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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1276–1278

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Scherf, Rebecca

Titel/Untertitel:

Evangelische Kirche und Konzentrationslager (1933 bis 1945).

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019. 296 S. m. 4 Abb. = Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, 71. Geb. EUR 60,00. ISBN 978-3-525-57057-9.

Rezensent:

Stephan Bitter

Das vorliegende Buch von Rebecca Scherf ist »die leicht überarbeitete Fassung« (9) ihrer Münchener evangelisch-theologischen Dissertation des Jahres 2016. Doktorvater ist Harry Oelke. Die Vfn. ist heute wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchengeschichte II an der Ludwig-Maximilians-Universität.
Das Thema »Evangelische Kirche und Konzentrationslager« wird im Hauptteil der Arbeit (Teil C) in vier Abschnitten behandelt: I: »Seelsorge in den Konzentrationslagern« (55–88); II: »Evangelische Geistliche in KZ-Haft« (88–98); III: »Auswahl von KZ-Inhaftierungen evangelischer Geistlicher« (98–193); IV: »Autobiographische Aufzeichnungen ehemals inhaftierter Geistlicher« (193–229). Vorangestellt sind eine »Einführung« (Teil A) (11–19) und ein »Historischer Kontext« genannter Teil B (20–54). Teil D (»Gesamtwertung und Ausblick«) beschließt die Darlegungen (230–241). Es folgen »Abkürzungsverzeichnis« (242–244), »Quellen- und Literaturverzeichnis« (245–256), »Personenregister/Biogramme« (257–277), »Ortsregister« (278–283), »Sachregister« (284–289) und schließlich ein »Anhang« mit vier »Abbildungen« (es sind Graphiken) (291 f.) und einer »Auflistung inhaftierter evangelischer Geistlicher« (293–296).
Als ich den Titel der hier anzuzeigenden Arbeit las, kam mir manches Theologen-Bild in den Sinn: der schon 1939 im KZ verstorbene »Prediger von Buchenwald« Paul Schneider; der 1942 ermordete Werner Sylten, der Mitarbeiter Heinrich Grübers; der kurz vor seiner Ermordung 1945 noch eine Andacht haltende Dietrich Bonhoeffer; die schließlich aus dem KZ Dachau befreiten Martin Niemöller und Heinrich Grüber. Aber auch der Seelsorger Harald Poelchau, der in seinem weitgespannten Wirken jüdische Mitbürger vor dem Abtransport in ein KZ bewahrte, oder der die Überführung in ein KZ fürchtende Günther Dehn. Zugleich dachte ich an die große Zahl von jungen Theologen, die seit ihrer Studienzeit in der »Illegalität« in ihrer Zugehörigkeit zur Bekennenden Kirche (BK) mit der Angst vor Inhaftierungen zu leben hatten. Daneben traten Erinnerungen an Nichttheologen, so an die 1944 und 1945 ermordeten Grafen Peter Yorck von Wartenburg und Helmuth James von Moltke, beide in der Gefangenschaft mit Schriften Luthers beschäftigt, Bibel und Gesangbuch wieder und wieder reflektierend; oder an den 1945 ermordeten Hans von Dohnanyi, der im KZ Sachsenhausen Seelsorge an seinen Mitgefangenen übte und auf deren Bitte zu Weihnachten 1944 das Evangelium las. Das sind Bilder christlicher Existenz angesichts der Verfolgung durch den NS-Staat, die zusammenzubringen sinnvoll wäre.
Die Perspektive der vorliegenden Arbeit ist eine andere. Es geht um die Stellung der evangelischen Kirche – der »intakten« oder »zerstörten« Landeskirchen sowie der BK – zum NS-Terror in Ge­stalt der Konzentrationslager; um das in diesem Zusammenhang erkennbare Verhältnis zwischen Staat und Kirche; um die Stellung der Kirche zu ihren inhaftierten Pastoren und um deren geistliche Existenz während und auch nach der Entlassung oder Befreiung aus der Haft. Es geht also um die amtlich oder nichtamtlich verfasste Kirche, nicht um die vielen anderen Glieder der evangelischen Kirche. Dabei wird der Bereich der KZ-Haft getrennt von den Wirklichkeiten sonstigen Inhaftierungsterrors der NS-Zeit gesehen. Da die Studie wiederholt nach der theologischen Deutung ihres Erlebens der Gefangenschaft fragt, die sich bei den Geist- lichen erkennen lasse, wäre anderenfalls etwa das geistliche Vermächtnis Bonhoeffers zumindest als sachlicher Kontext oder Vergleichsgröße in den Blick gekommen; oder etwa das, was der Seelsorger Harald Poelchau zur Seelsorge an Gefangenen niedergeschrieben hat.
