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Ausgabe:

Januar/2020

Spalte:

33–35

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Gafni, Isaiah M.

Titel/Untertitel:

Jews and Judaism in the Rabbinic Era. Image and Reality – History and Historiography.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2019. X, 547 S. = Texts and Studies in Ancient Judaism, 173. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-152731-9.

Rezensent:

Günter Stemberger

Isaiah M. Gafni ist emeritierter Professor für Jüdische Geschichte des Zweiten Tempels und der talmudischen Zeit an der Hebräischen Universität. Zentral in seiner Forschung und in seinen Publikationen war das babylonische Judentum, doch hat er auch zu anderen Fragen der jüdischen Geschichte viel gearbeitet. Hier versammelt er 23 Aufsätze aus den Jahren 1981–2015, ohne Updates, doch zehn aus dem Hebräischen übersetzt. Einführend (1–10) bietet er einen Überblick über die Aufsätze, erwähnt spätere Forschung zum Thema und auch, wo er seitdem seine Meinung geändert hat, i.a. kritischer geworden ist.
Im ersten Teil, History and Historiography, untersucht G. in Josephus and 1 Maccabees (13–27) deren jeweilige Darstellung der hasmonäischen Kriege. Wo Josephus von 1Makk abweicht, nimmt G. keine zusätzlichen Quellen an; hinreichende Erklärung ist stets die Ideologie des Josephus, vor allem die Betonung der väterlichen Gesetze, für die man auch zu sterben bereit ist. In »Pre-Histories« of Jerusalem in Hellenistic, Jewish and Christian Literature (29–42) geht G. auf die vordavidische mythologische »Geschichte« Jerusalems in nichtjüdischen Texten, im Midrasch, im Neuen Testament und bei Kirchenvätern ein; Jerusalem ist der Ort von Adams Ursprung und Grab. Rabbinic Historiography and Representations of the Past (43–58) skizziert die verschiedenen Begründungen der Forschung für ein fehlendes historisches Interesse der Rabbinen und deren Rabbinisierung der biblischen Vergangenheit. The Hasmonaeans in Rabbinic Literature (59–75) wendet sich gegen Autoren, nach denen die Rabbinen die Hasmonäer totschwiegen oder ihnen feindlich gesonnen waren. Dazu von G. dazu zitierte rabbinische Texte kommen meist aus dem babylonischen Talmud. Wie die Rabbinen so spät auf einmal zu diesem »Wissen« kommen, erklärt G. nicht. In Jerusalem in Rabbinic Literature (77–106) bespricht G. haggadische Texte zur Größe Jerusalems in der Endzeit, Aussagen zum halakhischen Status der Stadt, die von vielen Halakhot befreit ist, und Texte in Erinnerung an Jerusalem und seinen Status nach der Zerstörung. Fast alle Belege sind sehr spät (etwa Midrasch Psalmen). Zwei Studien zur Iggeret Rav Sherira Gaon aus dem Jahr 987 schließen diesen Teil ab. In On the Talmudic Chronology in Iggeret Rav Sherira Gaon (107–132) bewertet G. die darin genannten 35 Daten der talmudischen Zeit als chronologisch zuverlässig. On Talmudic Historiography in the Epistle of Rav Sherira Gaon: Between Tradition and Creativity (133–160) zeigt, wie Sherira talmudische Texte und Einzelsätze zielbewusst zu einer Erzählung zusammenbaut und disparate Zitate logisch verbindet. Beide Studien bieten eine grund-legende Analyse dieses wichtigen Textes zur talmudischen Ge­schichte.
Im zweiten Teil, On the Rivers of Babylon, wendet sich G. dem babylonischen Judentum zu. Einen nüchternen Überblick bietet The Political, Social, and Economic History of Babylonian Jewry, 224–638 CE (163–186). Da zur Realgeschichte nur wenig gesichert ist, stehen religiöse Vorstellungen, Wirtschaft u. Ä. im Zentrum. How Babylonia Became »Zion«: Shifting Identities in Late Antiquity (187–207) schildert vor allem anhand von Pirqoi ben Baboi (Anfang 9. Jh.), wie Babylonien immer mehr beansprucht, anstelle von Palästina Ausgangspunkt der wahren Tora zu sein; ein Addendum zeigt, wie in derselben Linie auch biblische und