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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1293–1295

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Drews, Friedemann

Titel/Untertitel:

Teilhabe-Ontologie und interreligiöser Dialog im Platonismus und Christentum. »Gott ist Richter mitten unter den Göttern« (Ps 82,1b). Monotheismus, Polytheismus und Teilhabe-Ontologie im Platonismus und Christentum, die Henaden bei Proklos und der interreligiöse Dialog bei Nikolaus von Kues.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XVI, 558 S. = Collegium Metaphysicum, 19. Lw. EUR 129,00. ISBN 978-3-16-156051-4.

Rezensent:

Tobias Dangel

Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch ein hohes Maß an Pluralität und Heterogenität aus. Gewohnheiten, Normen, Weltanschauungen unterschiedlichster Provenienz prallen aufeinander und erzeugen Spannungen. Friedemann Drews geht in seiner 2018 erschienenen Monographie »Teilhabe-Ontologie und interreligiöser Dialog im Platonismus und Christentum« von diesem Befund aus und erkennt an, dass in dieser Gemengelage die Religionen eine zentrale Rolle spielen, weil sie die Einstellungen der Menschen durch ihre Lehren maßgeblich mitbestimmen und den Gläubigen nicht selten eine Gehorsamspflicht gegenüber ihren Lehren auferlegen. Ferner gilt: Weil im Zentrum der Religionen primär das Göttliche als solches, nicht aber die kultische Praxis steht, weil diese als ein Sekundäres überhaupt erst durch ihren Bezug auf das Göttliche Sinn hat, sind die Menschen durch die Religionen unter den Anspruch des Göttlichen gestellt. Das religiöse Wissen um das Göttliche erlaubt es, zwischen Gutem und Bösem, zwischen Wahrem und Falschem zu unterscheiden. Aus diesem Grunde sind die Religionen – und das ist die Kehrseite – Quellen existenzieller Unversöhnlichkeiten unter den Menschen, die sich in ungehemmter Gewalt Bahn brechen können. Entsprechend stellt sich D. die Frage, wie ein Dialog zwischen den Religionen, der nicht nur zwischen den monotheistischen Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum und Islam) zu führen ist, sondern der auch polytheistische Religionen einbeziehen muss, überhaupt möglich sein kann. Dabei stellt der interreligiöse Dialog den vielleicht wichtigsten Schritt bei der Annäherung an die Idee einer weltumspannenden pax fidei dar und darf nicht leichtfertig aufgegeben werden.
Antworten auf seine Frage sucht D. interessanterweise im antiken Platonismus und dessen Metaphysik sowie bei christlichen Theologen, die in ihrem eigenen Denken den Einsichten des Platonismus verpflichtet sind und diesen zu einem christlichen Pla-tonismus weiterentwickelt haben. D. vertritt die These, dass ein umfassender interreligiöser Dialog am ehesten dann gelingen kann, wenn er aus dem Geist des Platonismus geführt wird. Denn der Platonismus zeichnet sich dadurch aus, dass er einen »Bezugsrahmen« eröffnet, in den die Fragen des Lebenssinns und des religiösen Glaubens sowohl nach ihrer emotionalen als auch nach ihrer rationalen Seite eingebettet werden können. D. rekurriert hiermit auf eine besondere Stärke des antiken Platonismus, die der Philosophie der Moderne weitgehend und der Philosophie der Postmoderne vollständig abhanden gekommen ist, nämlich alle Wirklichkeitsbereiche menschlichen Lebens im Rahmen einer um­fassenden Einheitsmetaphysik zu begreifen und ihnen somit ihren berechtigten Ort in einer Intellektualanschauung der Welt zukommen zu lassen. Mit Blick auf die Religionen belehrt uns der Platonismus, so D., dass sich Polytheismus und Monotheismus gar nicht exklusiv im Sinne eines »entweder oder« zueinander verhalten müssen, sondern dass sich rational thematisieren lässt, dass es am Polytheismus und am Monotheismus berechtigte Aspekte gibt, die auch zu würdigen sind. Der Geist der platonischen Metaphysik führt auf eine religiöse Toleranz, ohne die Idee der Wahrheit preiszugeben, die auch gar nicht preisgegeben werden kann, wenn ein rational geführter interreligiöser Dialog möglich sein soll.
