Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1303–1305

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Põder, Thomas-Andreas

Titel/Untertitel:

Solidarische Toleranz. Kreuzestheologie und Sozialethik bei Alexander von Oettingen.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 509 S. m. 5 Abb. = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 156. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-56451-6.

Rezensent:

Alf Christophersen

In der von Heinrich Assel in Greifswald betreuten Dissertation von Thomas-Andreas Põder aus dem Jahr 2014 hat sich der estnische und jetzt in Tallinn lehrende Theologe P. mit Alexander von Oettingen (1827–1905) auseinandergesetzt. Von Oettingen repräsentierte über Jahrzehnte in Dorpat/Tartu das Fach Systematische Theologie. Er prägte den Begriff »Sozialethik« und hat sich dadurch in die Geschichte der Disziplin eingeschrieben. »Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage« (2 Bde., 1868–1873; 3. Aufl. 1882 unter dem Titel »Die Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine Socialethik«) – so das entscheidende Werk. Der Einzelne ist immer durch Sozialisierungsprozesse geprägt. Es gibt keine Individual-, sondern nur Sozialethik. Das moralische Fehlverhalten des Individuums kann nur im Zusammenhang mit den (schädigenden) Wirkungen der Gesellschaft auf es angemessen beurteilt werden. Der Kulturlutheraner von Oettingen legte Gewicht auf starke Institutionen zur Eindämmung der Sünde. Mit seiner dreibändigen »Lutherischen Dogmatik« (1897–1902) legte er einen Entwurf vor, der ausgesprochen traditionsorientiert ausfiel.
Die Arbeit P.s besteht aus drei Hauptteilen: »Einleitung in die Studie und in das Werk von Oettingens« (I., 21–142), »Zwei Leitkonzepte in ihrer Genese: ›Theologie des Kreuzes‹ und ›Sozialethik‹ im Gesamtwerk« (II., 143–303) sowie »Die Kreuzestheologie in Gestalt einer Glaubenslehre und in ihrem Verhältnis zur Sozialethik« (III., 305–474). Ein Literaturverzeichnis, samt Bibliographie von Oettingens, und ein Personenregister beschließen den Band. Die Hauptteile sind vielfach untergliedert (vgl. das Inhaltsverzeichnis, 9–20).
Obgleich keine kritische Biographie von Oettingens existiert, hat P. es sich nicht zur Aufgabe gemacht, eine solche in Verbindung mit seinen Überlegungen zur »Kreuzestheologie und Sozialethik« vorzulegen. Er liefert nur Einzelaspekte, die für seine spezifische Fragestellung unmittelbar relevant sind. Auf eine systematische Erfassung und Auswertung von Archivmaterial und einzelnen (auto-)biographischen Texten wird verzichtet. Die Gestalt Alexander von Oettingen bleibt in ihren historischen und intellektuellen Konstellationen auf diese Weise eigentümlich blass.
P. will die bisherige Kreuzestheologie einer Revision unterziehen. Es sei ein Fehler, sie vorschnell im 20. Jh. zu verorten. Die eigentlichen Ursprünge lägen vielmehr weiter zurück: In von Oettingens Arbeiten werde die »theologia crucis ausdrücklich zur theologischen Leitkategorie erhoben«, dadurch könne »[i]hr Entstehungs- bzw. Entdeckungszusammenhang« nicht »in der Verschmelzung von Resultaten der erneuerten Luther-Forschung bzw. der sogenannten Luther-Renaissance mit den Hauptmotiven der dialektisch-theologischen Bewegung Karl Barths und anderer« (31) ausgemacht werden. So erhalte nicht zuletzt die für den vorliegenden Kontext einschlägige Dogmatik Gerhard Ebelings eine längere Vorgeschichte. Von Oettingen sei es, der sich »in der Postaufklärung« als Erster »in einer programmatischen Weise explizit auf Luthers Konzept der theologia crucis bezogen und sich in seiner systematisch-theologischen Arbeit daran konstruktiv orientiert« (147; vgl. 159) habe. Charakteristisch für von Oettingen ist, dass er seinem Aufsatz »Theologie und Kirche«, mit dem er 1859 die »Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche« eröffnete, als Motto ein aussagekräftiges Luther-Zitat voranstellte und es dann auch sachlich auslegte: »Theologia macht Sünder.« (158) In einer Anmerkung vermerkt P., in der Weimarer Ausgabe keinen Beleg im »Wortlaut« gefunden zu haben (Anm. 3) und auch sonst nicht – abgesehen von einer späteren erneuten Motto-Verwendung bei von Oettingen selbst, nur 1947 eine Aufnahme bei Julius Schniewind in seinen Überlegungen zur »Erneuerung des Pfarrstandes« (dort aber auch nur mit Bezug auf von Oettingen). Nachgetragen werden kann deshalb vom Rezensenten als Beleg WA TR 2, Nr. 2028: » Medicina infirmum, mathematica tristem, theologia peccatorem facit.« Zur entsprechenden Übersetzung vgl. dann Walch, Bd. 22, Sp. 1533.
