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Ausgabe:

Dezember/2019

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Kreß, Hartmut

Titel/Untertitel:

Staat und Person. Politische Ethik im Umbruch des modernen Staates. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 294 S. = Ethik – Grundlagen und Handlungsfelder, 10. Kart. EUR 42,00. ISBN 978-3-17-026291-1.

Rezensent:

Matthias Neugebauer

Knapp 100 Jahre nach Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung und angesichts von Krisensyndromen westlicher Demokratien legt der Bonner Theologe Hartmut Kreß eine Politische Ethik vor. Sie kreist um den »Primat der Einzelperson« (11), insbesondere »ihren Schutz und [ihre] Freiheitsrechte« (12). In kritischer Prüfung ist der Entwurf ein Plädoyer für das und der Versuch einer Fortschreibung dessen, was der Vf. die »liberale Staatsidee« (13) oder die »liberale Option« (207) nennt.
Sein Projekt realisiert der Vf. in drei Teilen. Die ersten beide Teile sind vor allem historisch orientiert, wobei der Vf. betont, dass der Blick in die Geschichte kein Selbstzweck, sondern als »Lerngeschichte« (234) aufzufassen ist. Der dritte Buchteil entwickelt Grundlinien einer politischen Ethik der Person unter den Bedingungen des 21. Jh.s.
Im ersten Teil überprüft der Vf. theologische und juristische Staatsdeutungen auf ihre Modernitätstauglichkeit. Dabei wird der katholischen Kirche eine bleibende Reserve gegenüber der liberalen Option bescheinigt. Auch wenn sie ihre traditionelle »Ablehnung des Staats, der Demokratie und der individuellen Menschenrechte« in den 1960er Jahren »wenigstens im Prinzip zurückgezogen« hat, ist sie in der »Bejahung individueller Menschenrechte […] nicht konsequent« (18).
Mit Blick auf die protestantische Tradition sieht es nicht viel anders aus. Der Vf. konstatiert, dass »das protestantische Denken […] zu einer [modernen] Theorie des Staates […] substantiell ebenso wenig beigetragen hat wie die katholische Sichtweise« (23). Leidenschaftlich arbeitet sich der Vf. immer wieder an Fr. J. Stahl ab, der den Staat zu einer schöpfungstheologisch legitimierten »politischen Persönlichkeit« (30) überhöhte. Diese »schöpfungsdogmatische Fundierung der Staatsanschauung« (31) ist indes bereits bei Luther angelegt, tritt bei Schleiermacher zutage, schlägt dann bei Stahl voll durch und ist von Theologen wie W. Elert, D. Bonhoeffer, H. Thielicke und vor allem K. Barth wachgehalten worden. Auch Barths »Ein Reiche-Lehre« bleibt für den Vf. so »in der Vormoderne verhaftet« (49).
Auch klassische juristische und philosophische Staatsdeutungen (Fr. Hegel, K. Schmitt, R. Smend, E.-W. Böckenförde u. a.) hängen der fatalen »Idee der Staatsperson« (67) an, machen ihn zum »weltimmanenten Gott« (63). Wird der Staat jedoch als Person be­griffen, geraten die Personen im Staat ins Hintertreffen. Deshalb erweisen sich all diese Konzepte als nicht modernitätstauglich.
Modernitätstaugliche Impulse hat es dem Vf. zufolge durchaus gegeben. Er denkt dabei an Autoren wie B. Spinoza, M. Mendelssohn, H. Preuss, H. Cohen, H. Kelsen, H. Nawiasky oder H. Sinzheimer. Sie weisen allesamt eine »Affinität zu einer Staatsidee, die konzeptionell die Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte der einzelnen Menschen betont« (95) auf. Und sie waren alle Juden, was den Vf. zu der Einschätzung führt, dass der »liberale Impuls [von] Autoren jüdischer Provenienz in die moderne Staatslehre eingebracht« wurde (99). Komplementär dazu weist der Vf. auf den Antisemitismus juristischer Autoren wie K. Schmitt, R. Höhn oder R. Smend hin, aber auch auf Schleiermachers »Intoleranz gegenüber Juden« (212) und darauf, dass ebenso K. Barths »Denken […] vom Antijudaismus belastet« (86) ist.
Der zweite Buchteil steht für eine Ausweitung und Verschiebung des Blicks »vom Staat auf die Politik« (101). Von der Renaissance ausgehend fragt der Vf. nach »Leitmotive[n], […] die für eine heutige politische Ethik relevant sind« (100). Es gibt dabei fünf Stoßrichtungen: 1. Säkularisierung (u. a. M. v. Padua, M. Luther, W. v. Humboldt). Sie führt zur Forderung nach einem strikt »weltanschaulich neutralen Staat« (121); mit allen (auch finanziellen) Konsequenzen für Religionsunterricht, Staatsleistungen und Gottesbezug in der Verfassung. 2. Utopisches Denken (u. a. Th. Morus, Th. Hobbes, Th. Herzl). Es lehrt Toleranz und, dass »die staatliche Gestaltung künftiger soziokultureller Lebensbedingungen […] die persönlichen Grundrechte der Menschen zu beachten und sich auf ethische Verträglichkeitskriterien […] zu stützen« hat (145). Ihre Manifestation ist eine entsprechend utopische wie lebensdienliche Architektur. 3. Staat Macht Verantwortung (N. Machiavelli, T. Hobbes, M. Weber). Dies mündet in der Einsicht, dass »Politiker sich […] ihrer persönlichen ethischen Verantwortung zu stellen haben« (163). Sie betrifft heute vor allem die Technikfolgeabschätzung (Keimbahntherapie, Atommüll, IT). 