Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1284–1287

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Möllenbeck, Thomas

Titel/Untertitel:

Gerechtfertigt durch Erfahrung? John Henry Newmans conversion narratives und die Rolle von Luther und Augustinus in seiner Rechtfertigungslehre.

Verlag:

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018. 598 S. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-506-78642-5.

Rezensent:

Martin Ohst

Im Menschenalter nach den napoleonischen Kriegen gerieten die religionsrechtlichen Ordnungen Englands in Bewegung: Die Toleranzbestimmungen, die Katholiken und Dissenter zu Bürgern zweiter Klasse gemacht hatten, wurden gelockert und aufgehoben. Wie sollte sich die zwar bischöflich verfasste, aber unter strikter Kuratel von Krone und Parlament stehende Established Church nun definieren und positionieren? Aufgeklärte, modernitätsoffene »Liberals«, biblizistisch-erweckliche »Evangelicals« und traditionalistisch orientierte »High Church Men« vertraten durchaus gegensätzliche Positionen. Die seit 1833 in den »Tracts for the Times« sich zu Wort meldenden jungen Oxforder Intellektuellen verbanden auf neuartige Weise das evangelikale Streben nach persönlich-subjektiver Vergewisserung mit der hochkirchlichen Schätzung kirchlichen Herkommens in Lehre und Praxis und werteten gerade die kirchlichen Rituale und Sakramente samt den sie inszenierenden Strukturen von klerikaler Amtlichkeit zu Möglichkeitsbedingungen und Grundlagen religiöser Gewissheit auf. Auch zu den Evangelikalen, mit denen sie ursprünglich gegen die Liberalen und die aus Deutschland eindringende Bibelkritik Seite an Seite gekämpft hatten, gingen die Oxforder auf Konfrontationskurs, erhoben diese doch die der subjektiv-persönlichen Rechenschaft fähige Bekehrungserfahrung zur alleinigen Grundbedingung allen christlichen Lebens und Denkens. John Henry Newman (1800–1890) begann seinen intellektuellen Lebensweg als Sympathisant der Liberalen und wurde dann durch ein erstes Bekehrungserlebnis zum Evangelikalen, bevor er sich jenen Tractarians anschloss. Mit romantisch inspirierten Studien zur Patristik, aber auch als Prediger, Essayist und Romanschriftsteller sowie mit Arbeiten zur Religionsphilosophie und zur Bildungstheorie zählte er zu den herausragenden englischen Intellektuellen des 19. Jh.s.
Zunächst vertrat er mit Verve die Ansicht, die von den Gegnern als katholisierend denunzierten Thesen über die Heilsnotwendigkeit von Geistlichem Amt und Sakramenten seien von den gültigen normativen Basisdokumenten der Church of England, also den 39 Lehrartikeln und den beiden Books of Homilies, nicht nur gedeckt, sondern geradezu gefordert. Publizistischer und amtlicher Widerstand machten ihm deutlich, dass diese Position nicht durchsetzbar war, und so trat er 1845 zur Papstkirche über: Der Mann, der sich zuvor gegen die Überschätzung der Bekehrung, der Konversion als Quelle und Erkenntnisgrund religiöser Überzeugungen gewandt hatte, war nun selbst zum Konvertiten geworden und war umso mehr gefordert, sein eigenes Verständnis von Konversion darzulegen. Konversion generiert nicht etwa aus sich heraus Wahrheitserkenntnis, sondern sie ist ihrerseits die pflichtgemäße Reaktion auf eine Einsicht, die einem Menschen von außen her auf verständig-rechenschaftsfähige Weise zuteilgeworden ist. So traktierte er das Phänomen der Konversion zur christlichen Religion in dem offenkundig ziemlich kitschigen Roman »Callista« (1855) unter dem von Thomas Möllenbeck formulierten Leittitel »Die frustrierte Sehnsucht schafft Platz für den Menschen vor Gott«: Eine junge Griechin, die es zur Zeit des Kaisers Decius ins unwirtliche Nordafrika verschlagen hat, gerät in immer schwerere Sinnkrisen und findet im Kontakt mit dem späteren Märtyrerbischof Cyprian die katholische Kirche, den inneren Frieden und die Vollendung