Zu kurz gegriffen sei es, aus ethischem Blickwinkel von Oettingen in seiner begrifflichen Prägekraft auf die Sozialethik zu reduzieren, vielmehr komme es darauf an, auch seine Verdienste um die »christliche Sittenlehre« zu würdigen. Dies könnte dazu beitragen, eine Aussage Emil Brunners besser zu verstehen, der 1932 in seinem Werk »Das Gebot und die Ordnungen« betonte, dass die Sittenlehre von Oettingens »damals noch nicht verstanden« worden sei: »die beste ethische Leistung des 19. Jahrhunderts blieb verschollen bis heute« (32; bei Brunner: 91 f.). P. gelingt es nun, den ethischen Intentionen des Dorpater Theologen intensiv näherzukommen, ob Brunner allerdings zuzustimmen ist, kann weiterhin durchaus bezweifelt werden. Das Niveau von Schleiermacher, Ritschl und anderen erreicht von Oettingen kaum. Seine Verdienste um Kreuzestheologie und (Sozial-)Ethik werden dadurch aber nicht ge­schmälert, wie P.s umfängliche Analysen von Forschungslage und vor allem Werk in seiner Genese detailreich dokumentieren. Besonders hingewiesen sei nur auf die enge Bindung von Oettingens an seine beiden entscheidenden Lehrer: den Dorpater Friedrich Adolf Philippi – er nennt ihn »geistlichen Vater« und »einen lutherische[n] Kerntheologe[n]« (130) – und den Erlanger Johann Christian Konrad von Hofmann, der durch seine Fokussierung auf die »Heilsgeschichte« beeindruckte (vgl. 142.153–155).
Das spezifische Anliegen P.s kann in seinem Versuch gesehen werden, die Kreuzestheologie und die realen, empirisch erfassbaren Lebenswelten des Menschen aufeinander zu beziehen. Die Moralstatistik ist es dann, die dazu beitragen kann, folgert von Oettingen, »›unsere[m] Bedürfniss nach concreter Erfassung des menschlich sittlichen Gesamtlebens‹ gerecht zu werden«. Das bedeutet, wie P. konkretisiert: »Versuchsweise, um die Ethikwissenschaft auf eine solidere wissenschaftliche Grundlage zu stellen«, bemühe sich der Dorpater Theologe darum, »die Moralstatistik in das Gesamtprojekt einer Erneuerung der Ethik als Sozialethik« (269) zu integrieren. Mit Nachdruck hebt P. hervor, dass es von Oettingen nicht darum gegangen sei, mit der Moralstatistik »normative[] Sittengesetze« (288) zu gewinnen. Das Innere des Menschen, sein Wille zur Erneuerung, könne durch sie nicht erfasst werden.
Aus der Perspektive einer Geschichte der Ethik fällt ein Ab­schnitt aus dem dritten Teil der Studie instruktiv aus. P. geht in ihm zunächst auf die Rezeption von Oettingens durch Ernst Troeltsch ein, der die »Dogmatik« rezensierte und urteilte, dass diese »die Gesamtanschauung des 17. Jahrhunderts« behaupte und die moderne Welt als eine »aus Oberflächlichkeit und grandioser Sündhaftigkeit gemischten Abfall« (364) einstufe. Zustimmender fiel dann die Aufnahme durch Walter Rauschenbusch aus, der 1901 mit Blick auf die »Dogmatik« resümierte: »[T]here is a largeness and sanity of view, wide historical perspective, and frequently a really illuminating suggestiveness.« (368)
Seine Untersuchung lässt P. auf die beiden Begriffe »Solidarität« und »Toleranz« zulaufen, mit denen sich nicht nur die theologische Zielrichtung von Oettingens angemessen erfassen lasse, sondern auch eine gegenwärtige Relevanz herausgestellt werden könne. Die »Solidarität Gottes mit der Menschheit in Jesus Christus ist zu­gleich eine heilsame Neuqualifikation der Menschheit, die im Einzelnen wirksam werden kann« (463). Eine Toleranz, die als solidarisch gelten könne, sei alles andere als indifferent, sondern beharre auf der Wahrheitsfrage.