Manche Beobachtung der Vfn. zielt darauf, dass die Bedeutung der BK hinsichtlich der Gründe für die Inhaftierungen von Geistlichen und hinsichtlich des Widerstandes der BK gegen staatliches Unrecht nicht überschätzt werden dürfe. Es hemmte u. a. eine theologische Ratlosigkeit hinsichtlich des Gehorsams gegenüber der Obrigkeit.
Die Auswertung des Berichteten ist nicht immer nachzuvoll-ziehen. So wird gesagt, dass die Seelsorge in den frühen Jahren der KZs weithin von staatsbejahenden deutschchristlichen Theologen (»Um­erziehung« – die Kirche als Partner des Staates) wahrgenommen worden sei (z. B. 85), während ausgiebig über die seelsorgerlichen Bemühungen des bayerischen Pfarrers Friedrich Hofmann um die in Dachau inhaftierten Geistlichen referiert wird, ohne dass eine entsprechende Belastung erkennbar wäre.
Die Vfn. befasst sich zu Recht eingehend mit den Inhaftierungen in Dachau in den Jahren 1941–1945. Für die KZ-Inhaftierungen des Jahres 1935 beschränkt sie sich auf Geistliche aus den Landeskirchen Nassau-Hessen und Sachsen. Die Lektüre ist durch diese Ungleichmäßigkeit etwas gestört wie auch dadurch, dass der Leser sprunghaft den Arbeitsgängen der Vfn. und unerwarteten Fragestellungen folgen muss.
Manche Umständlichkeit erscheint überflüssig, z. B. bei der Darlegung zur Bestimmung des Genus »Predigt« (170 f.) oder bei den unverhofft (172 f.) eingestreuten Erwägungen zur Herausgeberschaft des kleinen Bandes »Das aufgebrochene Tor. Predigten und Andachten gefangener Pfarrer im Konzentrationslager Dachau«, München o. J. (1946). Im Literaturverzeichnis sucht man den Titel zunächst vergebens, weil er unter dem Namen des von der Vfn. vermuteten Herausgebers K. A. Gross eingeordnet ist; »1946« hätte, da im Buch nicht angegeben, in Klammern gestellt sein sollen. – Der nach R. Hartmann (epd-Wochenspiegel 1/1998, 11) von H. G. Richardi/Dachau 1998 vorgelegte Forschungsbericht »Die Gruppe der evangelischen Geistlichen im KZ Dachau – Wer sie waren, was sie bewegte, was sie erlebten« scheint verschollen zu sein.
Die biographischen Angaben am Schluss des Buches (»Personenregister/Biogramme«) sind ungleichmäßig. Zum Teil fehlen die Geburts- und Todesdaten (z. B. bei M. Altenpohl), zum Teil fehlen Ortsangaben, z. B. bei den ausführlich behandelten Fr. Hofmann und O. Meder. Für den wiederholt angesprochenen E. Lewek ist nur der Geburts-, nicht aber der Sterbeort angegeben. Der im Text am Rande erwähnte E. von Harnack wird mit vielen Angaben versehen, während zu dem hier wichtigen O. Weber so gut wie nichts gesagt wird.
Wortwahl und Satzbau dieser Dissertation sind oft holprig. Wer die deutsche Sprache schätzt, muss manch heftigen Stoß hinnehmen. Der Vfn. ist trotz dieser kritischen Anmerkungen für die von ihr gebotene Erschließung neuen Quellenmaterials aus dem fins-tersten Kapitel der Geschichte Deutschlands und der evangelischen Kirche zu danken.
Ihr lag daran, einen Beitrag zur kritischen Überprüfung des Bildes der BK »als Kirche der Verfolgten und des Widerstands« zu leis-ten, das sich nach 1945 auch aus der Berufung auf die Leiden inhaftierter Geistlicher in den KZs ergeben habe. Man wird sich (über die Fragestellung dieser Arbeit hinaus) auf den christlichen Widerspruch gegen den NS auch außerhalb der BK zu besinnen haben. Ex negativo mag mancher Hinweis dieser Arbeit zur Korrektur eines idealisierten Bildes der BK beitragen; doch bleibt zu bedenken, dass die Belege hierfür aus einem beschränkten Wirklichkeitsfeld herrühren.