Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1299–1300

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Wille, Katrin

Titel/Untertitel:

Die Praxis des Unterscheidens. Historische und systematische Perspektiven.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber 2018. 563 S. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-495-48988-8.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Katrin Wille hat sich mit dieser Arbeit im November 2016 an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena habilitiert. Nach ihrer Dissertation über Systemdenken. System als Konstellation in Wittgensteins Tractatus und System als Konstitu-tion in Hegels Seinslogik (2003) und ihrer gemeinsam mit T. Schönwälder und T. Hölscher herausgegebenen Arbeit George Spencer Brown. Eine Einführung in die »Laws of Form« (22004) ist das ihre bislang detaillierteste Studie zum Unterscheiden. Genauer geht es um das differenzsensible Ausarbeiten der Differenzierung zwischen Unterschieden, die es in der Wirklichkeit gibt, und Unterscheidungen, die durch uns getroffen werden (47). Damit ist eine Differenz vorausgesetzt zwischen dem, was ist, und dem, was wir machen. Aber nicht diese untersucht die Vfn., sondern die zwischen Wünschen und Wollen und damit eine Unterscheidung auf Seiten des Handelns und nicht des Seins. Es geht ihr um die Praxis des Unterscheidens, nicht um das, worauf diese Unterscheidungen bezogen werden und woran sie sich bewähren müssen.
Das umfangreiche Werk kann auf zwei Ebenen gelesen werden, die sich in den beiden Hauptteilen fassen lassen. In Teil I geht es um die »Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille« (59–377), in Teil II um »Unterscheidungsforschung als Methode« (379–543). Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille wird dabei als ein exemplarischer Fall der generellen Methode vorgeführt, die die Vfn. »Unterscheidungsforschung« nennt (vgl. besonders 381–384). Diese umfasst ihr zufolge fünf Aufgaben: die Beschreibung, Analyse, Kritik, Konstruktion und methodische Reflexion von Unterschieden und Unterscheidungen (33.55 u. ö.). Die vier ersten Aufgaben werden in Teil I an der Unterscheidung von Wunsch und Wille exemplifiziert, die fünfte Aufgabe in Teil II durchgeführt. Teil I ist dementsprechend in vier Kapitel unterteilt. In Kapitel 1 geht es um »Beschreibungen: Wie wir wünschen und wie wir wollen« (77–114), in Kapitel 2 um »Analysen: Vom Wollen als mentale Anstrengung zur Muskelempfindung« (115–238), in Ka­pitel 3 um »Kritik: Handlungen bestehen nicht aus zwei Kompo nenten« (239–287) und in Kapitel 4 »Konstruktion: Handeln als dialektischer Prozess von Entwerfen und Gestalten« (288–372). Teil II entfaltet in drei Kapiteln die drei zentralen Merkmale, die der Vfn. zufolge Unterscheidungsforschung charakterisieren (381–533): Sie ist spezifisch (Kapitel 1), inhaltsgesättigt (Kapitel 2) und systematisch (Kapitel 3). Eine allgemeine Einleitung skizziert das Profil philosophischer Unterscheidungsforschung (17–56), ein knapper Ausblick zur »Ethik des Unterscheidens« beschließt den Band (538–543). Beigegeben ist ein ausführliches Literaturverzeichnis. Register fehlen.
Dem Anspruch der Abhandlung zufolge ist die in Teil I behandelte Thematik der Unterscheidung von Wunsch (Wünschen) und Wille (Wollen) nur ein möglicher Anwendungsfall der »Praxis des Unterscheidens«, an der die Vfn. interessiert ist. Sie folgt dabei vor allem Robert Sokolowski, der im Unterscheiden die zentrale philosophische Methode sah. Die Vfn. geht aber zu Recht bis auf Plato zurück und sieht im Sophistes einen »Schlüsseltext für das Nachdenken über Unterscheidungen als Unterscheidungen« (22). Es fällt ihr nicht schwer zu zeigen, dass die ganze Denkgeschichte des Westens durch die Unterscheidungspraxis geprägt ist. Aber sie stellt auch fest, dass es ihr nicht gelungen ist, die vielfältigen Terminologien für das Unterscheiden in unterschiedlichen Sprachen (griechisch, lateinisch, deutsch, englisch, französisch usf.) mittels einer einheitlichen Begrifflichkeit zu erfassen und zu behandeln. Ihre eigenen Vorschläge (»Unterscheidungsweisen«, »Praktiken des Unterscheidens« und »Strukturen des Unterscheidens«) bieten keine strikte Terminologie, sondern sollen nur helfen, »die Aufmerksamkeit auf Unterscheidungen als Unterscheidungen je etwas an­ ders auszurichten« (46). Die »Unterscheidungsforschung« muss sich jeweils auf konkrete Probleme in konkreten Zusammenhängen beziehen und die für deren Beschreibung, Analyse, Kritik und Konstruktion notwendigen begrifflichen Unterscheidungen machen.
Mit Recht beansprucht die Vfn. nicht, eine Theorie des Unterscheidens vorgelegt zu haben, sondern nur »historische und systematische Perspektiven« auf die »Praxis des Unterscheidens«. Allerdings meint sie, dass es nicht nur notwendig ist, »Differenzierungen im Sprachgebrauch« zu machen, sondern auch, »dass es keine einheitlichen Regelungen geben kann« (53). Das ist eine weit stärkere These, die man gern genauer belegt gesehen hätte. Dass man sowohl »unterunterscheidende« als auch »überunterscheidende« Differenzierungen vermeiden will, ist nachvollziehbar (53). Aber was das sein soll, lässt sich nicht allgemein sagen, sondern nur relativ zu konkreten Kontexten und spezifischen Aufgaben bestimmen, die man begrifflich zu bearbeiten sucht. Das gilt auch dann, wenn man Einteilen, Kontrastieren, Bestimmen und Differenzieren als »Vier Praktiken des Unterscheidens« systematisch unterscheidet (436–456). Immerhin macht das deutlich, dass die Vfn. eine begriffliche Klärung nicht mittels theoretischer Reflexion, sondern – Wittgenstein und Lyotard folgend – durch praxisbezogene Differenzierung sucht. Das gelingt ihr auf weite Strecken in einer lesenswerten Untersuchung, die ihre Spuren in der Diskussion hinterlassen wird.
Auffällig sind allerdings zwei Sachverhalte. Kein anderes Personalpronomen kommt in dieser Studie so oft vor, wie das der ersten Person Singular »ich«. Das erzeugt den Schein, am Denkprozess der Vfn. direkt teilzunehmen. Aber es verlagert den Fokus immer wieder in wenig hilfreicher Weise von der Sache, um die es geht, auf die Vfn., die sich mit ihr beschäftigt. Wissenschaftliche Prosa sollte den Akzent eher umgekehrt setzen. Zum anderen ist diese Studie eine gründliche Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur z ur Unterscheidungsproblematik und damit ein wichtiger Be­zugstext für künftige Untersuchungen zum Thema. Aber es verwundert doch, dass eine Vfn., die u. a. evangelische Theologie studiert hat, den ganzen Bereich der theologischen Literatur zum Problem des Unterscheidens nicht erwähnt. Hier ist eine empfindliche Lücke in ihrer umfangreichen Beschäftigung mit der Unterscheidungsthematik. Sollte diese Zurückhaltung dem Genus einer philosophischen Habilitation geschuldet sein? Dann wäre das Anlass für noch weitere Rückfragen. Es gibt noch andere Perspektiven auf die Praxis des Unterscheidens als diejenigen, die die Vfn. entfaltet. Auch deshalb wird es weitere Studien geben müssen.