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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1297–1299

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pucciarelli, Daniel

Titel/Untertitel:

Materialismus und Kritik. Konzept, Aussichten und Grenzen des Materialismus im Ausgang von der Negativen Dialektik Theodor W. Adornos.

Verlag:

Würzburg: Verlag Kö­nigshausen & Neumann 2019. 218 S. = Epistemata Philosophie, 599. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-8260-6758-7.

Rezensent:

Hermann Deuser

Die Initiativen der frühen Kritischen Theorie (M. Horkheimer und Th. W. Adorno) sind vielfältig aufgenommen und kritisiert worden; vor allem die interne Kritik durch J. Habermas (vgl. 52 f.) hat die Schulbildung verändert: Anstelle von »Meditationen zur Metaphysik« (Adornos 3. Teil, 3. Kapitel der Negativen Dialektik [1967] ) stehen Gesellschafts- und Kommunikationstheorie im Vordergrund und setzen auf eine letztlich allgemeine Vernunft. Für Adornos dialektische Philosophie bleiben dagegen Sätze wie diese charakteris-tisch: »Solcher anderen Wahrheit [sc. als der ›positivistischen‹] gilt die Innervation, Metaphysik möchte gewinnen allein, wenn sie sich wegwirft. Sie nicht zuletzt motiviert den Übergang in Materialismus« (Med. zur Metaphysik, 355). Was hier Materialismus heißen kann, dem will Daniel Pucciarelli quasi in einer Metakritik nachgehen. Das geschieht nüchtern, nicht schulgebunden (Dissertation bei Günter Zöller, LMU München) und in kritischer Distanz des argumentativen, philosophiegeschichtlichen Interesses an den Verstehenskontexten der Grundbegriffe Adornos: Dialektik, Nicht-identität, Vorrang des Objekts, Ontologiekritik, Mimesis, Naturgeschichte – und eben Materialismus.
Die vier Kapitel gehen von den allgemeinen Rahmenbedingungen der Materialismus-Diskussion seit dem Deutschen Idealismus aus und werden immer konkreter im Blick auf einzelne Gedankenstränge bis zur begründeten Eingrenzung des Materialismus-Konzeptes im Schlusskapitel. P. zeigt – wiederum am analogen Beispiel von J. Habermas –, dass die vorgetragene Metakritik in einem »eigenen kategorialen Rahmen« arbeiten muss. Worin bestehen die unterschiedlichen Positionen und Perspektiven? – Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen klassischem und kritischem Materialismus, deren Grenzlinie durch Kants Transzendentalphilosophie (und ihre kritische Aneignung) gegeben ist. Die neue Zuordnung, worin der Erkenntniszusammenhang zwischen Denken und Sein, Begriff und Sache erklärt werden kann, ist von da an nur noch unter Beteiligung subjektiver Anteile (konstituiert [86]) vorstellbar und nicht »ontologisch« abgehoben in einem transzendenten Gegenstand oder »Ding an sich«. Es geht darum, das »Heterogene begrifflich zu fassen« – eine durchaus »spekulative Fragestellung«, wie mit dem deutschen Idealismus gesagt werden kann (46 f.).
Fichte, Schelling und vor allem Hegel entwickeln daraus Muster des Identitäts- und Systemdenkens. Für Adorno ist Hegels Formel der »Identität von Identität und Nichtidentität« entscheidend – wird sie nicht mehr affirmativ, sondern negativ-dialektisch gelesen: zur Rettung des Nichtidentischen, dessen Begriff (noch) nicht vorliegt und von keinem System aus bestimmt werden kann (vgl. 74.93 ff.). Nun kommt aber für Adorno noch hinzu, dass er in einer zweiten, parallelen Linie den Gesellschaftszustand als Ganzheit verloren gibt (»Ontologie des falschen Bestehenden« [56]; vgl. Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung [1944/1960]). Dies aber lässt sich selbst nicht mehr vernünftig begründen, und diese erfahrungsintensive Seite des Problems ist dann besser von der spekulativen abzuheben (vgl. 55). Letztere wird – sehr lehrreich und souverän geschrieben – in ihrer Vorgeschichte einbezogen (Leibniz, Hume, Kant und der deutsche Idealismus [Kapitel 2]) und »formallogisch«, »ontologisch« und »ichtheoretisch« analysiert (74 f.).
Sinn und Ziel dieser Kontextualisierungen ist ein höchst aktueller Blick auf den Begriff des Materialismus (vgl. 100), um Adornos Insistieren auf der »Paradoxie« (vgl. 190) des gesuchten »Vorrangs des Objekts« zu verstehen, der zugleich nicht gegenständlich (ontologisch) sein darf. Als Denkmodell zur Interpretation wählt P. den Korrelationismus (59), der verschiedene Formen der Relationalität im Verhältnis von identifizierendem Begriff und (nichtbegrifflicher) Sache zum Ausdruck bringen kann. Hier sind durchaus Vergleiche mit Heideggers »ontologischer Differenz« möglich, diese aber auch umstritten (K. H. Haag [160 f.]). Näher liegen die sprachlichen »Konstellationen« nach dem Vorbild W. Benjamins, wie es Adorno im Kierkegaard-Buch praktiziert (171). Ausgeschlossen aber sind Rückfälle in Objektauffassungen als »transzendent« etwa aufgrund »theologisierender Ressourcen« (99).
Andererseits muss die zweite Linie in Adornos Materialismus-Auffassung beachtet werden, das »historisch-gesellschaftliche Ar­gument« (112), genauer und im entscheidenden Extrem gesagt: »Alles Geistige ist modifiziert leibhafter Impuls […] Aller Schmerz und alle Negativität« sind die »manchmal unkenntlich gewordene Gestalt von Physischem, so wie alles Glück auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Objektivität gewinnt« (Negative Dialektik, 200). Adorno zögert nicht, auf die »Auferstehung des Fleisches« zu­gleich mit dem biblischen »Bilderverbot« zu verweisen, und diese »Ressourcen« sind wohl so unumgänglich wie die Körperlichkeit der »Mimesis« der – in diesem Sinne – materialistischen »Natur-geschichte« (vgl. 114.192). Hier sind naturwissenschaftliche An­knüpfungen ebenso naheliegend wie theologische. Letztere hat Adorno in groß angelegter kritischer Berufung auf Kierkegaard durchgängig einbezogen; mit den letzten Worten der Meditationen zur Metaphysik gesagt: »Metaphysik im Augenblick ihres Stur-zes«. P. nutzt diesen Aspekt nicht, notiert aber anmerkungsweise, dass Adornos Materialismus hiermit die Weltreligionen »be-rührt« (200, Anm. 358). Dieser umfassende Begriff des Materialismus hat aber offenbar (noch) keinen wissenschaftlichen Ort. Bleibt nur die »Offenbarung der Unumgänglichkeit des Spekulativen« (211).