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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

71–74

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Leithart, Peter J.

Titel/Untertitel:

Revelation 1–11.

Verlag:

London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2018. X, 512 S. = T & T Clark International Theological Commentary. Geb. £ 81,00. ISBN 978-0-567-10096-2.

Rezensent:

Martin Karrer

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Leithart, Peter J.: Revelation 12–22. London u. a.: Bloomsbury T & T Clark 2018. XI, 501 S. = T & T Clark International Theological Commentary. Geb. £ 75,00. ISBN 978-0-567-03645-2.


T & T Clark vertritt seit einiger Zeit zwei Kommentarformate, die klassische literarische Kommentierung im International Critical Commentary (ICC) und eine Auslegung mit theologischem Skopus im International Theological Commentary (ITC). Die literarische Untersuchung der Apk im ICC durch R. H. Charles von 1920 wurde durch ihre Text- und Quellenkritik zum Klassiker und bis heute nicht ersetzt. Umso gespannter ist man deshalb auf das nunmehrige Pendant im ITC.
Es ist von Peter J. Leithart verfasst, dem Präsidenten des Theopolis Instituts in Birmingham, Alabama. L. beteiligte sich, aus der reformiert-presbyterianischen Tradition kommend, an der Aktualisierung der Bundestheologie ab 2002, die als »Federal Vision theol-ogy« bekannt wurde und scharfe Kontroversen auslöste. Seinen Kommentar widmet er zudem James Jordan (IX), der die Apk in Vorträgen intensiv – und gewagt – unter Kombination mit anderen Schriftstellen auslegte. So ist der Leser darauf vorbereitet, im Kommentar L.s prononcierte theologische Akzente zu vernehmen, die der Kommentator aus einem inneren Gefüge der Bibel entwi-ckelt.
Die Komplementarität der Kommentarreihen bei T & T Clark erleichtert die theologische Zuspitzung. Denn sie verlangt vom theologischen Kommentar nicht, die klassischen Einleitungsfragen eingangs in extenso zu diskutieren. L. greift deshalb in der Introduction zum Gesamtwerk nur die derzeit offenste Frage heraus, die nach der Datierung der Apk. Die jüngere historische Forschung erlaubt nicht mehr, Domitian zum großen Christenverfolger zu stilisieren (vgl. I 39 zu Thompson). So muss die Auslegung entweder den Kontext von Verfolgungen kleiner schreiben als herkömmlich gewohnt (was der Rezensent vorschlagen würde) oder die Datierung ändern; L. entscheidet sich für Letzteres und näherhin für die 60er Jahre, in denen die Hinrichtungen nach dem Brand Roms unter Nero die Nachfolger Jesu traumatisierten (I 39 f.).
Diese Datierung steht heute nicht allein (vgl. z. B. K. Berger: Die Apokalypse des Johannes. Freiburg u. a. 2017, I 83). L. verbindet sie aber mit weiteren gewagten Entscheidungen: Zum einen identifiziert er den Autor der Apk mit dem des JohEv und näherhin dem Zebedaiden Johannes (I 74 f. bei der Auslegung von 1,1–8). Er verlangt nicht zwingend, dass die Leser und Leserinnen ihm darin folgen. Doch seiner Interpretation legt er eine Referenz zwischen Evangelium und Apk zugrunde; »John and Revelation are a two-volume work«, wie er kurz sagt. Ich greife nur ein Moment der Struktur heraus, um die Relevanz dessen zu zeigen: Das JohEv verwendet für Christus das Bild des Bräutigams (3,29) und eröffnet die Zeichen Jesu mit einer Hochzeit (Joh 2,1–11); die Apk umgekehrt schließt mit Bildern um