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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

40–42

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Reif, Stefan C.

Titel/Untertitel:

Jews, Bible and Prayer. Essays on Jewish Biblical Exegesis and Liturgical Notions.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2017. VIII, 377 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 498. Geb. EUR 119,95. ISBN 978-3-11-048436-6.

Rezensent:

Beate Ego

Der Band des renommierten Gelehrten Stefan C. Reif, der von 1973 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2006 Direktor der »Taylor-Schechter Genizah Research Unit« in Cambridge war und der zu den besten Kennern der Funde aus der Kairoer Genizah gehört, versammelt insgesamt fünfzehn Aufsätze, die in der Zeit zwischen 1996 und 2017 publiziert wurden; ein weiterer Beitrag »Medieval Jewish Commentators on Numbers 13« wird hier zum ersten Mal veröffentlicht (108–143). Dabei spannt er einen weiten Bogen, der mit einem Forschungsüberblick zur Damaskusschrift aus der Kairoer Geniza (»The Damascus Document from the Cairo Genizah: Its Discovery, Early Study and Historical Significance«, 10–33) und einem Überblick zur jüdischen Bibelauslegung von der Antike bis in die Gegenwart (»Aspects of the Jewish Contribution to Biblical Interpretation«, 34–49) beginnt, um dann verschiedene paradigmatische Einzelstudien zur jüdischen Auslegung einzelner biblischer Kapitel (so zur frühen rabbinischen Auslegung von Gen 38, zu klassischen jüdischen Kommentaren zu Ex 2, zu mittelalterlichen jü-dischen Kommentaren zu Num 13 sowie zur jüdischen Auslegung von Ps 93) bzw. zur Semantik einiger zentraler Begriffe und Tra-ditionen in der jüdischen Gebetstradition in antikjüdischen und f rühmittelalterlichen Traditionen (u. a. zur Figur Davids, zum Konzept der Geschichte, zu Friede, Vergebung, dem Motiv der Vaterschaft Gottes oder zu Gottesepitheta) folgen zu lassen.
Aus der Fülle der Beiträge können in diesem Rahmen hier nur einige exemplarisch vorgestellt werden. Für die Forschung sind die semantischen und traditionskritischen Untersuchungen von be­sonderer Bedeutung. So kann R. in seinem Beitrag »Some Comments on the Connotations of the Stem רעג in Early Rabbinic Texts« (165–179) zeigen, dass das Bedeutungsspektrum des Begriffes in den Midraschim von seinen moralischen und autoritativen Aspekten über Zurückweisung und Tadel bis zum Ausdruck des Verfluchtseins und der Machtausübung Gottes über dämonische Kräfte und Naturelemente reicht. Damit weist der Begriff durchaus auch eine Nähe zu seiner biblischen Verwendung auf, wo »Schelten« ebenfalls eine zerstörerische Dimension haben und Gottes Macht über die Chaoskräfte aufzeigen kann. In seinem Beitrag »On some Connotations of the Word Ma’aseh« (180-195) betont R. nach einem Überblick zu verschiedenen Angaben in einschlägigen lexikographischen Werken auf der Basis von mittelalterlichen und modernen Kommentatoren dessen semantische Breite, die in den Bedeutungsfeldern »Recht/Moral«, »Fremdgötterdienst«, »Liturgie« und »göttliche Macht« anzusiedeln ist. Ein breites seman-tisches Feld kann R. in seinem Beitrag »How did Early Judaism Understand the Concept of ‘Avodah?« (196–209) auch für den Terminus »‘Avodah« festmachen. Hier untersucht er die Texte aus Qumran, frühjüdische griechische Überlieferungen sowie rabbinische Traditionen, und es wird deutlich, dass der Begriff ein viel breiteres Spektrum hat als in den Wörterbüchern angegeben. Dies zeigt insbesondere dessen Verwendung in Qumran: »It includes numerous kinds of daily tasks, whether menial, military or communal; various types of approved or disapproved behaviour; as well as divine worship« (200). Während sich die Bedeutung des Begriffes in der Literatur der Hebräischen Bibel zunehmend auf dessen religiösen Aspekt verengt, findet in der späteren Literatur wieder eine Ausweitung desselben statt.