spätere Ereignisse in Babylonien lokalisiert werden. Das Selbstbewusstsein des babylonischen Judentums zeigt auch der Beitrag Babylonian Rabbinic Culture (209–246); man sieht Babylonien als »heiliges Land« gleich Israel. Diesen Stolz auf die babylonische Herkunft, aber auch Lokalpatriotismus innerhalb Babyloniens dokumentiert auch der Beitrag Expressions and Types of »Local Patriotism« among the Jews of Sasanian Babylonia (247–255). Gegen Historiker, nach denen Konversionen in Babylonien verbreitet waren, zeigt Converts and Conversion in Sasanian Babylonia (257–268), dass es nur sieben klare Belege gibt, konzentriert auf Maḥoza im frühen 4. Jh. In Nestorian Literature as a Source for the History of the Babylonian Yeshivot (269–280) zeigt G., wie die Statuten der Schule von Edessa (ab 489 in Nisibis), die Organisation der rabbinischen Schulen Babyloniens beleuchten. In deren Umfeld fanden auch die vielbesuchten öffentlichen Sabbatvorträge statt, die G. im letzten Beitrag dieses Teils, Public Lectures in Talmudic Babylonia: The Pirqa (281–291), bespricht.
Der dritte Teil, Center and Diaspora, bietet gleichsam das Gegenstück zur babylonischen Selbstdarstellung. The Status of Eretz Israel in Reality and in Jewish Consciousness (295–303) zeigt, wie Aussagen zum Lob des Landes Israel und der Pflicht, darin zu wohnen, bald verbunden mit negativen Aussagen über die Diaspora, sich erst nach dem Bar Kokhba-Aufstand finden. Auch die Bedeutung des Begräbnisses in Israel wird nun wichtig, wie Reinterment in the Land of Israel (305–314) belegt. In Epistles of the Patriarchs in Talmudic Literature (315–325) betont G. deren feste Verwendung von Hebräisch auch in aramäischem Kontext, wohl als »nationale« Sprache, gleich, ob Originale oder redaktionelle Bearbeitungen. In Reaktion auf D. Mendels/A. Edrei, Zweierlei Diaspora (2010), die sprachliche Gründe für den fehlenden Einfluss Palästinas auf die römische Diaspora sehen, wendet sich G. in Another ›Split Diaspora‹? How Knowledgeable (or Ignorant) Were Babylonian Jews about Roman Palestine and Its Jews? (327–341) gegen eine zu strikte Trennung Palästinas von der westlichen Diaspora, aber auch gegen ein zu enges Nebeneinander von Palästina und Babylonien. Eher könnte man Babylonien, das seinen eigenen Talmud entwickelt, als split diaspora bezeichnen. Ein umfassender Überblick The Institution of Marriage in Rabbinic Times (343–357) beschließt diesen Teil.
Ein vierter Teil umfasst Reflections on Talmudic History in Modern Scholarship. Talmudic Research in Modern Times: Between Scholarship and Ideology (361–376) zeigt den ideologischen Hintergrund der Bevorzugung palästinischer Traditionen in der Forschung des 19. Jh.s, Rethinking Talmudic History (377–396) die Herausforderung von Literar- und Redaktionskritik für eine zu direkte historische Verwertung rabbinischer Texte. Nochmals zu ideologischen Hintergründen in der Darstellung der Rabbinen im 19.–20. Jh. geht es in Will the ›Real‹ Rabbis Please Stand Up: On the Repackaging of the Rabbinic Model in Modern Times (397–409). A Generation of Scholarship on Eretz Israel in the Talmudic Era: Achievement and Reconsideration (411–439) beschließt den Band mit einem Rückblick auf die Entwicklung der Erforschung des talmudischen Israel in neuerer Zeit.
G. ist gegenwärtig einer der wichtigsten Historiker der rabbinischen Zeit, wie hier eindrücklich belegt wird. Er bietet einen ausgezeichneten Überblick zu Geschichte und Kultur des babylonischen Judentums, aber auch wichtige Studien zum Selbstverständnis der beiden großen jüdischen Zentren in der Spätantike sowie zur Forschungsgeschichte. G. ist ein typischer Vertreter der israelischen Schule, der sich über die Jahrzehnte gemäßigt kritisch weiterentwickelt hat. Dieser Sammelband sei allen an der frühen jüdischen Geschichte Interessierten wärmstens empfohlen.