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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1282–1284

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Lettner, Gerda

Titel/Untertitel:

Das Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Absolutismus. Die Ära Kaunitz (1749–1794).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. 219 S. = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 105. Geb. EUR 55,00. ISBN 978-3-525-56421-9.

Rezensent:

Kersten Krüger

Aufklärung und Absolutismus – ein unversöhnlicher Gegensatz, so Fritz Hartung und die ältere Verfassungsgeschichte, oder eine gelungene Einheit im Interesse des Fortschritts wie im glücklichen Dänemark unter den Bernstorffs – spannend ist diese Frage noch immer im europäischen Vergleich. Gerda Lettners Fallstudie zur Habsburger Monarchie unter maßgeblichem Einfluss von Wenzel Anton Graf Kaunitz (1711–1794) erbringt neue Ergebnisse, die aufgrund bislang unbekannter oder unvollständig berücksichtigter Quellen erreicht wurden. Über Kaunitz’ Bedeutung für die Aufklärung herrscht in der österreichischen Geschichtsschreibung keine Einigkeit. Während es für Karl Vocelka (ähnlich Adam Wadruszka und Michael Hochedlinger) in Österreich kein Jahrhundert der Aufklärung gegeben habe, vertritt Ernst Wangermann die gegensätzliche Bewertung und rückt neben der aufklärerischen Publi-zistik Kaunitz in den Mittelpunkt. Es ist das Anliegen der Vfn., Wangermanns Thesen zu prüfen und zu bestätigen. Das ist ihr im Wesentlichen gelungen.
Die von Kaunitz angeregten und durchgesetzten Aktivitäten werden chronologisch in der Außen- wie Innenpolitik dargelegt. Von Maria Theresia 1753 zum Staatskanzler berufen, gab Kaunitz sein Debut mit dem Renversement des Alliances durch das Bündnis mit Frankreich und Russland mit dem Ziel der Rückgewinnung Schlesiens aus der Gewalt Preußens. Das Bündnis bereitete den Siebenjährigen Krieg vor. Es war pure Machtpolitik (von der Vfn. nicht erörtert), die mit Aufklärung wenig zu tun hatte, denn das damit abgewiesene England war das Land der Aufklärung, Frankreich und erst recht Russland das Gegenteil. Die Katastrophe des erfolglosen Krieges führte Kaunitz in die Innenpolitik. Durch Gründung des Staatsrates als neuem obersten Beratungsgremium der Monar chin – kein Ministerrat – sollte die zentrale Leitung des Gesamtstaates ohne Rücksicht auf ressortmäßige oder regionale Interessen gewährleistet werden – den Vorsitz hielt Kaunitz bis 1791 inne.
Innenpolitisch ging es um eine grundlegende Reform der Bildung wie der Religion in reformkatholischem Sinn. Vorangegangen war bereits 1745 die Berufung Gérard van Swietens zum Leibarzt Maria Theresias, der zugleich die Universität Wien grund-legend reformierte. In der Theologie wurde die Scholastik nach Aris­toteles durch rationalistische Philosophie ersetzt, nach der die »Existenz eines allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gottes« (31) gelehrt und der Primat des Papstes bestritten werden konnte. Das Bild des gütigen Gottes verdrängte das des strafenden, der nur durch die Gnadenmittel der katholischen Kirche versöhnt werden konnte – so die traditionelle, jesuitisch geprägte Theologie und Seelsorge, welche die Untertanen in furchtsamer Unmündigkeit halten sollte. Hingegen wies der gütige Gott den Ausweg aus der Unmündigkeit zu einem Christentum in Selbstbewusstsein und Selbstverantwortung. Das war Aufklärung in der Religion, eigentlich auf der Grundlage von Luther, dessen Name jedoch nur einmal im gesamten Buch vorkommt und im Personenregister nicht ge­führt wird. Das neue Bild Gottes und damit des Menschen als gut und versöhnlich sollte auch für die Herrschaft gelten, in späteren Jahren in den Opern von Mozart und Gluck auf der Bühne popularisiert. An der Universität Wien wurden auf anderem Gebiet neue Professuren für Naturrecht und Staatsrecht sowie für Kameralistik eingerichtet; an Ersterer lehrte Karl Anton aus Martini nach einem protestantischen Lehrbuch, letztere nahm Joseph von Sonnenfels ein, der wirtschaftliche wie soziale Reformen theoretisch vorbereitete. Die Reform ging über Wien hinaus, indem Jesuiten von allen Professuren für Kirchenrecht entfernt wurden.
