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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

35–37

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gruen, Erich S.

Titel/Untertitel:

The Construct of Identity in Hellenistic Judaism. Essays on Early Jewish Literature and History.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2016. XIV, 574 S. = Deuterocanonical and Cognate Literature Studies, 29. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-037302-8.

Rezensent:

Michael Tilly

Wissenschaftliche Auftragsarbeiten für Kongresse und Festschriften binden zwar ein nicht geringes Maß an Zeit und Arbeitskraft, werden aber häufig nur in Sammelbänden heterogenen Inhalts und geringer Auflage publiziert, deren Rezeption und »Impact« zumeist recht überschaubar sind. Vor diesem Hintergrund erleichtert die vorliegende Sammlung von insgesamt 23 zum Teil an entlegenen Orten veröffentlichten Aufsätzen zu unterschiedlichen Aspekten sowohl der Geschichte und Literatur der Juden in der Antike als auch der jüdischen Wahrnehmung der zeitgenössischen griechisch-römischen Welt die Wahrnehmung der zahlreichen wichtigen Beiträge Erich S. Gruens zur Erforschung des hellenistischen Judentums ganz erheblich.
In seiner Einführung (1–3) würdigt Martin Goodman die maßgebliche Bedeutung des an der University of California, Berkeley, lehrenden Althistorikers insbesondere für die produktive Zusammenarbeit der Fächer Judaistik und Alte Geschichte. Der erste Buchabschnitt enthält zwei Arbeiten zu übergreifenden Themen. Zunächst (7–20) geht es um den paradoxen Zusammenhang zwischen der kulturellen Selbstbehauptung eines Volkes oder einer gesellschaftlichen Gruppe und ihrer gleichzeitigen Anpassung an benachbarte bzw. dominante Zivilisationsformen: »Ancient societies defined themselves by reference to ›the other‹, but did so most effectively by expropriating ›the other‹« (20). Sodann wird in ausführlicher Weise und anhand zahlreicher Beispiele der prägende Einfluss des Hellenismus auf die jüdische Literatur zur Zeit des zweiten Tempels dargestellt (21–75).
Der zweite Abschnitt thematisiert Facetten jüdischer Identität innerhalb der griechisch-römischen Gesellschaft. Behandelt werden legendarische und fiktionale »Erinnerungen«, mittels derer jüdische Autoren an die hellenistische Tradition anknüpften und zugleich eine distinktes kulturelles Selbstverständnis markierten (79–94), die identitätstiftenden Funktionen der literarischen Konstruktion bereits seit Abraham bestehender verwandtschaftlicher Beziehungen des Judentums mit anderen Völkern (95–111) sowie das ebenso differenzierte wie fluide Verhältnis zwischen »Judentum« und »Hellenismus«, welches sich weder als »Kulturkampf« noch als allgemeiner Assimilationsprozess hinreichend beschreiben lasse (113–131). Ein Beitrag (133–152) befasst sich mit der reziproken Wahrnehmung (bzw. Konstruktion) eines Traditionszusammenhangs zwischen jüdischer Weisheit und griechischer Philosophie bei jüdischen und paganen Autoren. Ein weiterer (153–166) nimmt die in einem fingierten Freundschaftsbrief im 1.  Makkabäerbuch behaupteten engsten Beziehungen der Spartaner zu den Judäern aufgrund ihrer Stammverwandtschaft in den Blick.
Der dritte Abschnitt fokussiert die gegenseitige Wahrnehmung von Juden und Nichtjuden. Dabei geht es als Erstes um die komplexe Darstellung und Beurteilung des Griechentums in Texten, die zunächst einen innerjüdischen Diskurs abbilden (169–196): »They simultaneously differentiated their nation from that of the Greeks and justified their own immersion in a world of Hellenic civilization« (195 f.). Einem Aufsatz zu Fortschreibungen der Exodusgeschichte im Rahmen paganer judenfeindlicher und jüdischer apologetischer Texte (197–227) folgt eine Untersuchung zur Perserherrschaft zur Zeit des zweiten Tempels im Spiegel jüdischer Quellen (229–244). Beleuchtet werden die eigentlichen Intentionen sowohl der gegenseitigen Invektiven graeco-ägyptischer Autoren und des Flavius Josephus in Contra Apionem I (245–263) als auch des sogenannten »Judenexkurses« in den Historien des Tacitus (265–280).
Im vierten Abschnitt des Buches finden sich Beiträge zu historischen Einzelfragen. Gefragt wird nach der Verhältnisbestimmung des Diasporajudentums zum »Mnemotop« Jerusalem und seinem Tempel (283–312), nach den Zusammenhängen zwischen Judenfeindschaft und politischen Krisenzeiten in der antiken Gesellschaft (313–332) und nach der (gemäß G. ausschlaggebenden) Verantwortung des Seleukidenherrschers Antiochios IV. für die gewaltsame »Religionsverfolgung« in Jerusalem und Judäa (333–357): »Antiochus victimized the Jews in a Seleucid power play« (357). Drei Aufsätze widmen sich nacheinander der Tempelgründung des Onias IV. in der Stadt Leontopolis im östlichen Nildelta (359–382), der Machtpolitik des Vasallenherrschers Herodes d. Gr. (383–395) und der intentional gefärbten Zeichnung des Bildes Kaiser Caligulas in den apologetische Schriften Philons von Alexandreia (397–409): »The philosopher-historian conveyed a vivid narrative with dramatic force, driven by loathing for the emperor who had mocked and summarily dismissed his embassy on behalf of the Alexandrian Jews« (409).
Der fünfte Buchabschnitt enthält instruktive Beiträge zu verschiedenen literarischen Zeugnissen der kulturellen Begegnung zwischen Juden und Nichtjuden im Zeitalter des Hellenismus, nämlich zu der Entstehungslegende der griechischen Toraübersetzung im Aristeasbrief (413–436), zum fragmentarisch erhaltenen Geschichtswerk des alexandrinisch-jüdischen Schriftstellers Artapanos (437–450), zum dritten Buch der sibyllinischen Orakel, dessen jüdische Herkunft weithin als gesichert gilt (451–471), sowie zu Pseudo-Philons Nacherzählung der biblischen Geschichte vom Beginn der Schöpfung bis zum Tod Sauls im Liber Antiquitatum Biblicarum (473–485). Im letzten Beitrag des Bandes unternimmt G. eine inhaltliche und formale Verhältnisbestimmung zwischen der griechischen Literatur der Prinzipatszeit und hellenistisch-jüdischen Schriften wie die Schriften Philons, das 4. Makkabäerbuch, die Gnomen des Pseudo-Phocylides sowie die romanartige Erzählung Joseph und Aseneth (487–503). Beigegeben sind ein Abkürzungsverzeichnis (505–511), eine Bibliographie (512–541) und Re-gister (542–574).
Insgesamt enthalten die Beiträge des lesenswerten Sammelbandes eine Fülle von aufmerksamen Textbeobachtungen und gründlichen historischen Analysen zu wichtigen Gesichtspunkten der Geschichte und Literatur des hellenistischen Judentums.