ihres Lebens und Glaubens im Martyrium (57–130). In dem penetrant lehrhaften, recht gedankenblassen Bildungs- und Universitätsroman »Loss and Gain« (1848) wird der jugendliche Protagonist Charles Reding in Oxford irre an einer anglikanischen Kirche, deren Leitungsorgane bei der Aufgabe, für verlässliche Glaubensorientierung Gewähr zu leisten, kläglich versagen, und flüchtet sich in die Papstkirche, »von der seine Vernunft sagt, sie müsse die wahre Interpretin der Selbstoffenbarung Gottes sein, wenn diese überhaupt in der Geschichte existiere. Es ist nicht der unerschütterliche Glaube, der diesen Schritt rechtfertigt und auch nicht die subjektive Erfahrung mit der Kirche. Beides folgt nach« (199); (»Das frustrierte Gewissen schafft Platz für die Kirche«, 131–203).
Nach diesen beiden fiktional konstruierten Brechungen kommen dann Newmans eigene Konversionen in seiner eigenen Deutung zur Sprache, die er als Katholik, provoziert durch evangelikale Angriffe, in der »Apologia pro vita sua« (1865) publiziert hat (»Die frustrierte Reformation schafft Platz für Rom«, 204–250). In diesen drei Kapiteln arbeitet M. bestimmte Grundstrukturen von New­mans theologischem Denken heraus. Basis ist die existentielle und intellektuelle Ureinsicht, dass der Mensch unentrinnlich Gott, seinem Schöpfer und Herrn, gegenübersteht. Der »Gegenüberstand von Gott und Mensch«, wie M. diese nach Newman in aller Religion wirksame Spannungsdynamik leitmotivisch nennt, treibt den Menschen in die Seligkeit oder in die Verdammnis – tertium non datur. Damit er zur Seligkeit gelangt, kann und muss er die ihm gegebenen Fähigkeiten nutzen – insbesondere seine Vernunft, die ihn lehrt, dass er die ihm von Gott zu seinem Heil angebotenen Hilfsmittel in Anspruch nehmen muss, und das folgerichtig, d. h. unter Einsatz aller seiner Kräfte. Zwei Irrwege tun sich auf: einmal der trostlose Irrtum, Gott stelle nur Forderungen und gebe nur Anweisungen, die der Mensch dann aus eigner Kraft befolgen könne und müsse – das sei (auch) der Kern jener Degeneration spät mittelalterlichen Christentums gewesen, gegen welche sich die Reformation zu Recht gewandt habe (»Romanism«). Auf der anderen Seite stehe allerdings die ebenso irreführende Anschauung, der Mensch gewinne seine Wahrheit und das Ewige Leben durch eine rein innerliche, von allein Gott in und an ihm gewirkte Umwendung zum Glauben, aus der dann die Lebenserneuerung frei und spontan hervorgehe (»Protestantism«). Diese Anschauung löse das commercium von Gott und Mensch auf in eine Reihe von rein innersubjektiven Prozessen und vernachlässige sowohl die objektiv-institutionellen Einwirkungen Gottes auf den Menschen als auch dessen Pflichten und Aufgaben in der Aneignung, Bewahrung und Steigerung seiner Heilsanwartschaft. Es ist genau diese Position, die Newman seinen evangelikalen Gegnern bescheinigte und als deren Urheber er mit ihnen Luther namhaft machte: Er habe eine »exklusivistische« Fassung des sola fide in Kurs gebracht; M. verwendet dafür auch gern den mir bis dato unbekannten Ausdruck »Solifidianismus« (z. B. 39). Melanchthon und seine Schüler allerdings hätten diese verderbliche Einseitigkeit schon bald wieder zurückgestutzt. Sicher, auch sie lehrten das sola fide – allerdings entweder in einem weiter ausgreifenden Begriff von Rechtfertigung oder aber im Gesamtverbund von Rechtfertigung und Heiligung, und dann stehe die Formel lediglich für die Einsicht, dass an einem bestimmten Punkt dieses Gesamtprozesses allein der Glaube seinen Ort habe. Und so kam Newman zu der Einsicht, das sola fide sei entweder (bei Luther) eine sich selbst aufhebende, also pa-radoxe Aussage – oder, wie bei Melanchthon, eine bloße Binsenweisheit.