Braut, Bräutigam und Hochzeit (19,6–9; 21,2; 22,17). Als Konsequenz ist die Apk gleichsam als ein Gesang von der Liebe zu lesen, der einen Impuls des Evangeliums vollendet; ihre poetische Prophetie gipfelt in einer »civitas Dei«, die menschliche Wesen und göttlichen Gemahl in einem »marital covenant« vereint (so die große Linie zu II 445). Zum anderen rekurriert L. d urchaus zu Recht auf die Fülle der Schriftreferenzen im Text der Apk (jede Bibelausgabe weist darauf hin, Nestle-Aland28 in den Randmarginalien). Aber er begnügt sich nicht mit dem Forschungskonsens, der Autor forme seinen sprachlichen Stil und seine Bilder an den Schriften Israels. Er optiert vielmehr dafür, die Apk als »book of the Bible« (I 4) in typologischer (I 12 ff. u. ö.) bzw. archetypischer Hermeneutik (II 440 u. ö.) zu lesen. Die hebräische Bibel gestattet Schwerpunkte von der Schöpfung über den Bund und die Verehrung Gottes in seinem Heiligtum bis hin zum Gericht (die Liste I 5–8 konzentriert sich auf Referenzen der hebräischen Bibel, nicht die umfangreicheren griechischen Übersetzungen und Schriften, die zum Bestand der Septuaginta wurden). Aus diesen Schwerpunkten erwachsen typische Bilder bzw. Realitäten, die nach der Darstellung des Sehers an anderen Zeiten und anderen Orten neu aufbrechen werden (ein Ansatz, der nicht mit der zwischen R. Bultmann und L. Goppelt debattierten typologischen Hermeneutik verwechselt werden darf).
Verdeutlichen wir das Gemeinte an einem Beispiel: Die Zahl 666 aus Apk 13,18 fand in der Geschichte eine Fülle von fragwürdigen Interpretationen; L. kritisiert das zu Recht (I 1; II 77 f.). Seinen eigenen Ansatz stützt er stattdessen auf den Einschnitt zwischen Salomo, dem Tempelgründer, und Salomo, dem Verletzer der Königsgesetze nach der Schrift (1Kön 10,14–11,8). 666 wird zur Zahl für Salomos Apostasie und Reichtum, zum »mark of an unfaithful temple builder« (II 79). Im 1. Jh. ereignet sich, wenn man so will, eine Rekapitulation dessen, und das ist nicht allein auf Nero zu beziehen (was die häufigste gegenwärtige Auslegung wäre), sondern ebenso auf weitere Erscheinungen der Apostasie (II 81 f.).
Die Pointe verdichtet sich durch eine dritte Entscheidung. Wieder ist der Ausgangspunkt exegetisch nachzuvollziehen; wenn Siegel geöffnet und Signalinstrumente geblasen werden, wie Apk 6–11 das thematisieren, bereitet das vor auf das, was kommt. Kühn ist je­doch L.s Schluss, diese Kapitel deckten in ihrer Grundlage Er­scheinungen aus der Gegenwart des 1. Jh.s auf, weshalb Apk 1–11 vornehmlich auf Geschehnisse vor der Niederschrift der Apk zu beziehen seien, und erst der zweite Teil der Apk wende sich der Zukunft zu. Dadurch gelangt L. (in die amerikanische Szene eingeordnet) in die Nähe einer präteristischen Interpretation, die er durch die geschilderte typologische Pointe erweitert und differenziert:
Apk 2–3 rekurrieren laut ihm vornehmlich auf die harten Auseinandersetzungen zwischen der Nachfolge Jesu und ihrer Umwelt in der Anfangszeit des Christentums; »Roman and Jewish powers join forces against the Lamb (sc. Christus), and they join forces again against his Bride«, wie Apk 2,9 für diese Jahrzehnte sage (I 159[–162]; L. ist bewusst, dass jede Formulierung hier abgewogen werden muss, um einen Antijudaismus zu vermeiden). Apk 4–5 korreliert L. im Hintergrund zur Himmelfahrt Jesu, die Siegelvisionen auf den Beginn der christlichen