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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1291–1293

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Dennebaum, Tonke

Titel/Untertitel:

Freiheit, Glaube, Gemeinschaft. Theologische Leitlinien der christlichen Philosophie Edith Steins.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2018. 414 S. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-451-38066-2.

Rezensent:

Christof Betschart

Das Buch ist die 2017 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angenommene Habilitationsschrift von Tonke Dennebaum. Es stellt die Frage, ob und, wenn ja, wie die Philosophin Edith Stein (1891–1942) auch heute noch verwertbare Anstöße für die Theologie gibt. Die drei ausgewählten Themenbereiche Freiheit, Glaube und Gemeinschaft werden von D. im Rahmen von Steins christlicher Philosophie untersucht und sollen Steins Philosophie in der deutschsprachigen theologischen Welt bekannt machen. Das ist sowohl deshalb erwähnenswert, weil die Edith Stein-Forschung im deutschsprachigen Raum verhältnismäßig bescheiden vorankommt, als auch deshalb, weil über Stein eher selten von und für Theologen geschrieben wird.
Die Arbeit umfasst vier Teile, deren erster einen gut informierenden biographischen Einstieg bietet, z. B. in Bezug auf Steins Habilitationsversuche (31), über ihre Ausreisebemühungen nach Palästina (48) und ihr Einstehen für die verfolgten Juden (61). Doch aus welchem Grund beginnt die Habilitationsschrift mit dieser ziemlich ausführlichen Vita (15–91)? D. argumentiert, es gehe ihm darum, erstens die drei Themenbereiche im Leben Steins zu verorten und zweitens die besonders enge Verknüpfung zwischen Leben und Werk Edith Steins hervorzuheben. So ist es nicht erstaunlich, dass D. gleich zu Beginn Steins Brief an Ingarden zitiert, in dem sie von sich sagt: »Meine Arbeiten sind immer nur Niederschläge dessen, was mich im Leben beschäftigt hat, weil ich nun mal so konstruiert bin, daß ich reflektieren muß« (15, Zitat aus ESGA 4, 143). Im Hintergrund steht Alasdair MacIntyres Monographie (erschienen 2006), die er Steins Frühwerk widmete. Er wies darauf hin, dass ihre Philosophie aus ihrem Leben erwachse und in es zurückwirke. Im Gegensatz zu dieser Akzentuierung der Interdependenz von Leben und Werk unterstreichen Autoren wie Ballard, dass sich etwa bei Heidegger seine philosophische Genialität von seinem Opportunismus trennen lasse (17 f., Anm. 15). Freilich hat diese Debatte in der Zwischenzeit mit der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte und der darin aufgeworfenen Frage des Antisemitismus noch an Brisanz gewonnen (17–18).
Der zweite Teil widmet sich der Frage nach der christlichen Philosophie bei Stein (92–174). Zu Recht sieht D. gerade hier einen Anknüpfungspunkt an theologische Fragen, denn Steins damals keineswegs von vielen geteiltes Verständnis von christlicher Philosophie betrachtet den religiösen Glauben als eine philosophisch relevante Erkenntnisquelle insbesondere für anthropologische Fragen, die heute in der theologischen Anthropologie verhandelt werden. So ist z. B. für Stein ihre Untersuchung der Gottebenbildlichkeit im Rahmen der christlichen Philosophie anzusiedeln, wo­hingegen diese Thematik heute einer theologischen Anthropologie zugehört. Stein bewegt sich in einem interdisziplinären oder sogar transdisziplinären Raum, der auch nach Fides et ratio (1998) noch nicht endgültig ausgelotet ist. Stein selbst unterscheidet in ihrem Beitrag über Husserl und Thomas (1929) zwischen dem theozentrischen Ansatz bei Thomas und dem anthropozentrischen Ansatz bei Husserl. Diese aus heutiger Sicht problematische Ge­genüberstellung – man denke nur an Rahners Beitrag »Anthropologie und Theologie«! – wird von D. so interpretiert, dass »Edith Steins Christliche Philosophie theozentrisch orientiert ist. Die Exis-tenz Gottes gilt damit denjenigen Philosophen, die die Glaubensgewissheit als ›Geschenk der Gnade‹ bereits empfangen haben, als erstes philosophisches Axiom und als Fundament des Denkens.« (143) Der Unterschied zwischen Anthropozentrik und Theozentrik wird hier beschrieben als Unterschied zwischen einer rein rationalen Philosophie und einer Philosophie aus dem Glauben. Tatsächlich findet man bei Stein keine Obsession für sogenannte »Gottesbeweise«, auch wenn sie in Endliches und ewiges Sein vom Aufstieg zum Sinn des Seins spricht und dabei immer wieder Orte erreicht, an denen sich der Mensch in seiner Vergänglichkeit gehalten weiß und sich fragt, woher dieser Halt kommt und worin er besteht.