Die dergestalt von ihm rekonstruierte melanchthonische An­sicht hat er in seiner anglikanischen Phase als die durch die normativen Dokumente der anglikanischen Kirche rechtsgültige in Anspruch genommen. Über die Zäsur der Konversion hinweg vertrat er die These: »Justification comes through the Sacraments; is recieved by faith; consists in God’s inward presence; and lives in obedience.« (528) Und den Glauben definierte er, bezeichnenderweise Hebr 11,1 aufnehmend, folgendermaßen: »By faith then is meant the mind’s perception or apprehension of heavenly things, arising from an instinctive trust in the divinity or truth of the external word, informing it concerning them.« (512) Hervorgerufen wird der Glaube durch eine Verkündigung, die an die innersten, eingestandenen und uneingestandenen Bedürfnisse der Menschenseele appelliert und ihnen Befriedigung verspricht. Darum kann der Glaube nur entstehen und gedeihen, wenn die Instanz, die zu ihm ruft, mit dem höchstmöglichen Maß an Sicherheit für die Befriedigung ebendieser Bedürfnisse Gewähr bietet. Darum ist bei gegebener Vielfalt von Kirchentümern die Frage nach der wahren Kirche existentiell, denn nur in ihr vermag der Glaubende zu finden, was er sucht: die Gewissheit, dass sie ihn auf den rechten Weg zur ewigen Seligkeit leitet (vgl. 521; s. auch 135: »nicht die Lehre, die die Kirche über die Rechtfertigung, sondern die, die sie über die Kirche vorträgt, [wird] zum articulus stantis et cadentis ecclesiae«). Ihr gegenüber ist die Entscheidung in Freiheit gefordert, und in durativer Perspektive ist der Glaube also ein »zum Habitus geronnene[r] Akt der Freiheit« (510). Es ist genau dieses dem reformatorischen und den in ihm wirksamen paulinischen Impulsen völlig fremde Verständnis des Glaubens, das Newman schon vor seiner Konversion im Anschluss an Augustin und gegen Luther vollständig ausgearbeitet und entfaltet hatte – in seinen »Lectures on Justification«, die 1838 erstmals erschienen und bei denen er 1874 für die Zweitauflage nur an ganz wenigen Stellen Bedarf für Ergänzungen, Kommentare und Umarbeitungen sah. So führte die Suche nach der via media zwischen den Extremen des von ihm so­genannten »Romanism« und dem von ihm durch rigorose Beanspruchung und Umdeutung normativer Texte an den kritischen Rand der anglikanischen Kirche gedrängten »Protestantism« New­man mit innerer Zwangsläufigkeit in die Papstkirche. Sein Übertritt besiegelte lediglich eine in seinem Denken längst schon gefallene Entscheidung. Und in dieser intellektuellen und biographischen Folgerichtigkeit gestaltet sich Newmans Denken vor dem Auge des Lesers von M.s Buch, das ihn in opulenten Zitaten eindrücklich zu Wort kommen lässt, als ein klassischer, spezifisch papstkirchlicher Beitrag zur Bewältigung der neuzeitlichen Um­formungskrise des Christentums.
Mehrmals macht M. darauf aufmerksam, wie nahe Newmans Deutung der Rechtfertigungslehre der in der »Gemeinsamen Er­klärung zur Rechtfertigungslehre« (1999) vertretenen steht, weil und sofern eben auch Newman die reformatorischen particulae exclusivae, insbesondere das sola fide, »nicht-exklusivistisch« be­stimme. Solche materialen Gleichklänge dürfen jedoch nicht den Blick auf die entscheidende Differenz verstellen: Newman hat klar erkannt, dass ein Rechtfertigungsverständnis, wie es sich ihm aus dem Studium der Bibel, der Kirchenväter und mancher altprotes-tantischer Autoren ergab, ohne Wenn und Aber mit der Papstkirche zusammengehört, und daraus hat er die Konsequenzen gezogen. Jenes hybride Kunstprodukt, das vor zwanzig Jahren durch eine kirchenpolitische Zangengeburt in die Welt kam, gibt hingegen vor, zwei wesensdifferente Gestalten der christlichen Religion seien durch Formelkompromisse vereinbar. So erinnert es also ge­rade nicht an Newman, sondern an die bekannteste Romanfigur seiner unwesentlich älteren Zeitgenossin Mary Shelley. Anders als jenes zusammengeflickte unglückselige Monstrum hat die GER sich jedoch bislang auch durch immer neu applizierte Stromstöße nicht zum Leben erwecken lassen.