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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1287–1291

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst

Titel/Untertitel:

Kritische Gesamtausgabe Abt. II: Vorlesungen. Bd. 13: Vorlesungen über die Psychologie. Hrsg. v. D. Meier unter Mitwirkung v. J. Beljan.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2018. XCV, 1068 S. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-11-056600-0.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Kritische Gesamtausgabe. Abt. II: Vorlesungen. Bd. 15: Vorlesungen über das Leben Jesu – Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte. Hrsg. v. W. Jaeschke. Berlin u. a.: De Gruyter 2018. LX, 693 S. Lw. EUR 279,00. ISBN 978-3-11-059528-4.


Die Seelenlehre gehört zu den wichtigen Teilen von Schleiermachers System, auch wenn er sie erst relativ spät in seinen Vorlesungszyklus aufgenommen hat. Im Sommersemester 1818 trug er das Psychologiekolleg erstmals umfassend vor, fünfmal wöchentlich von 6–7 Uhr morgens. Dreimal hat er es wiederholt: im Sommer 1821 und 1830 sowie im Winter 1833/34. Am 12. Februar 1834 verstarb er, ehe die Vorlesung abgeschlossen werden konnte. Veröffentlicht wurde eine Version der Psychologie erst 1862 in den Sämmtlichen Werken (SW III/6). Sie war damals schon kein Beitrag zur aktuellen Psychologie mehr, sondern vor allem als Teil von Schleiermachers Denksystem von Interesse. Doch schon von An­fang an war Schleiermachers Psychologie mehr an den antiken Autoren (Platon, Aristoteles) und der zeitgenössischen Naturphilosophie (Leibniz, Wolff, Kant, Steffens, Goethe, Schelling) orientiert als an der sich entwickelnden empirischen Psychologie.
Über den Ort der Psychologie im System Schleiermachers be­steht nach wie vor Uneinigkeit. Bildet sie zusammen mit Dialektik, Ethik und Physik ein Quadrupel der Wissenschaften, wie Andreas Arndt vorgeschlagen hat? Oder ist sie die »Königsdisziplin«, die über der Dialektik, Ethik und Physik steht, wie Eilert Herms meint? Unstrittig ist, dass sie mit diesen Disziplinen eng verflochten ist. Aber erst jetzt liegen die Materialien vor, diese und weitere Fragen auf der Basis einer umfassenden kritischen Edition der einschlägigen Texte Schleiermachers zu klären. Der bisherige Druck der Psychologievorlesungen in den Sämmtlichen Werken ist damit obsolet geworden.
Der von Dorothea Meier unter Mitwirkung von Jens Beljan herausgegebene Band (II/13) stellt die »erste vollständige, alle vier Kollegs umfassende sowie alle verfügbaren Autographen Schleiermachers inkludierende Ausgabe der Vorlesungen zur Psychologie dar« (XVII). Neben einer gründlichen historischen Einführung in die vier Psychologievorlesungen sowie die Erstedition der Psycholo-gie in den Sämmtlichen Werken bietet die Einleitung der Bandherausgeber einen detaillierten editorischen Bericht über die heran-gezogenen Manuskripte Schleiermachers sowie die Vorlesungsnachschriften der vier Vorlesungen, die zum Abdruck kommen (XVII–XCV). In einem ersten Teil werden die Manuskripte Schleiermachers der Vorlesungen von 1818, 1821, 1830 und 1833/34 geboten. In einem zweiten Teil wird die Vorlesung von 1818 durch eine Hamburger Nachschrift (als Leittext) sowie eine Berliner Nachsc hrift unbekannter Autoren dokumentiert, die Vorlesung von 1821 durch eine Nachschrift von Friedrich August Eyssenhardt ergänzt