Der dritte und kürzeste Teil der Arbeit (175–232) geht auf zwei sehr unterschiedliche, erst postum veröffentlichte Texte Steins nä­her ein: Freiheit und Gnade (1921) und Endliches und ewiges Sein (1935–1937). In beiden Texten werden Philosophie und Glaube in Bezug auf die genannten drei Themenkreise Freiheit, Glauben und Gemeinschaft zusammengedacht, auch wenn es nach Ansicht D.s schwierig ist, diese Texte Steins theologisch auszuwerten. Besonders erwähnenswert ist, wie Steins Leib-Christi-Theologie im Sinne einer judenchristlichen Theologie und als Auslegung des Johanneswortes, das Heil komme von den Juden (Joh 4,22), gelesen wird (229).
Schließlich werden im vierten und längsten Teil (233–379) die drei genannten Themen theologisch-systematisch untersucht. Vor allem hier gelingt es D., einen Dialog zwischen Stein und zeitgenössischen Autoren in Gang zu setzen. So kommen Delp und Maritain (244–251) in der Frage nach der Freiheit, Heidegger (341–354), Buber (354–361) und Rosenzweig (361–372) in der Frage nach der Gemeinschaft ausführlich zu Wort. Steins Verständnis der Freiheit (240–267) als geschichtlich situiert und durch Gnade noch zu befreien öffnet das Tor zur theologischen Anthropologie, denn Freiheit bedingt nicht nur die Möglichkeit der Entfaltung des Menschen, sondern auch die personale Beziehung zwischen Gott und Mensch (244). Die Frage nach dem Glauben (268–320) wird in verschiedene Richtungen entfaltet: zunächst geht es darum, ob Stein lediglich Mystik-Theoretikerin (Pseudo-Dionysius, Teresa von Avila, Johannes vom Kreuz) oder auch selbst Mystikerin ist. D. plädiert dafür, sie als Mystikerin zu verstehen, freilich aufgrund eines heutigen, sehr weit gefassten Mystik-Verständnisses, das nicht mit dem von Stein identisch ist (274–275). Wichtig ist auch die Frage nach dem Dialog zwischen Juden und Christen, in dem Stein eine oft ambivalente Rolle spielt. Hier schließt D. an Jean-Marie Lustiger an, der Stein nicht als Brückenbauerin sieht, sondern als jemanden, der »Israel innerhalb des christlichen Bewußtseins wiederverankert« (zit. 282) und damit auch auf die Einheit der Heilsgeschichte im Alten und Neuen Testament hinweist.
Der jüdisch-christliche Dialog führt sodann zu einer christlichen Theologie der Religionen, in der Stein mit ihrer Rede von der Menschheit als Leib Christi die Perspektive des Zweiten Vatikanums vorwegnimmt. Auch wenn einige Äußerungen Steins heute als selbstverständlich gelten mögen, so ist doch zu würdigen, dass sie diese Positionen in ihrer Zeit auch gegen den theologischen Mainstream vertreten hat. Das Thema der Gemeinschaft (321–372) wird ausgehend von den zwei im dritten Teil behandelten Schriften ausgearbeitet und synthetisiert: Steins Weg geht »vom ›Einer für alle und alle für einen‹ [in Freiheit und Gnade], mit dem sie vor ihrer Taufe den Wesenskern der Kirche beschreibt, bis zur immer tieferen Pro-Existenz der Hingabe und der geistlichen Stellvertretung ihrer letzten Lebensjahre.« (372) Diese Linie lässt sich erkennen, obwohl ihr Verständnis der Stellvertretung im Kontext einer stark von der Satisfaktionstheorie geprägten Zeit entstanden ist.
Im Epilog (380–383) wird abschließend die Frage nach der Pertinenz von Steins Ansatz heute gestellt. D. erwägt die These, ob Steins Beitrag allenfalls historisch bedeutsam sein könne, ohne für die heutige Zeit nutzbar zu sein. Doch er verweist dagegen auf die Attraktivität, die mit der »philosophisch-theologische[n] Schwerpunktsetzung auf die Bereiche Freiheit, Glaube und Gemeinschaft« (382) auch heute noch gegeben sei. In einem weiteren Schritt wäre darüber hinaus noch zu fragen, ob Stein aus ihrer Zeit heraus für die eine oder andere heute in der Theologie laufende Debatte fruchtbar gemacht werden kann.
D.s Studie ist klar geschrieben und bietet in theologischer Perspektive sowohl biographisch als auch inhaltlich einen guten Zugang zu Edith Steins Werk. Er geht in der Auswertung der Sekundärliteratur ohne unnötige Polemik vor und gibt für heutige Theologinnen und Theologen wichtige Anstöße zur Interdisziplinarität von Philosophie und Theologie.