Um das Zutrauen abzusichern, das D. in die platonische Metaphysik als einen tragfähigen rationalen Bezugsrahmen für den interreligiösen Dialog setzt, führt er eine Reihe von Spezialuntersuchungen durch, in denen das Verhältnis von Metaphysik und Religion, vom einen Gott und den vielen Göttern bei den großen platonischen und platonisch-christlichen Denkern in der Antike und im Mittelalter herausgearbeitet wird. Der Umfang der behandelten Denker lässt staunen. Besonderes Gewicht legt D. – um nur eine Auswahl zu nennen – auf Platon und Aristoteles, auf Plotin und Proklos, auf Origenes, Augustinus und Dionysius Areopagita, auf Eriugena und Thomas von Aquin und zu guter Letzt auf Nikolaus von Kues, dessen Schrift De pace fidei D. einer eingehenden Interpretation unterzieht. Dabei ist das Leitthema der Spezialuntersuchungen der platonische Teilhabegedanke, der besagt, dass etwas seine Was-Bestimmtheit durch Teilhabe an einem selbständig bestehenden intelligiblen Formprinzip hat, das aufgrund seiner Intelligibilität geistig eingesehen werden kann und ein begrifflich explizierbarer Gehalt des Denkens ist. Im Detail folgt D. Proklos, der in seiner Stoicheiôsis theologikê die Lehre vertritt, dass ein Prinzipiat nicht direkt an seinem Formprinzip teilhaben kann, sondern dass bezüglich des Prinzips zwischen unpartizipierbarem und partizipierbarem Prinzip unterschieden werden muss. Das partizipierbare Prinzip vermittelt zwischen dem Prinzipiat und dem selbständig bestehenden, unpartizipierbaren Prinzip.
Es ist aufschlussreich, wie D. zeigt, dass sich diese Lehre des Proklos schon bei Platon und selbst bei Aristoteles finden lässt. Ein innovativer Höhepunkt der Monographie ist aber zweifelsfrei seine Deutung von Proklos’ Henaden-Lehre, die in der Forschung immer als besonders intrikat, wenn nicht gar als widersprüchlich galt. Denn die Henaden vermitteln bei Proklos zwischen dem Einen und dem Sein, demgegenüber das Eine absolut transzendent ist. Zwischen dem Sein und dem Einen ist keine Vermittlung möglich. Eine solche leisten bei Proklos die Henaden, die zwar ebenso wie das Eine überseiend sind, an denen aber anders als im Falle des absoluten Einen das Sein teilhaben kann. D. plädiert für eine Interpretation der Henaden-Lehre, derzufolge es eigentlich nur eine Henade gibt, die erst durch die Teilhabe der vielen Prinzipiate an ihr auch als viele Henaden erscheint. Der Grund, warum D. der Proklischen Henaden-Lehre eine so große Aufmerksamkeit entgegenbringt, besteht d arin, dass bei Proklos die Henaden Götter sind, über denen das absolute Eine als der höchste Gott thront. Bei Proklos finden wir eine höchst intelligente Theorie, wie der eine Gott des Monotheismus und die vielen Götter des Polytheismus im Rahmen einer Einheitsmetaphysik in ein rationales Verhältnis gesetzt werden können. In einem gewissen Sinne sind dann die Götter des Polytheismus nur Erscheinungsweisen des Einen höchsten Gottes. Für D. ist die Teilhabe-Ontologie des Proklos in einer so stringenten Weise ausgearbeitet, dass sie sich als Grundlage für einen interreligiösen Dialog anbietet, wenn es darum geht, den Monotheismus und den Polytheismus rational aufeinander zu beziehen. Bei Proklos können wir lernen, wie sich im Rahmen einer Einheitsmetaphysik der Exklusivitätsanspruch des Monotheismus relativieren lässt, ohne den Gedanken des Einen höchsten Gottes aufgeben zu müssen. Obgleich die Fäden, die D. spinnt und hinsichtlich des Verhältnisses von Teilhabe-Ontologie, Religion und interreligiösem Dialog in Nikolaus von Kues’ Schrift De pace fidei zusammenlaufen lässt, entnimmt er dennoch Proklos das systematische Pa­radigma, wie ein interreligiöser Dialog rational geführt werden kann.
Die große Stärke von D.’ Monographie besteht darin, dass er am Platonismus als rationalem Bezugsrahmen für einen interreligiösen Dialog zwischen Monotheismus und Polytheismus systematisch festhält. Darum lautet D.’ Fazit auch: Ohne Metaphysik kein interreligiöser Dialog! Dass er sich dezidiert gegen postmoderne Versuche ausspricht, die Religionen und ihre Beziehungen zueinander zu einem Gegenstand bloß kulturtheoretischer Betrachtung zu machen, ist überzeugend. Denn gerade weil die Religionen ein Wissen vom Göttlichen, vom Absoluten oder von der Wahrheit beinhalten, haben sie immer schon am Logos teil und sind um des Logos willen ernst zu nehmen. Ob jedoch ausgerechnet Proklos’ Henaden-Lehre eine gute Grundlage für einen rationalen Bezugsrahmen des interreligiösen Dialogs bildet, ist doch sehr die Frage. Immerhin gäbe es zwei moderne Philosophen, die ebenfalls dem Geist der antiken Metaphysik verpflichtet sind und die D. zu Gewährsleuten für sein eigenes Projekt machen könnte: Hegel und Schelling. Aber was nicht ist, kann ja noch werden!