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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

69–71

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kaiser, Ursula Ulrike

Titel/Untertitel:

Die Rede von »Wiedergeburt« im Neuen Testament. Ein metapherntheoretisch orientierter Neuansatz nach 100 Jahren Forschungsgeschichte.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XV, 445 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 413. Lw. EUR 139,00. ISBN 978-3-16-155340-0.

Rezensent:

Angela Standhartinger

Die Rede von »Wiedergeburt« ist populär. Die damit verbundenen Vorstellungen changieren allerdings zwischen fernöstlichen Reinkarnationslehren, Wellnesskultur und erweckungstheologisch geprägter Bekehrungserfahrung. Eine monographische Untersuchung der entsprechenden neutestamentlichen Texte wurde bisher selten vorgelegt. Die Hamburger Habilitationsschrift von Ur­sula Ulrike Kaiser, inzwischen Professorin für Biblische Theologie in Braunschweig, analysiert dieses Problem und formuliert einen metapherntheoretisch begründeten Neuansatz. Ihre These lautet: Die Metapher »Wiedergeburt« ist im Neuen Testament ausgangssprachlich nicht repräsentiert, sie umschreibt jedoch zielsprachlich den durch Gott initiierten grundlegenden Erneuerungsprozess der Glaubenden metaphorisch.
Kapitel 1 führt in die Fragestellung und die Conceptual Metaphor Theory von Lakoff/Johnson als theoretische Grundlegung ein. Wie jede Metapher setze auch »Widergeburt« bei ihrer Entstehung eine Enzyklopädie voraus, die kontextuell rekonstruiert werden muss. »Wiedergeburt« könne grundsätzlich sowohl den Ursprungs- als auch den Zielbereich der Metaphorik bezeichnen. Da Metaphern Textphänomene seien, setze jede Interpretation eine ge-naue Textanalyse voraus. Kapitel 1.6.5 enthält dafür zehn Leitlinien (22–24).
Teil I arbeitet in den Kapiteln 2–5 die Forschungsgeschichte auf, beginnend mit Paul Gennrichs ersten Überblick von 1907, gefolgt von Wilhelm Heitmüllers einflussreicher These über die Herkunft der Wiedergeburtsmetaphorik aus den Mysterienreligionen und schließlich die Bestreitung dieser These durch Adolf von Harnack. K. demonstriert eindrücklich die Fülle von ausgangssprachlichen Begriffen und Texten, religionsgeschichtlichen Kontexten und zielsprachlichen Inhalten, die in mehr als 100 Jahren mit der Metapher verbunden wurden. Die Forschungsgeschichte reicht bis 2009. Der Beitrag von Friedrich Avemarie, der erstmals in seinen gesammelten Aufsätzen (WUNT 316) veröffentlicht wurde, ist daher nicht mehr diskutiert.
Ausgehend von dem in Teil I Erarbeiteten bietet Teil II die theoretische Grundlegung für das Folgende. Kapitel 6 enthält u. a. eine nützliche tabellarische Liste der für »Wiedergeburt« veranschlagten neutestamentlichen Texte (137–140).Vor allem formuliert K. hier erstmals die These, dass der Ursprungsbereich der Metapher »Wiedergeburt« nicht in einem spezifisch antiken mysterientheologischen oder stoischen Konzept liege, sondern in der Erfahrung von »Zeugung und Geburt«. Die Metapher »Wiedergeburt« ziele auf die »metaphorische« Beschreibung einer grundlegenden (religiösen) »Erneuerung des Lebens« (147.144). Kapitel 7 bestimmt mit Abstrichen Tit 3,5; vor allem aber Joh 1,12 f.; 3,1–12, 1Petr 1,3.23 und Jak 1,18 als die (einzigen) neutestamentlichen Texte, in denen Geburt und Zeugung als metaphorische Beschreibungen einer von Gott initiierten Erneuerung des Lebens aktiviert werden. In den übrigen Texten fehle entweder der metaphorische Ursprungsbereich Geburt und Zeugung (Jak 1,15, 2Tim 2,23; Hebr 6,7) oder ein anderer als Gott selbst werde als Gebärender oder Zeugender be­nannt (1Kor 4,14–16; Phlm 10 und Gal 4,19 f.: Paulus). An dieser Stelle scheint mir allerdings der thetisch festgelegte Zielbereich der Metapher das Ergebnis gegen die Theorie zu begrenzen. Denn nach nur halbseitiger Überlegung wird auch Mt 19,28 ausgeschlossen, ein Text, in dem παλιγγενεσία »Wiedergeburt« genannt ist (165). Der hier evozierte apokalyptische Hintergrund der Metapher greift dabei ausdrücklich das Bild der gebärenden Frau, ihrer Leiden un­ter Geburtswehen auf (1Hen 62,4 f.; 4Esra 4,40–42; Joh 16, 20–22). Jedenfalls lässt sich »Wiedergeburt« in der Enzyklopädie des 1. Jh.s nicht auf das religiöse Erleben Einzelner eingrenzen, sondern hat kosmisch-universale Dimensionen (Philo Mos. II 65). Me­tapherntheoretisch ausgedrückt wird die Enzyklopädie der Erst-lesenden in K.s Entwurf wenig rekonstruiert.