In seinem Beitrag »Wisdom Traditions in Some Early Rabbinic Prayers?« (210–230) verweist R. auf weisheitliche Traditionen in der frühjüdischen und rabbinischen Literatur, auf Anklänge an diese in den Segenssprüchen und Dankgebeten, ihren Zusammenhang mit den Schema-Rezitationen, der ‘Amidah bzw.dem Schemoneh ‘Esre und dem ‘Alenu sowie in der Passah-Liturgie. Daraus kann er schließen, dass weisheitliche Traditionen im weitesten Sinne (sowohl praktische Weisheit als auch Weisheit als Einsicht in kosmologische Zusammenhänge) als Teil der Lehre, des Torastudiums und des Weltverständnisses in die rabbinische Literatur und jüdische Liturgie inkludiert wurden. In dem Beitrag »The Function of History in Early Rabbinic Liturgy« zeigt R., dass sowohl für die rabbinische Literatur als auch die nachtalmudische liturgische Tradition der Rückgriff auf historische Motive eine zunehmend große Rolle spielt. Dabei kommt dem Aspekt der Dankbarkeit für die erfahrene göttliche Hilfe und seine Wundertaten große Bedeutung zu; gleichzeitig können solche Rückblicke auch als eine Basis für eschatologische Hoffnungen fungieren.
Der Aufsatz »The Fathership of God in Early Rabbinic Liturgy« wiederum legt den Gebrauch des Begriffes »Vater« als Gottesbezeichnung in der Hebräischen Bibel, den Apokryphen, in Qumran und in den neutestamentlichen Schriften bis hin zur rabbinischen Liturgie dar und untersucht dann den liturgischen Gebrauch der verwendeten Begriffe (wie »unser Vater«, »unser Vater, unser Kö­nig«, »gnädiger Vater« oder »unser Vater im Himmel«) in ihrem jeweiligen Kontext. Dabei kommt R. zu dem Ergebnis, dass sich ein solcher Sprachgebrauch lediglich zwischen dem 4. und 9. Jh. etablierte, während er davor wahrscheinlich aufgrund des Gebrauchs in der Umwelt und danach aufgrund der islamischen oder christ-lichen Konnotation gescheut wurde und wohl zu keiner Zeit eine »close, intense and warm Jewish relationship with God« (328) ausdrücken sollte. Schließlich sei noch auf den letzten Beitrag des Bandes »Some Divine Metaphors in Early Rabbinic Liturgy« verwiesen. Hier nimmt R. den Gebrauch traditioneller Metaphern wie »Schild Abrahams«, »Fels Isaaks«, »Mächtiger Jakobs« bzw. Gottesepitheta wie »Hirte Israels«, »Schutz« oder »Wohnstatt des Segens« in rabbinischen und liturgischen Überlieferungen in den Blick. Dabei zeigt sich, dass diese Begriffe einerseits in den späteren Texten in die mischnische Sprache integriert wurden, dass es aber andererseits auch im Kontext einer Abgrenzung vom Christentum zu einer Zurückdrängung von bestimmter Gottesbezeichnungen – so z. B. »Hirte Israels« (cf. Lk 15,4–7) – kam.
Der vorliegende Band zeichnet sich nicht nur durch interessante Einzelstudien, sondern auch durch seine innere Kohärenz aus. R. zeigt in ansprechender Art und Weise die enge Bezogenheit von Begriffsgeschichte und der Entwicklung von theologischen Konzepten sowie die zahlreichen Traditionslinien zwischen der biblischen Literatur und den späteren liturgischen Traditionen. Von besonderem Interesse sind die Verweise auf die Bezogenheit von Entwicklungen in der jüdischen Liturgie mit Entwicklungen in der christ-lichen Tradition, denn hier eröffnet sich ein weites Feld für weitere Forschungen zur Entwicklung und Theologie jüdischer Liturgie.