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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1275–1276

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Nottmeier, Christian

Titel/Untertitel:

Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890–1930. Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik. 2., durchges. u. um e. Nachwort erg. Aufl.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. XVII, 608 S. = Beiträge zur historischen Theologie, 124. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-151997-0.

Rezensent:

Siegfried Weichlein

Adolf von Harnack stand wie Max Weber oder Hugo Preuss am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik und gilt als eine der liberalen Lichtgestalten im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Jeder dieser »Intellektuellen-Götter« prägte auf seine Weise Politik und Wissenschaft. Harnack gehörte in die vorderste Reihe der »Religionsintellektuellen« (Friedrich Wilhelm Graf), die permanent das Christentum unter den Bedingungen der Moderne zu plausibilisieren versuchten. Dass Christian Nottmeiers Berliner Dissertation von 2002 »Adolf Harnack und die deutsche Politik 1890–1930« jetzt in die zweite Auflage gegangen ist (1. Auflage 2004), bezeugt das nachhaltige Interesse an diesem protestantischen Theologen und Gelehrtenpolitiker und seiner Übersetzungsarbeit von Protestantismus in Politik und Kultur. Die zweite Auflage korrigiert kleinere Fehler und enthält ein neues Nachwort.
N. plausibilisiert seine These der inneren Einheit von Protestantismus, Politik und Kultur bei Harnack für das späte Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik. Die Konsistenz Harnacks in diesen Bereichen ergab sich für N. aus seiner Grundannahme der Kulturbedeutung des Protestantismus. Seine Kulturtheologie, Gelehrtenpolitik und sein demokratisches Engagement nach 1919 leiteten sich aus dem »unendlichen Wert der Menschenseele« (536) her, der Unverletzlichkeit der Persönlichkeit des Einzelnen und seiner Freiheit. In Politik und Gesellschaft orientierte sich Harnack am Interessenausgleich, sei es durch Konfliktvermeidung, durch Konsenspflege oder Sozialreform. N. spricht zusammenfassend von einer »relativ geradlinigen Entwicklung Harnacks« (519) bei allen Brüchen und Schockerfahrungen. Sein Instrumentarium, um den Wandel vom Kaiserreich über den Weltkrieg zur Republik zu deuten, war immer wieder der »unendliche Wert der Menschenseele« (536). Die Republik steigerte für ihn das »Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein des Einzelnen ebenso […] wie die Bildung und das Allgemeinwissen« (519). Diese idealistische Überblendung der sozialen Realität und sein Glaube an eine organische Entwicklung über alle Brüche hinweg blieben dem späten Kaiserreich verhaftet. Harnacks theologischer Historismus stieß bei den antihistorischen Theologen nach 1919 auf Unverständnis.
Umso erstaunlicher ist es, dass N. im neu hinzugefügten Nachwort (523–547) nicht nur den Stand der Harnackforschung referiert, sondern auch die Frage nach seiner bleibenden Aktualität stellt. Harnack könnte für N. heute auf drei Ebenen wichtig werden. Erstens ist seine »Wahrnehmung einer tiefgreifenden Umformungs- und Plausibilitätskrise des Christentums« (534) noch aktuell. Der Krisendiagnostiker Harnack beharrte auf dem absoluten Eigenwert des Menschen und begründete den Individualitätsgedanken letztlich religiös. Das hat – zweitens – Folgen für die Politik, weil diese Formel Harnacks »eine ebenso demokratiefähige wie antitotalitäre Chiffre individueller und zugleich in Gott gegründeter Freiheitsrechte« darstellt (538). Drittens schließlich erlaubte die demokratische Affinität Harnack Selbstkritik an der lutherischen Tradition und ihrem ambivalenten Erbe, mutig im Kriegsjahr 1917 und nicht unwichtig im Erscheinungsjahr der 2. Auflage 2017. Für N. »bleibt die Reformation eine unvollendete und zugleich fortschreitende Aufgabe« (544 f.). Diese Dissertation rückt die Geschichte der Religionsintellektuellen und auch der Theologie in den Mittelpunkt. Es ist schwerlich Protestantismusgeschichte, weil die Mehrheit der Theologen, Pastoren und der Gemeindemitglieder sehr viel konservativer dachte und wählte als Harnack.