Schon unter Maria Theresia entstand die österreichische Staatskirche, die erste Schritte zur Toleranz einleitete – gegen den erbitterten Widerstand gegenreformatorischer Kräfte, angeführt von den Jesuiten bis zu ihrem Verbot 1773. Joseph II. setzte die Kirchenreform radikal fort. Seit 1781 ergingen Toleranzverordnungen für Juden und andere Glaubensrichtungen. Kontemplative Klöster ohne gesellschaftliche Nützlichkeit wurden aufgehoben – über 800 an der Zahl mit etwa 4.000 geistlichen Angehörigen. Die Vfn. hätte gern diese Zahlen nennen können, um die gesellschaftliche Di­mension dieser Klosteraufhebungen zu unterstreichen. Selbst ein Besuch des Papstes in Wien 1782 konnte die Kirchenreform nicht aufhalten. Parallel fand eine Reform der Bildung statt: Ausbau der Landschulen mit modernen Lehrinhalten, Ausbildung von Lehrern und Pfarrern im Sinne einer staatsbürgerlichen Erziehung. Mit der neuen Theologie, der Bindung von Klöstern an gesellschaftliche Nützlichkeit und der Bildungsreform erreichte Kernösterreich eine Modernisierung, vergleichbar der in protestantischen Staaten und Städten in der Mitte des 16. Jh.s durchgesetzten.
Zur Staatsmodernisierung gehörte auch die Mobilisierung von Ressourcen, die nach dem Siebenjährigen Krieg geradezu unvermeidlich wurde. Eine Steuerreform sollte Abgaben aller Stände entsprechend ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit erbringen, zu­gleich war es das Ziel, die Lage der Bauern durch Herabsetzung der Frondienste (Robot) zu verbessern und ihnen die Chance zur Entfaltung als selbständigen, eigenverantwortlich wirtschaftenden Unternehmern zu gewähren – ein klares Anliegen der Aufklärung. Doch scheiterte die Reform außerhalb Kernösterreichs an erbittertem Widerstand, vor allem in Ungarn am vom Adel dominierten Parlament, verbunden mit Androhung militärischer Gewalt. Mit einem »freiwilligen« Beitrag Ungarns musste sich die Regierung in Wien zufriedengeben, ohne den Erhebungsmodus zu kennen oder gestalten zu können. Ein ähnliches Spiel vollzog sich 1789, als Jo­seph II. den ungarischen Krönungslandtag einberief – gegen den Rat von Kaunitz, der zuvor per Oktroi eine Erweiterung des Parlaments durch die nichtadligen Stände vorschlug und die Bildung einer reformfreudigen öffentlichen, genauer in Pressefreiheit veröffentlichten Meinung anregte. In der sogenannten Brabantischen Revolution von 1787 hatte Joseph II. ebenfalls gegen Kaunitz’ Rat den konservativen, ja reaktionären Aufständischen nachgegeben und seine Reformen, insbesondere die Toleranz, zu­rückgenommen.
Auch außenpolitisch reüssierte Kaunitz nicht mehr. Gegen seinen Rat führte Joseph II. 1787 den Türkenkrieg, der mit einem wenig vorteilhaften Frieden endete. Ebenso wenig entsprach die Pillnitzer Konvention von 1791 seinen Vorstellungen, auf die sich Leopold II. im Schlepptau Preußens einließ. Anstelle aktiver Kriegsvorbereitung gegen das revolutionäre Frankreich empfahl Kaunitz eine abwartende Haltung im Verbund der europäischen Mächte unter Einbeziehung Englands und Russlands, sogar bei diplomatischer Anerkennung Frankreichs als konstitutioneller Monarchie. Die schroffe Haltung der Pillnitzer Koalition aber führte zur Stärkung der Kriegspartei in Frankreich und zum Beginn des Terrors mit den Septembermorden und schließlich der Hinrichtung des Königs Ludwig XVI. und der Königin, der Habsburgerin Marie Antoinette. Kaunitz trat 1791 als Staatskanzler zurück.
Die Vfn. beendet ihr Buch mit einer kurzen »abschließenden Be­trachtung«. Diese erscheint dem Leser als unzureichend, denn er hätte hier eine Bilanz der Ergebnisse erwartet. Ohne Zweifel gab es in der Habsburger Monarchie eine bedeutende Bewegung der Aufklärung, maßgeblich von Kaunitz gefördert. Ihre Erfolge lagen eher im innenpolitischen Bereich, weniger in der Außenpolitik. Hier entschieden die Monarchen nach ihrem Verständnis von Machtpolitik – unvereinbar mit den Grundsätzen der Aufklärung und oft zum Nachteil ihrer Staaten. Im Spannungsfeld zwischen Aufklärung und Absolutismus siegten letztlich die Alleinherrscher.