durch eine Göttinger und Züricher Nachschrift unbekannter Autoren sowie eine teilweise Nachschrift von Willem Sax von Terborg, die Vorlesung von 1830 durch eine Nachschrift von Karl Friedrich Sickel ergänzt durch eine Berliner Nachschrift sowie das Fragment einer Nachschrift von Johann Heinrich Wichern und die Vorlesung von 1833/34 durch eine Berliner Nachschrift eines unbekannten Autors (als Leittext) sowie die Nachschriften von Carl Theodor Iffland und Sigismund Stern. Keiner dieser Texte war bisher veröffentlicht. Erstmals liegen damit nicht nur alle Manuskripte Schleiermachers gedruckt vor, sondern auch Nachschriften jeder der vier von ihm gehaltenen Vorlesungen. Die Textentscheidungen sind wohlbegründet, die Einführungen informativ, der kritische Apparat überschaubar und akkurat, die Edition nach den Leitlinien der KGA gut lesbar gestaltet und mit den üblichen Verzeichnissen ausgestaltet (Abkürzungen, editorische Zeichen, Literatur und Personenregister). Die Kommentierung ist knapp und auf das Notwendige beschränkt. Nur in der Historischen Einführung wird etwas unhistorisch auf Hartmut Rosas Resonanztheorie Bezug genommen und auf Jens Beljans Arbeit zur Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone verwiesen (XXXV). Das belegt die pädagogischen Interessen Beljans, trägt zur Klärung des Denkens Schleiermachers aber wenig bei.
Dieser hatte sich seit seiner anonymen Rezension von Kants »An­thropologie in pragmatischer Hinsicht« (1799) immer wieder mit psychologischen Themen beschäftigt. Kants Entwurf hatte er als eine »Sammlung von Trivialitäten« (KGA I/2, 365) abgetan – in Verkennung der Funktion dieser Schrift im Gesamtwerk Kants. Wie die Dogmatikvorlesungen an der Theologischen Fakultät das Material bereitstellten, das in Kants Religionsschrift kritisch philosophisch kommentiert wird, so bietet die »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« das Material, das Kants gesamte kritische Philosophie am Leitfaden der Frage »Was ist der Mensch?« kritisch kommentiert. Die gängigen Ansichten über die Menschen sind eines, eine kritische philosophische Anthropologie ein anderes. Im Unterschied zu Kant war Schleiermacher der Überzeugung, dass es zwischen physiologischer, pragmatischer und philosophischer Anthropologie keinen Gegensatz geben könne. Gerade deshalb hatte er Schwierigkeiten, die Psychologie von der Anthropologie abzugrenzen. Umfasst die Menschenkunde Physiologie und Psychologie und ist das Geistige nur in der Einheit mit dem Physischen gegeben, wie kann dann eine besondere Psychologie entwickelt werden? Schleiermacher versucht es 1818, indem er die Psychologie nicht als » organischen Teil der Anthropologie« versteht (KGA II/13, 211), sondern als »Glied in der ganzen Reihe der Pneumatologie« (KGA II/13, 16), nämlich der »Theorie der Pflanzen Thiere Menschen Erde und Weltseelen« (KGA II/13, 7). Die Seelenlehre beschreibt das Wirken des Geistes im menschlichen Leben, das sich stets in der untrennbaren Einheit von Leib und Seele vollzieht. Sie ist keine Teildisziplin der Anthropologie, sondern die anthropologische Konkretionsgestalt der Pneumatologie. In dieser Zuordnung spiegelt sich die prädarwinische Überzeugung, dass Geist und Seele des Menschen nicht aus seiner physischen Natur hervorgegangen sein können, sondern dass sie die Präsenz des Geistigen im mensch-lichen Leben markieren.
