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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1274–1275

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

März, Peter

Titel/Untertitel:

Gelenkte Geschichte. Jüngste deutsche Erinnerungsjahre und die historische Reflexion. Einwendungen.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2018. 182 S. Kart. EUR 19,80. ISBN 978-3-402-13304-0.

Rezensent:

Benjamin Hasselhorn

Peter März hat »Einwendungen« zur deutschen Geschichtspolitik der vergangenen fünf Jahre formuliert. Er konzentriert sich dabei vor allem auf den 100. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs 2014 einerseits, auf das Reformationsjubiläum 2017 andererseits. Seine Grundhypothese lautet: Zwischen staatlichem Interesse an einer legitimierenden Geschichtspolitik und wissenschaftlichem Interesse an autonomer Forschung bestehe eine Spannung, die mal zugunsten wissenschaftlicher Autonomie ausfalle, mal dazu führe, dass die Wissenschaft am »Gängelband« (16) des Staates hänge. Seiner Meinung nach zeige 2014, wie sich wissenschaftliche Autonomie gegen die geschichtspolitischen Wünsche des Staates behaupte, während 2017 eine »Gängelband-Veranstaltung« (172) gewesen sei, deren inhaltliche Ergebnisse keinen Bestand haben werden.
In Bezug auf 2014 erscheint die These plausibel. M. zitiert so­wohl die Bundestagsfraktion »Die Linke« als auch eine Stellungnahme des Bundespräsidenten, um zu zeigen, dass die poli-tische Klasse im Wesentlichen an einer Deutung des Ersten Weltkriegs im Sinne von Fritz Fischers These von der Allein- bzw. Hauptschuld Deutschlands am Zustandekommen des Krieges interessiert ge­wesen sei. Publizistisch sei 2014 aber durch die dem ganz entgegenstehende These Christopher Clarks von der Verantwortung aller beteiligten europäischen Mächte für die Entstehung des Ers­ten Weltkriegs geprägt gewesen. M. verweist dabei sowohl auf bereits früher erschienene Studien als auch auf ergänzende Arbeiten zur auf Eskalation angelegten Außenpolitik Russlands bzw. Frankreichs wie auch zur kriegsverlängernden Politik der Entente-Mächte. M. zeigt zudem, dass der Erfolg von Clarks Deutung auf der methodischen Plausibilität beruht, die Handlungen und Motive aller Akteure zu untersuchen, bevor man ein Urteil über Verantwortungsanteile fällt. Ein Anzeichen für den Erfolg dieser Deutung sei die Tatsache, dass selbst diejenigen, die am Fischer-Paradigma festhielten, dessen These vom lange geplanten »Griff« Deutschlands »nach der Weltmacht« inzwischen stillschweigend aufgegeben hätten.
Im Hinblick auf 2017 sind M.s Ausführungen weniger überzeugend. Natürlich kann man den langen Planungs- und Feiervorlauf von 2017 als schlechte Idee kritisieren, kann man die »Tonnenideologie« (92) der Besucherzahlen und die »Gremienseligkeit« (93) der Festvorbereitungen anprangern. Die Vorstellung aber, die offiziellen – in diesem Falle staatlichen und kirchlichen – Institutionen hätten im Sinne eines möglichst glatten und vor allem unkritischen Lutherbildes wissenschaftliche Gegenstimmen quasi ausgeschaltet, ist absurd. Was die sogenannten »Schattenseiten« der Reformation betrifft, insbesondere natürlich Luthers Antijudaismus, so zitiert M. selbst die zahlreichen offiziösen und halboffiziösen Stellungnahmen, und er hätte das noch durch den Befund ergänzen können, dass die falsche oder mindestens komplexitätsreduzierende Formel von »Luthers Antisemitismus« durch 2017 sehr breit in der Öffentlichkeit verankert wurde. Was hätten EKD und staatliche Institutionen noch mehr tun sollen? Plausibler als M.s Deutung wäre daher die genau gegenteilige These: dass nämlich die offizielle Geschichtspolitik der Reformationsdekade sehr stark und in problematischer Weise von den »Schattenseiten« geprägt war. Das ganze Thema »Reformation und Judenfeindschaft« ist nur ein besonders krasses Beispiel dafür, wie sehr die angebliche wissenschaftliche Differenzierung in Wirklichkeit dazu führt, dass sich anstelle der abgelehnten alten Bilder (Luther als Freiheitsheld, Luther als Sprachgenie usw.) neue Bilder (Luther der Judenhasser) etablieren, die mindestens ebenso falsch sind wie die alten.
Das Hauptproblem von M.s Überlegungen zu 2017 aber ist, dass er die von ihm selbst erwähnte dritte Dimension zwischen Ge­schichtsforschung und Geschichtspolitik immer wieder ignoriert, nämlich die Geschichtsdeutung. Hier erst verbinden sich Forschung und Politik, und hier ist die wesentliche Ursache dafür zu suchen, dass die Erinnerungsjahre 2014 und 2017 so unterschiedlichen Charakter haben. Denn 2014 gelang es Christopher Clark und anderen Forschern, tatsächlich eine neue Deutungsperspektive auf die Kriegsursachen öffentlichkeitswirksam zu formulieren. Für 2017 gibt es nichts Vergleichbares. Es erschienen einige kirchenhis-torische Studien und so gut wie keine systematisch-theologischen Werke. Nichts davon brachte einen echten Perspektivwechsel. Auf was hätte sich da 2017 die staatliche oder kirchliche Geschichtspolitik beziehen sollen? Darauf, dass die Dinge kompliziert sind und es nicht eine Reformation, sondern viele Reformationen gab? Darauf, dass die Reformation dunkle Seiten hatte? Darauf, dass Luther ein Judenfeind war? Oder darauf, dass Luther der »fremde« sei, der Mensch des 16. Jh.s, der mit der Welt des 21. Jh.s nichts mehr zu tun habe? All diese Deutungen kann man von Forscherseite aus vertreten; nichts davon ist geschichtspolitisch konstruktiv nutzbar. Ein »Gängelband«, mit dem der Staat die Wissenschaft geknechtet hätte, gab es daher 2017 nicht. Es spricht auch wenig dafür, dass es eine Art Ausgrenzung von Wissenschaftlern durch die geschichtspolitischen Gremien gegeben hätte. Viel mehr spricht für die These, dass – von Ausnahmen abgesehen – 2017 einen »Abschied der Wissenschaft aus der Jubiläumskultur« (Stefan Rhein) markiert. Welche Folgen das für künftige Geschichtspolitik hat, ist noch völlig un­klar.