der Bekenntnisschriften (Johann Michael von Loën dient als Beispiel) gerichtet habe. Die daraus abgeleitete Skepsis gegenüber der historiographischen Feststellung einer »flächen-deckenden Bekenntniskritik« (232) im 18. Jh. erscheint dem Rezensenten begründet, aber missverständlich – markierte die Kritik doch eine Leitidee der Epoche, die sich ein Großteil der vielgestaltigen protestantischen Aufklärung nicht im Modus »kompromisslose[r] Bestreitung« (229), sondern im Sinne der reflektierten Unterscheidung von Theologie und Religion zu eigen gemacht hat. Auch wenn Semler sich zwecks kirchlicher Verständigung tatsächlich vergleichsweise konservativ für die Bekenntnisbindung kirchlicher Amtsträger einsetzte, trat doch für den aufgeklärten Religionslehrer, den die Unterscheidung in die Verantwortung nahm, die »normative Kraft« (230) der Bekenntnisschriften hinter ihr deskriptives Auslegungspotential in der Vergegenwärtigung biblischer Grundwahrheiten zurück.
Ausgehend von der Debatte um die Bezeichnung des 19. Jh.s als »zweites konfessionelles Zeitalter« (O. Blaschke) spinnt Werner Klän den wirkungsgeschichtlichen Faden weiter: Sein Durchgang durch die Spielarten konfessioneller Neubesinnung (»Altlutheraner«) und deren Herleitung aus einer aufklärungskritischen, anti-unionistischen Tradition lässt ihn das zukunftsweisende Moment dieser Strömung im Verweis auf den »Ernst kirchlichen Bekennens« und die »Gründung auf das Wort Gottes« (255) erblicken, mit dem Vertreter wie Ludwig Harms oder August Vilmar ihr lutherisches Verständnis »gegen jeden falschen Kompromiss in seiner Ausschließlichkeit zu bewehren« (256) suchten. – Dass man es im 19. Jh. auch anders sehen konnte, zeigt Martin Ohst im souveränen Rückgriff auf Friedrich Schleiermachers Vision eines dogmenfreien Protestantismus, die gerade als solche den Bekenntnisschriften ein bleibendes historisch-produktives (nicht normatives) Ansehen zu­gestehen musste, weil sich in ihnen erstmals nachhaltig protestantisches Freiheitsbewusstsein artikulierte. Zum Verständnishintergrund gehört dabei notwendig die problematische »Doppeldeutigkeit« (295) zwischen Gewissensfreiheit und Lehrverbindlichkeit, die sich, wie Ohst am Glaubensbegriff aufzeigt, durch die gesamte Reformations(vor)geschichte zieht.
Die Entscheidung der Herausgeber, entgegen der Titelgebung den »Themenkreis nicht auf Bekenntnisse aus dem Wittenberger Kontext [zu] beschränk[en]« (10), sondern die parallel entstehenden Konfessionskirchen sowie die geschichtlichen Transformationsprozesse des 18. und 19. Jh.s anzudeuten, ist zu begrüßen. Gerne hätte man den Tagungsbeitrag zur dogmatischen und religionspolitischen Bedeutung des lutherischen Bekenntnisses im 17. Jh. ge-lesen, der leider nicht abgedruckt werden konnte. Die kulturgeschichtliche Dimension des Themenkreises und die bleibende »Diversität« (260) reformatorischen Bekennens, die im kunsthistorischen Aufsatz von Maria Lucia Weigel anhand von acht Gemäldeabdrucken anschaulich werden, hätten über die corpora doctrinae hinaus noch mehr Beachtung verdient – nicht zuletzt im Hinblick auf das weite Feld konfessioneller Uneindeutigkeit. Insgesamt leistet der Band aber einen historisch, theologisch und kirchlich reflektierten Beitrag zur o. g. Forschungsdebatte, dem gelingt, was er sich vornimmt, nämlich: »zu einer weiteren Beschäftigung mit dem Thema an[zu]regen« (11).