Entsprechend gliedert er seine Psychologie in allen vier Vorlesungen in drei Teile: In einer Einleitung werden die systematischen Probleme der Psychologie im Verhältnis zu den anderen Wissenschaften diskutiert. Das geschieht in den vier Vorlesungszyklen unterschiedlich intensiv. In einem Elementarischen Teil werden die seelischen Tätigkeiten der Menschen untersucht. Im Zentrum stehen der Begriff des Lebens, das dialektische Gegensatzpaar von Rezeptivität und Spontaneität, die Unterscheidung zwischen individuellen und universellen Prozessen, den Tätigkeiten der Einzelnen und den Einflüssen und Einwirkungen der äußeren Umgebungen auf die Menschen, die Spaltung des Geistigen in die Dup-lizität des Bewusstseins in das Objektive außer uns und das Subjektive in uns sowie die Grundlinien der Entwicklung der Sprache und des Denkens. Die Details und die Terminologie verändern sich in den verschiedenen Vorlesungen. Der Themenbestand aber bleibt im Kern derselbe. Der elementarische Teil endet mit Überlegungen zu den Lebensaltern, zum Tod sowie zur Unterscheidung von Schlafen und Wachen. Im Konstruktiven Teil wird die Lehre von der menschlichen Seele in den weiteren Zusammenhang geistiger Prozesse eingezeichnet und bis auf Fragen der irdischen, überirdischen und kosmischen Existenz hin ausgezogen. Die Zuordnung einzelner Themenbestände zum zweiten und dritten Teil der Vorlesung wechselt im Lauf der Jahre. Doch die Dreierstruktur der Ge­samtanlage wird beibehalten.
Mit der vorliegenden Edition kann die Entwicklung von Schleiermachers Seelenlehre kritisch nachvollzogen und die Beschäftigung mit ihr auf eine verlässliche Basis gestellt werden. Damit wird eine ernsthafte Erforschung seiner Psychologie erstmals möglich. Der Editorin, ihrem Mitarbeiter und dem ganzen Editionsteam ist für die Exzellenz ihrer langjährigen Arbeit zu danken.
Der von Walter Jaeschke (II/15) herausgegebene Band enthält zwei getrennt edierte Vorlesungen, die Vorlesungen über das Leben Jesu, die Schleiermacher 1819/20, 1823, 1829/30, 1831 und 1832 hielt, und die Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte, die Schleiermacher nur einmal 1821 vorgetragen hat. Zu beiden Vorlesungen bietet der Band gesonderte historische Einführungen und editorische Berichte. In Abweichung von den editorischen Grundsätzen (XV) gibt es nur ein Literatur- und Bibelstellenverzeichnis (655–693), aber kein Abkürzungsverzeichnis und kein Na­menregister. Beides wird nicht begründet, ist aber wohl dem spezifischen Charakter dieser Vorlesungen geschuldet.
Trotz einiger Vorläufer (Johann Jakob Heß, Hermann Samuel Reimarus) dürfte Schleiermacher »der erste Theologe gewesen« sein, »der Vorlesungen über das Leben Jesu gehalten hat« (XIX). Das erste Mal geschah das im Wintersemester 1819/20 unter dem Titel »Das Leben Christi«, ab dem zweiten Kolleg 1823 dann unter dem Titel »Das Leben Jesu«. Es war eine der populärsten Vorlesungen Schleiermachers. Dazu dürfte auch die besondere Methode dieser Vorlesung beigetragen haben. Schleiermacher kündigte sie als eine Erzählung des Lebens Jesu an, nicht als einen Vortrag oder eine Erklärung, wie es bei Vorlesungen sonst üblich war. Im Zentrum standen nicht die neutestamentlichen Texte als solche oder die Botschaft des Evangeliums, sondern die Person Jesu und das Gottesbewusstsein, das sie kommunizierte. Sie zu verstehen und verständlich zu machen, war das Ziel der Vorlesung. Mit ihr hat Schleiermacher ein neues theologisches Genus begründet.