In Teil III folgen vier textsensible Exegesen. Kapitel 8 widmet sich Tit 3,5 im Kontext von Tit 3,1–7. Luzide werden die gramma-tischen Optionen der Interpretation von διὰ λουτροῦ παλιγ-γενεσίας καὶ ἀνακαινώσεως πνεύματος ἁγίου vorgestellt (191–197). Ob λουτρόν auf die Taufe anspielt, sei nicht zu klären. Knapp wird auf den Gebrauch von παλιγγενεσία in Stoa, Pythagorismus, Mysterientheologie, politischen Rettungserfahrungen (Philo Legat 41) und für das literarische Scheintotmotiv hinge-wiesen (Chariton, Callirhoe 1,8,1; 207–220). Für die metaphorische Enzyklopädie bleibe dies jedoch unerheblich, da nirgends die Bedeutung einer von Gott veranlassten »Rettung samt neuer Le­bensmöglichkeit« evoziert sei (220–223). Überhaupt solle παλιγγενεσία besser mit »Wiederentstehung« übersetzt werden (222.400). Mehr Arbeit an der Enzyklopädie des 1. Jh.s hätte vielleicht auch für Heutige fremdgewordene metaphorisch gefasste religiöse Erfahrungen erhellen können. Kapitel 9 untersucht die johan-neische Literatur. Zunächst beschreibt K. – unter geschicktem Rückgriff auf antike Zeugungsvorstellungen und ihre jüdischen Rezeptionen (232–238) –, wie das antike Konzept Zeugung in Joh 1,13 dreifach, wenn auch negativ, aufgegriffen ist. Christ-Werden sei somit eine ganz anders geartete Zeugung. Das Nikodemusgespräch in Joh 3,1–12 profiliere diese Andersartigkeit des aus Gott gezeugten und für den Menschen gänzlich unverfügbaren Lebens. Ort dieser Geisterfahrung sei die Taufe. 1Joh 2,29; 3,9; 4,7; 5,1.4.18 verwendeten dann das Syntagma »die aus Gott Gezeugten« bereits als konventionalisierte Metapher. Die in Kapitel 10 im Kontext untersuchten Verse 1Petr 1,3.23 zeigten, wie die Zeugungs- und Geburtsmetapher initiiert werde, »um den Adressierten eine neue Identität angesichts aktueller Fremdheitserfahrungen« anzubieten (333). Wichtig sei 1Petr dabei die Abgrenzung gegenüber den früheren Lebensweisen. Kapitel 11 nimmt Jak 1,18 in Blick, dessen Wiedergeburtsmetaphorik hier erstmals ausführlich im Kontext analysiert und begründet wird. In Jak 1,18 werde die Geburtsmetaphorik »im Wort der Wahrheit« mit der christlichen Verkündigung verknüpft und durch das Stichwort »Erstling« mit Familienmetaphern aufgefüllt, die zugleich die Eingliederung in das Gottesvolk Israel evoziert. Kapitel 12 schließt mit einer pointiert auswertenden Zusammenfassung ab. Die (Wieder)geburtsmetapher könne höchstens zielsprachlich für die je spezifisch beschriebene von Gott initiierte re-ligiöse Umbruchserfahrung gebraucht werden. Anders als in der modernen Erweckungstheologie gehe es nicht nur um die Veränderung und Erneuerung des individuellen Lebens, sondern um die » metaphorisch vermittelte Plausibilität, dass mit der Wende zum Christusglauben die Eingliederung in eine (neue) Gemeinschaft stattfindet, innerhalb derer das neue Leben Gestalt gewinnen kann« (401). Literaturverzeichnis und ausführliches Stellen- und Sachregister beschließen den Band.
K. gelingt eine eindrückliche Gesamtdarstellung, die im Lichte der Forschungsgeschichte problembezogen und mit großer Klarheit orientiert. Ihre These, dass die in (Tit 3,5;) Joh 1,13; 3,1–12; 1Petr 1,3.23 und Jak 1,18 initiierte (Wieder)Geburts-/Zeugungsmetaphorik in kreativer Weise eine jeweils spezifische aus religiöser Um­bruchssituation gespeiste Erfahrung versprachlicht, ist wünschenswert provokativ und zugleich gegenüber dem uneindeutigen populären Gebrauch der Metapher »Wiedergeburt« klärend. Für alle weiteren Untersuchungen zum Thema wird K.s Untersuchung sicherlich zum zentralen Referenzwerk werden.