Mission und die Konflikte darum usw. (wichtig ist die Interpretation des ersten Siegels als Heilsvision, näherhin Proklamation des siegreichen Evangeliums; I 285–288; II 432). Der Duktus bis Kapitel 11 ist insgesamt s. E. primär retrospektiv zu lesen und dennoch durch die Vorstellung von Leid und Martyrium gezeichnet. Ab Kapitel 12 ergeben sich daraus Erwartungen für die nächste Zukunft (also die Zeit ab ca. 70), erst ganz am Schluss (ab 20,11) ein Blick in fernere Zukunft (s. die Einzelexegesen und die Zusammenfassungen in I 48–50 sowie II 432–439). Nicht nur die Entscheidungen in den Einzelexegesen sind hier kontrovers (z. B. wird heute von vielen Auslegern darauf hingewiesen, die »Synagoge des Satans« in 2,9 geißele nicht Juden, sondern Menschen aus den Völkern, die den Namen Juden falsch usurpieren), sondern überhaupt die Frage, ob eine Visions-Abfolge mit einer Abfolge der Geschichte – vertieft durch typologische Akzente– in Verbindung zu setzen sei.
Zum vierten gewahrt L. im Bilderreichtum und der schwierigen Sprache der Apk hohe trinitarische Theologie. Weichenstellend liest er die sieben Geister in Apk 1,4 nicht als religionsgeschichtliches Wagnis (Geister um Gottes Thron), sondern als Beschreibung des Geistes (vgl. die kirchliche Tradition, über Jes 11,2 einen »spiritus septiformis« zu gewahren; I 88 f.). D. h. der Seher eröffnet sein Werk laut L. mit einer trinitarischen Aussage über Gott (den Seienden nach Ex 3,14), Christus (den treuen Zeugen) und den Geist. Die Liebe der Apk zur Zahl sieben – und damit die Suche der Auslegung nach Siebenerreihen – ergibt sich aus dieser pneumatischen Perspektive; denn »the Spirit is a seven, and he works in rhythms of seven« (I 89, Zitat dort teils hervorgehoben). Umgekehrt bedeutet das, dass L.s Interpretationen fraglich werden, sobald die Vorgabe aus 1,4 f. anders gesehen wird; die herkömmliche Verankerung re­f ormierter Bundestheologie in trinitarischem Denken und kritische Religionsgeschichte scheinen dem Rezensenten zu kollidieren.
Es ist nicht erforderlich und in einer kurzen Rezension nicht möglich, die Einzelauslegungen weiter nachzuzeichnen (den Be­zug auf Märtyrer aus Israel in den 144.000, die Interaktion zwischen den Typologien Jerusalems und Babylons usw.). Es genüge ein kleiner Hinweis zur Bibliographie: Sie verzeichnet die englische Literatur in erfreulicher Breite, und die Einleitung in Band I weist darauf hin, dass man im Kommentar Aune’s mehr zu den griechisch-römischen Kontexten der Sprache in der Apk finde (die L. klein schreibt), dass der Kommentar Beale´s die Schriftreferenzen der Apk gewichtig (und hermeneutisch different zu L.) erforsche, dass schließlich die Kombination von Apk und JohEv gewichtig durch Warren Gage vorgezeichnet sei (I 51). Deutschsprachige Literatur dagegen erscheint nicht (vom Klassiker Bousset bis zu den neuen Kommentaren von Giesen und Lichtenberger).
Damit deutet sich an, wo der Rezensent den Wert des Kommentars sieht: L. führt eine theologische Interpretation der Apk vor Augen, die in den angelsächsischen und namentlich amerikanischen Kontroversen ihren Ort hat. Wer sich mit diesen Kontroversen vertraut machen will, findet im Werk eine spannende Lektüre. Unübersehbar aber sind die getroffenen Hauptentscheidungen zugleich strittig und fehlt die Auseinandersetzung mit der Kritik der Apk in der Forschungstradition Mitteleuropas.