Dass diese Vorlesung erst 1864 in den Sämmtlichen Werken veröffentlicht wurde, dürfte nicht nur an der Schwierigkeit des nachgelassenen Materials gelegen haben, sondern an dem ein Jahr nach Schleiermachers Tod erschienenen »Leben Jesu« (1835–1836) von David Friedrich Strauß. Das ließ Schleiermachers Versuch obsolet erscheinen. Strauß legte auch 1865 im Jahr nach der Veröffentlichung von Schleiermachers »Leben Jesu« mit seinem Buch »Der Christus des Glaubens und der Jesus der Geschichte. Eine Kritik des Schleiermacher’schen Lebens Jesu« nach Albert Schweitzers Urteil eine »dem toten Werke des großen Theologen […] würdige und er­greifende Grabrede« vor, wie Jaeschke zu Recht in Erinnerung ruft ( XXV). Schleiermachers Oszillieren zwischen dem Leben Christi und dem Leben Jesu war von Strauß durch die Unterscheidung zwischen dem geschichtlichen Jesus und den Christusmythen der Gemeinde überwunden worden. Nicht das Gottesbewusstsein Jesu, sondern die Mythenbildungen der Gemeinde sind Strauß zu­folge der eigentliche Gegenstand eines kritischen ›Leben Jesu‹.
Jaeschkes Edition bietet in einem ersten Teil die Manuskripte Schleiermachers zum Leben Christi (1819–1829), ein Konvolut zum Leben Jesu (nach 1819) und sein Leben Jesu von 1832. Nur der letzte Text war bisher veröffentlicht gewesen. In einem zweiten Teil wird als eine sekundäre Überlieferung die Abschrift des Lebens Jesu von 1823 durch Karl Wolff aus Württemberg geboten, der 1828/29 in Berlin studiert hatte. Schleiermacher dürfte ihm sein Manuskript zur Verfügung gestellt haben, weil er zu dieser Zeit nicht über dieses Thema las. Dieser Text bietet eine sehr gute Abschrift des Kollegs von 1823 und dient als Ersatz für das nicht mehr vorhandene Manuskript Schleiermachers. Er war bisher nicht veröffentlicht. In einem dritten Teil wird von den zahlreichen Vorlesungsnachschriften aller fünf Kollegien nur die bisher unveröffentlichte Nachschrift von Ernst Collin der Vorlesung von 1832 abgedruckt. Die bekannten Nachschriften der Kollegien von 1819/20, 1823, 1829/30 und 1831 – darunter eine Nachschrift des Kollegs 1829/30 von Strauß – werden im editorischen Bericht des Herausgebers beschrieben (XL–LII), aus unterschiedlichen Gründen aber nicht zur Edition herangezogen. Die Entscheidung für den Abdruck der Nachschrift Collins wird mit der Qualität des Manuskripts be­gründet. Die Nachschrift bietet die letzte Fassung des Lebens Jesu von Schleiermacher.
Die exegetische »Vorlesung über die Leidens- und Auferstehungsgeschichte« hat Schleiermacher nur einmal 1821 im Sommersemester gehalten. Die Edition bietet zwei Manuskripte Schleiermachers von 1821: »Zur Leidens- und Auferstehungsgeschichte synoptisch« (515–525) sowie »Ueber Matthäus und Marcus zur Leidens und Auferstehungsgeschichte« (529–554). Von den vorliegenden Vorlesungsnachschriften wird eine bisher nicht veröffentlichte Nachschrift von Friedrich August Eyssenhardt abgedruckt, während eine Nachschrift von Wilhelm Langbein nur beschrieben, aber nicht zur Edition herangezogen wird, weil sie weitgehend mit Eyssenhardt übereinstimmt, aber weniger bietet als dieser (LIX f.).
Der Band legt wichtiges Material vor, gehört in der KGA aber zu den unaufwändigsten Editionen. Während bei manchen Bänden alle (wichtigen) Variationen vorliegender Manuskripte und Nachschriften wiedergegeben werden, wird hier neben den Manuskripten jeweils nur eine Nachschrift geboten und der textkritische Apparat auf das Allernotwendigste beschränkt. Trotz des editorischen Minimalismus liegen damit aber auch die Vorlesungen über das Leben Jesu in einer Form vor, die eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem für die Leben-Jesu-Forschung des 19. Jh.s so folgenreichen Text auf eine solide Grundlage stellt.