Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1305–1307

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Rink, Sigurd

Titel/Untertitel:

Können Kriege gerecht sein? Glaube, Zweifel, Gewissen – Wie ich als Militärbischof nach Antworten suche.

Verlag:

Berlin: Ullstein Buchverlage 2019. 288 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 978-3-550-20004-5.

Rezensent:

Ulrich H. J. Körtner

In der kirchlichen friedensethischen Debatte der zurückliegenden Jahrzehnte hat sich ein Paradigmenwechsel von der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg zur Lehre vom gerechten Frieden vollzogen. Ob die Lehre vom gerechten Krieg tatsächlich obsolet ist, wird in Philosophie und Theologie allerdings durchaus unterschiedlich beurteilt und weiterhin kontrovers diskutiert. Das vorliegende Buch des evangelischen Militärbischofs Sigurd Rink ist kein theoretischer Entwurf, sondern ein erfahrungsgesättigter und autobiographisch angelegter Rechenschaftsbericht eines Theologen und kirchlichen Verantwortungsträgers, der sich vom »Fun-damentalpazifisten zum Militärbischof« (29 ff.) gewandelt hat. R.s praxisorientierte Reflexionen, die sich an ein breites Publikum richten, sind auch für Fachethiker eine wertvolle Lektüre.
Auch wenn er davon überzeugt ist, dass Krieg nach Gottes Willen grundsätzlich nicht sein soll, beantwortet R. die Frage, ob Kriege gerechtfertigt sein können, inzwischen »sehr differenziert« (27), hält er doch »rechtserhaltende Gewalt« (ebd.) unter bestimmten Umständen als Ultima Ratio für ethisch gerechtfertigt. Allerdings haben sich seine Vorbehalte gegenüber der westlichen Außen- und Verteidigungspolitik seit seinem Amtsantritt verstärkt. R. versteht sich heute im Sinne M. Webers als »Pragmatiker und Verantwortungsethiker« (50), der den nach 1945 bzw. 1968 in Deutschland kultivierten »Sündenstolz« (44), also ein aus der Bußfertigkeit nach der NS-Zeit moralisches Überlegenheitsgefühl, rückblickend kritisch beurteilt und heute auch für die Militärseelsorge »als Zwillingsschwester der Inneren Führung« (102) eine Lanze bricht. Zu­treffend urteilt R., »dass der fundamentalpazifistische Rigorismus der Acht zigerjahre sozusagen im Windschatten der Geschichte gedeihen konnte« (44), und fordert berechtigterweise, die Kirchen müssten sich der sicherheits- und geopolitischen Lage der Gegenwart stellen, die er mit persönlichen Erfahrungsberichten illustriert. Es war vor allem der Völkermord in Ruanda 1994, der R.s radikalpazifistische Gesinnung grundlegend erschütterte. Er zog daraus die Lehre, dass es im Notfall nicht nur der rechtserhaltenden, sondern auch der »rechtserzwingenden Gewalt« (63, vgl. 109) bedarf, die militärische Mittel einschließt. R. hat seither gelernt, die bis zu Augustin zurückreichende Lehre vom gerechten Krieg mit neuen Augen zu lesen und als »Zivilisierungsinstrument« (78) zu würdigen, auch wenn er an die Idee vom »gerechten Frieden« glaubt (67) und die Kernaussagen der Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 gegen mögliche Einwände verteidigt.
In einem eigenen Kapitel (68–110) zeichnet R. die Entwicklung von der Idee des gerechten Krieges zur Lehre vom gerechten Frieden nach, wobei er Luthers Zwei-Regimenten-Lehre und seine Soldatenethik bemerkenswert positiv beurteilt und ihn als »Reformator mit friedensethischer Weitsicht« (84) würdigt, um anschließend die historische und systematische Bedeutung von Kants Schrift »Vom ewigen Frieden« in Erinnerung zu rufen. Nach R.s Ansicht »führt eine direkte Linie von Luther und der Reformation über den Begriff des souveränen Staatsbürgers, des Citoyen, wie ihn die Französische Revolution auf Grundlage der Aufklärung vertrat, zum Konzept der Inneren Führung und dem ›Staatsbürger in Uniform‹« (98). Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht beurteilt R. inzwischen kritisch. Ein verpflichtender Dienst im nationalen oder besser noch im europäischen Rahmen könne das Bewusstsein für die umfängliche staatsbürgerliche Verantwortung aller Bürger für das Ge­meinwesen stärken (263). Vor- und Nachteile einer Berufsarmee wären allerdings – auch unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten – umfassender zu diskutieren, als es bei R. geschieht. Da­bei wären auch die einst von Albert Schweitzer gegen eine allgemeine Wehrpflicht vorgetragenen Argumente zu bedenken, der die Frage aufgeworfen hat, ob die allgemeine Wehrpflicht tatsächlich die Demokratisierung einer Armee oder im Gegenteil die Militarisierung einer Gesellschaft fördert. Die Antwort auf diese Frage liegt keineswegs auf der Hand.
Das umfangreichste Kapitel (111–245) widmet sich den ethischen Herausforderungen deutscher Militäreinsätze vom Kosovo bis Afghanistan. Grundlegend sind für R. die Prinzipien der Schutzverantwortung und des Multilateralismus, wobei er allerdings unzulässigerweise Mt 25, die Goldene Regel und Kants kategorischen Imperativ in eins setzt (118, vgl. 121). Dem Westen wirft R. in sicherheitspolitischen Fragen vielfach fehlende Umsicht vor, bekennt von sich aber, er »denke nicht in erster Linie politisch. Für mich steht der einzelne Mensch im Mittelpunkt« (120). Den deutschen Afghanistan-Einsatz bewertet R. im Ergebnis kritisch und teilt die Ansicht der früheren EKD-Ratsvorsitzenden M. Käßmann, nichts sei gut in diesem Land (vgl. 210). In einem Punkt möchte R. allerdings widersprechen: Die Situation von Frauen und Mädchen habe sich in Afghanistan deutlich verbessert (244). Was die europäische bzw. deutsche Flüchtlings- und Migrationspolitik, insbesondere seit dem Sommer 2015, betrifft, bewegt sich R. auf der Linie von Bundeskanzlerin Merkel. R. ist davon überzeugt, die fortdauernde Flucht- und Migrationsbewegung aus ärmeren Regionen, die nicht nur unter Krieg, sondern auch unter wirtschaftlicher Misere leiden, sei nicht aufzuhalten (167). Er verhehlt nicht seine Sympathie für eine Politik der offenen Grenzen, will aber auch die Notwendigkeit bestehender Staatsgrenzen und ihrer Kontrolle nicht in Abrede stellen. Die oft gehörte und von R. geteilte Forderung, Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, verbunden mit der Phrase, die Ereignisse von 2015 dürften sich nicht wiederholen, gibt freilich keine hinreichende Antwort auf die Migrationsproblematik.
Im Schlusskapitel (246–279) diskutiert R. eine Reihe von Zu­kunftsfragen, etwa solche, die die Kriege der Zukunft oder die künftige Struktur und den Auftrag der Bundeswehr sowie die Militärseelsorge betreffen. Letztere sei »ein Beispiel, wie kirchliches Leben in Zukunft funktionieren kann: als ›Gemeinde auf Zeit‹ oder als ›Gemeinde bei Gelegenheit‹« (269). Ein konkreter Vorschlag zum Schluss lautet, analog zum Feld der Bio- und Medizinethik in Deutschland auch einen Ethikrat für militärische Themen zu gründen (vgl. 279). Den Verantwortungsethiker R. treibt die be­rechtigte Sorge um, »eine Christenheit, die – mitten in der vergleichsweise komfortablen Welt des Westens – ausschließlich Prinzipien totaler Gewaltlosigkeit hochhält, könnte ihr eigenes Gutsein abseits der Erlösung suchen, die Gott in Jesus Christus vollbracht hat« (249). Wenn R. einer »Moral des perfekten Friedens« (250) eine Absage erteilt, wüsste man allerdings gern, was denn wohl eine Moral des unvollkommenen Friedens ist. Worin unterscheiden sich die Moral eines perfekten Friedens und die Idee – R. spricht vom »Leitbild« (256) – des »gerechten Friedens«, welche die evangelischen Kirchen heutzutage predigen? Ist es allein die Absage an eine radikalpazifistische Gesinnungsethik? Bleibt der gerechte Friede im umfassenden Sinne nicht auch eine Utopie? Hierzu würde man gern noch mehr erfahren.