4. Statt (Neo-)Paternalismus »Befähigungsgerechtigkeit« (205). Der Paternalismus ist zu überwinden. Das entspricht einer »Ethik der Staatsbürger« (200). Es geht um die Verantwortungsübernahme aller Bürger. Der Staat hat eine Gewährleistungsverantwortung dafür, dass alle Bürger in den Stand versetzt werden, die Verantwortung übernehmen zu können. Und: Dem Staat kommt nur noch die Rolle eines »Wertenotars« (197) zu. 5. Liberaler Rechtsstaat (J. Locke, M. Mendelssohn, F. Schleiermacher, W. v. Humboldt). Zentrum des Rechtsstaats ist der Mensch. Es geht um eine »anthropologische Staatsbegründung« (220). Dieses große Erbe vor allem Humboldts muss aber im Sinne der liberalen Option vor dem Hintergrund zunehmender technischer Komplexität und unter den Bedingungen der Globalisierung fortgeschrieben werden. Konkret bedeutet das den Auf- und Ausbau einer »psychosoziale[n] Beratung für Menschen in Entscheidungskonflikten« und eine »freiheitlich-rechtsstaatsbasierte Entwicklungspolitik« (225).
Teil 3 münzt die zentrale Stellung der Person in der politischen Ethik in dreifacher Beziehung aus: Person als politisches Subjekt, als normatives Kriterium und als Gegenstand politischer Zu­kunftsgestaltung. Beim ersten gilt klar: Wer politisch handelt, muss Verantwortung übernehmen. Dass Berufspolitiker Verantwortung nur vor ihrem Gewissen übernehmen, greift für den Vf. dabei zu kurz. Da passiert nichts anderes, als dass »Parlamentarier ihre subjektiven moralischen Einstellungen präskriptiv auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übertragen« (243). Deshalb tritt der Vf. für eine »überpersönliche[] Verantwortung« (244) ein. Referenz dieser Verantwortung ist die »ethische Vernunft«, d. h. »eine rationale Abwägung einschlägiger Werte und […] Handlungskonsequenzen und die [Ernstnahme] der Willensbildung in der Bevölkerung« (244). Vor allem Letzteres führt den Vf. zur Ablehnung einer Expertokratie und zur Kritik der repräsentativen Demokratie. Beides mündet im Votum für eine direkte Demokratie, die laut dem Vf. auch »sukzessive […] einzuführen und zu erproben« (253) wäre; resp. ist ebenso über »eine Komplementarität von indirekter und direkter Demokratie« (254) nachzudenken.
Bezüglich der Person als normatives Kriterium spricht sich der Vf. dafür aus, »den Personbegriff univok zu verwenden, so dass er sich allein auf die menschliche Person bezieht« (255). D. h. nicht nur Staaten, sondern auch Tiere und Roboter sind klar keine Personen.
Im allerletzten Teil geht es darum, was »Zukunftsgestaltung politisch-ethisch in der Logik des ›Primats der Einzelperson‹« (265) heißt. Der Vf. illustriert dies anhand der Personenrechte von Kindern, denn am »Interesse an Kinderrechten [wird] die Zukunfts-dimension von Politik in besonderem Maße ablesbar« (274). D. h. zunächst allgemein: Politisches Agieren hat sich immer an der Frage zu messen, ob es mit Blick auf die kommenden Generationen nachhaltig ist. Und d. h. konkret: Es ist konstruktiv über ein Wahlrecht für Kinder, über Kinderrechte im Kontext der Medizin und – mit Blick auf die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin – über »vorwirkende Rechte« (285) nachzudenken. In Bezug auf Letztes ist der Vf. der Meinung: »Es gilt sicherzustellen, dass das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Gesundheitsschutz, die der geborenen menschlichen Person gebühren, bereits im Vorhinein beachtet werden und dass sie als Schutzrechte antizipatorisch ausstrahlen« (285).
Alles in allem ist der Band ungemein lehrreich, gut strukturiert und geht immer wieder auch auf konkrete Problemfelder ein. In Bezug auf den ersten Teil darf allerdings gefragt werden, warum der Vf. auf der Suche nach liberalen Positionen und Impulsen ausgerechnet klassische liberale Theologen ausblendet. So hat schon Ritschl betont, dass der »Staat […] an sich gleichgültig gegen das Christentum [und] notwendiges Mittel zur Sicherung der sittlichen Freiheit« (UcR §32) sei, und Paul Tillich argumentierte für die »liberale Idee der Trennung von Kirche und Staat« (ST III, 205). Dass modernitätstaugliche Politik – wie der Vf. betont – säkular, zu­kunftsgewandt, verantwortungsbewusst, partizipationsgerecht und rechtsliberal zu sein hat, macht eine gut liberale Position aus. Es fragt sich aber, ob auch eine derart liberale Position ihrerseits noch offen ist für ideelle Gehalte, resp. welche Rolle in einer liberalen Gesellschaft das christliche Menschenbild spielen kann oder soll. Oder hatte hier R. Rothe mit seiner (vom Vf. aufgerufenen [112]) Diffusionsthese schon das letzte Wort? Schließlich: Die Ausdifferenzierungen des Personenbegriffs im dritten Teil setzen zum Teil originelle und nachdenkenswerte Impulse frei; und dass eine modernitätstaugliche Politiktheorie ihre Nagelprobe am Umgang mit der künftigen Generation findet, leuchtet unmittelbar ein. Aber diese Reflexionen wirken nach den beiden Hauptgängen eher wie ein Nachtisch denn wie eine tatsächliche systematische Ausbuchstabierung und Fortschreibung der liberalen Position. Das schmälert allerdings nicht den Wert dieses positionellen Bandes, der im Großen wie im Kleinen die Debatte bereichert und zweifelsohne zu weiteren Diskussionen anregen wird.