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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

51–54

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Ostmeyer, Karl-Heinrich

Titel/Untertitel:

Jüdische Gebete aus der Umwelt des Neuen Testaments. Ein Studienbuch.

Verlag:

Leuven: Peeters Publishers 2019. XVI, 484 S. = Biblical Tools and Studies, 37. Kart. EUR 95,00. ISBN 978-90-429-3853-3.

Rezensent:

Christfried Böttrich

»Beten ist die innigste Form der Begegnung mit Gott. Im Gebet spiegeln sich das Gottesbild wie das Selbstbild der Betenden. Damit bietet die Gebetssammlung zugleich ein Panoptikum antiker jüdischer Theologien und Anthropologien.« (2) Mit dieser programmatischen Feststellung führt Karl-Heinrich Ostmeyer, thematisch ausgewiesen durch seine fundierte Studie über »Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament«, WUNT 197, Tübingen 2006, in das vorliegende Studienbuch ein. Die Autoren des Neuen Testaments müssen das Beten nicht erst lernen. Sie speisen ihre eigene Praxis aus der reichen Gebetstradition alttestamentlich-jüdischer Frömmigkeit, die sie gleichsam mit der Muttermilch aufgenommen haben. Insofern ist es von Belang, auch der unmittelbar zeitgenössischen Ge­betstradition im Umfeld der frühen Christenheit (jenseits der zeitlich schon weiter zurückliegenden kanonischen Texte des Alten Testaments) noch einmal genauer nachzuspüren.
In der vorliegenden Textsammlung wird eine weite und vielgestaltige Landschaft von »Judentümern« ausgeleuchtet. Die zugehörigen Schriftenkorpora sind: A. die Texte aus der judäischen Wüste (Hodayot, Genesis-Apokryphon, nicht-masoretische Psalmen, Bußgebete von Herrschern, Sabbatopferlieder, Worte der Lichter, ein Ge­bet der Zeit Bar Kochbas), B. die sogenannten Pseudepigraphen (TestXII, Sib, TestHi, JosAs, ApkMos, AssMos, 2Bar[gr], OrJac, 4Esra, grEsra, ParJer, Grabstelen aus Rheneia), C. die Apokryphen des Alten Testaments (ZusEst, Judit, Tob, 1–4Makk, Ps 151, OrMan, SapSal, Sir, PsSal, Bar, ZusDan), D. die Werke eines Philo von Alexandrien (Gebete Einzelner, Dankgebete der Bevölkerung, Ge­bete von Nicht-Juden) und E. die eines Josephus (Gebete im biblischen Kontext, außerbiblische Gebete). Bei diesen fünf Korpora, die etwa den Zeitraum 2. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr. abdecken, bleibt es auch; die Fülle der späteren rabbinischen Gebetsliteratur wird ganz bewusst nicht mehr mit einbezogen. Alle Gebete, die hier zusammengestellt sind, entstammen unterschiedlichen Kontexten und machen dadurch ein breites Spektrum jüdischer Frömmigkeit sichtbar. In den (teils nur wenige Zeilen, teils mehrere Seiten um­fassenden) Texten findet die Beziehung zwischen Gott und Mensch ihr buntes, von typischen und wiederkehrenden wie auch von individuellen und singulären Lebenslagen gekennzeichnetes Abbild.
Der Band ist übersichtlich und lesefreundlich aufgebaut. Alle Gebetstexte werden zweisprachig dargeboten, wobei auf der linken Seite – je nach Quelle – ein hebräischer, griechischer oder lateinischer Text steht; im Falle von Tob 13,1–18 werden auch einmal vier bzw. fünf verschiedene Textfassungen nacheinander geboten (2x griech., latein., hebr./aram.); griechisch und hebräisch erfolgt die Textdarbietung auch bei TestLev 2,3. Weil Vollständigkeit nicht angestrebt ist, konzentriert sich die Auswahl bei jeder Schrift in der Regel auf jeweils einen besonders charakteristischen Gebetstext. Zur besseren Orientierung wird jedes Korpus, jede Schrift und jedes Gebet mit einer kurzen Einführung versehen, in der die wichtigsten Sachinformationen sowie Hinweise auf Quellen und weiterführende Literatur enthalten sind. Kommentare gibt es nicht; text kritische Anmerkungen bleiben sparsam. Das Layout versucht, wahlweise die Gestalt der Quelle oder die Struktur des Textes abzubilden; im Falle der Grabstelen aus Rheneia wird auch einmal eine bildliche Darstellung hinzugefügt. Am Schluss des Bandes fasst ein Gesamtliteraturverzeichnis alle verstreuten Titel zusammen, er­gänzt um ein ausführliches Stellen-, Sach- und Personenregister. Auf diese Weise lässt es sich leicht auf dem Meer der hier gebotenen Informationen navigieren. Man kann den Band bequem als ein Nachschlagewerk nutzen, zum Ausgangspunkt zielgerichteter Fragestellungen machen oder auch im Ganzen als Einführung in die frühjüdische Gebetsliteratur lesen.
In den meisten Fällen vermag die Sammlung auf umfangreichen Forschungen aufzubauen. Mitunter betritt sie jedoch auch Neuland. Die Apostrophe für Juda (4Q88 X,5–15) etwa wird hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung geboten; die Wiedergabe der Oratio Jacobi folgt zwar der Ausgabe Merkelbachs, überprüft diese Edition jedoch durch Autopsie des entsprechenden Berliner Papyrustextes noch einmal neu. Gebete wie die in den Alttestamentlichen Apokryphen/Deuterokanonischen Schriften dürfen auf einen höheren Bekanntheitsgrad rechnen; die Gebete aus Philo oder Josephus zählen sicher zu den weniger bekannten Beispielen. Während die Nähe der Gebete aus Qumran zu den kanonischen Texten (namentlich des Psalters) ins Auge springt, lassen die Gebete aus den Pseudepigraphen ein größeres Maß an Originalität erkennen. Klage und Anklage, Lob und Dank, umfangreiche Geschichtsreflexion wie gezielte Bitte führen auch in formaler Hinsicht ein breites Spektrum vor Augen – und deuten gelegentlich die fließenden Übergänge zu magischen Praktiken in hellenistischer Zeit an.
Ein Studienbuch ist daraufhin angelegt, studiert zu werden und zu eigenen Entdeckungen anzuregen. Deshalb kann im Folgenden nur auf einige Lesefrüchte hingewiesen werden. Das Gebet Abrahams im Genesis Apokryphon (1Q20 XX,12–16) liefert eines von mehreren Beispielen dafür, dass das Beten gegen und für den Feind bereits in der jüdischen Frömmigkeit dicht beieinanderliegen. Das Bild vom »Bündel des Lebens«, das als Zitat von 1Sam 25,29 in 1QH X,20 aufgenommen ist, hat eine reiche Rezeptionsgeschichte bis hin zu den festen Textbausteinen jüdischer Grabinschriften im hohen Mittelalter hervorgebracht. Die Psalmen aus Höhle 4 in Qumran stellen eine Art Cento aus Versatzstücken des kanonischen Psalters zusammen, was für dessen prägende und stimulierende Kraft spricht. Mit der Oratio Jacobi ist die Grauzone jüdischer Gebete im Schnittbereich zu den griechischen magischen Papyri erreicht; Einflüsse paganer Frömmigkeit machen sich auch in dem Gebet der Sibylle (Sib III,1–7) oder in den Rachegebeten aus Rheneia bemerkbar. Mit eindrücklichen und emotionalen Bildern wird im Gebet der Aseneth (JosAs 11,19–13,15) die Zuwendung Gottes als die eines liebenden Vaters zu seinem schutzsuchenden Kind dargestellt. Die stereotype Wendung »ich habe gesündigt gegen …« im Schuldbekenntnis der Eva (ApkMos 32,1–2) signalisiert formelhafte Sprache, wie sie etwa auch in Lk 15,18.21 begegnet. Das Gebet der Debora (LAB 32,1–17) lässt die Geschichte Revue passieren, begonnen beim Turmbau und endend bei der Tat Jaels. In der Assumptio Mosis (AssMos 4,2–4) findet sich ein klassisches Fürbittgebet, in dem der Beter für das exilierte Volk eintritt.
Verblüffend sind die Analogien, die das Scheiterhaufengebet Eleasars (4Makk 6,26–30) und die Passion Jesu verbinden. Dass zwischen dem Gebet des Manasse aus Qumran (4Q381 Fr 33) und dem Gebet des Manasse in der LXX (Ode 12) keine textliche Übereinstimmung, sondern lediglich ein gemeinsamer Bezug auf die in 2Kön 21,1–18 vorausgesetzte Situation besteht, ist anhand beider hier abgedruckter Texte leicht nachzuvollziehen. Philo legt Abraham in Her 24–29 ein Gebet in den Mund, in dem das Vertrauen auf Gottes Verheißungen in idealtypischer Weise entwickelt wird. In SpecLeg I 41–42.45 bringt er in einem Gebet des Mose die Gottesbegegnung am Sinai im Horizont von Mysterienfrömmigkeit zur Sprache. Wenn er in Mos I 289–291 das Gebet Bileams wiedergibt, modifiziert er die biblische Textvorlage so, dass eine Art Mustergebet für Nichtjuden entsteht. Josephus tilgt in dem Segen Isaaks über Jakob (Ant I 272–273) aus apologetischen Gründen alle jene Züge, die eine Abwertung der Völker gegenüber Israel andeuten könnten. Das Tempelweihgebet Salomos (Ant VIII 107–108.111–117) nutzt er dazu, den Tempel als einen universellen Ort des Gebetes zu präsentieren.
Natürlich vermisst man in dieser Sammlung auch den einen oder anderen Gebetstext. Das betrifft im Bereich der Pseudepigraphen z. B. das Gebet Abrahams (ApkAbr 17) oder das Gebet Jakobs (KlimJak 2,5–15), die einerseits (ähnlich der Oratio Jacobi) den Bereich der Magie, andererseits aber auch die Hymnen der Hekhalotmystik anklingen lassen. Doch wenn man ihr Fehlen bemerkt, dann ist – wie das Vorwort vorsorglich bemerkt (2) – bereits eines der Ziele dieses Studienbuches erreicht.
Die Gebete, die hier zusammengestellt vorliegen, sind das Er­gebnis sorgfältiger literarischer Stilisierung. Zugleich führen sie immer wieder auf Situationen zurück, die ihren Ursprung in Liturgie und Frömmigkeit haben. In beiden Bereichen (dem des Schreibtischs und dem der spirituellen Praxis) sind sie deshalb auch im Verlauf vielgestaltiger Rezeptionswege wirksam geworden. Das Studienbuch lädt ein, solche Bezüge zu entdecken. Es bietet Studierenden wie Fachleuten gleichermaßen eine Fülle von Anregungen und Anleitungen. Als vade mecum für alle, die sich mit den biblischen Gebetstraditionen beider Testamente beschäftigen, dürfte ihm auf lange Zeit ein fester Platz sicher sein.