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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1271–1273

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Stückemann, Frank [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johann Moritz Schwager: Homiletische Volksaufklärung für den Landmann. Einzelpredigten und Predigtskizzen.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2014. 424 S. = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 41. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7858-0647-0.

Rezensent:

Christoph T. Nooke

Johann Moritz Schwager ist als westfälischer Volksaufklärer von Frank Stückemann bereits eingehend gewürdigt worden (Johann Moritz Schwager [1738–1804], ein westfälischer Landpfarrer und Aufklärer ohne Misere, Bielefeld 2009; und weitere von ihm [mit-] verantwortete Quellenbände). Damit konnte die Aufklärung als we­sentliches Moment der Kirchengeschichte Westfalens aufgezeigt werden.
Der vorliegende Editions-Band widmet sich Predigten Schwagers, einem Herzstück pfarramtlicher Alltags- und Sonntagsarbeit. »Gab es bei ihm überhaupt so etwas wie homiletische Volksauf-klärung? Oder nahm auch er wie so viele andere Landpfarrer den gemeinen Mann in seiner unliterarischen Bildungsferne letztendlich als rein passives Objekt, nicht aber als rezipierendes Subjekt volksaufklärerischer Bemühungen in den Blick?« (10 f.) Die Antwort auf diese Leitfrage muss sich der Leser durch die Lektüre selber beantworten. Auf ausführliche kritische Apparate und Kommentare – außerhalb der Einleitung – wird verzichtet. Dem Band sind ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister beigegeben. Ein Sachregister und ein Bibelstellenregister hätten die Nutzbarkeit dieses Bandes sicher noch erhöht. Insgesamt wird hier ein Lesebuch geboten, das am Beispiel der Kanzelrede einen anregenden Zugang zum Geist der Aufklärung in Westfalen ermöglicht.
Die Predigtmaximen Schwagers lassen typische Merkmale der Aufklärungspredigt erkennen. Spekulationen gehören für ihn nicht auf die Kanzel, vielmehr gilt: »stoßen wir durch unser Nachforschen auf Wahrheiten, die unsern Zuhörern nützlich seyn können; so wollen wir sie ihnen vortragen, aber mit Klugheit und nicht eher, als wir von dem Nutzen versichert sind, den wir zu stiften wünschen« (zitiert 23). Dass im Festhalten an den Inhalten der positiven Religion ein Unterscheidungsmerkmal Schwagers zu »vielen seiner aufgeklärten Zeitgenossen« zu sehen sei (33), verkennt je­doch die Vielfalt der Aufklärungstheologie abseits vom unterkomplexen Schema »Vernunft oder Offenbarung«. Dass die Wahrnehmung der westfälischen Kirchengeschichte auch heute noch durch die Brille der Erweckung passiert, wie Stückemann mutmaßt (46), sollte hoffentlich als überwunden gelten können.
Zuerst finden wir das Predigtprogramm in der Schrift »Wie kann der gemeine Mann von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt werden« (1780). Näherhin lautet die Frage: »worauf es nemlich hauptsächlich ankommt, wenn der gemeine Mann zur wirklichen Ueberzeugung von der Wahrheit der christlichen Religion gebracht werden soll« (50 f.) Schwager differenziert zwischen dem öffentlichen Vortrag und dem besonderen Einzelgespräch, das zur Auseinandersetzung mit Zweifeln gedacht ist. Das jedoch be­deutet keine intellektuelle Verflachung, denn: »wer denken will, findet gewiß nirgends mehr Stoff zum denken als in den Lehren unserer fürtrefflichen Religion.« (60)
Dann folgen ausformulierte Einzelpredigten in chronologischer Ordnung, die einen Eindruck vom Stil Schwagers vermitteln. Immer wieder wird in der Lektüre deutlich, dass es sich keinesfalls um lehrmäßig-nüchterne Vorträge handelt – so steht auch ein Gebet voran –, sondern die Person des Predigers und ihre Gefühle eine wichtige Rolle spielen: Das Kapitel Mt 6 könne er nie ohne Rührung lesen, da Jesus darin so deutlich von der herzlichen Sorge Gottes spreche (72). Die Predigten enthalten zahlreiche Schriftverweise und Zitate. Die Bandbreite seiner Klaviatur illustrieren Bilder aus der Predigt »Wichtige Bewegungsgründe for Aeltern, ihre Kinder christlich und treu zu erziehen Eph. 6,4« (84): »O ihr nachlässigen, saumseligen Aeltern, ihr Schöpfer dieser Verbrechen und Strafen, tretet näher u[nd] seht euer Fleisch und Blut, seht euren verzogenen Sohn in den Händen der Henker […] ihr Barbaren! die ihr ihn zum Galgen auferzogen habt.« (102)
Er vermag aber auch politische Ereignisse zum Gegenstand zu machen: »Friedenspredigt, bey Gelegenheit des am 13. May 1779 erfolgten Teschener Friedens. Gehalten am ersten heil. Pfingsttage«, oder die »Gedächtnißpredigt Friederich dem Zweyten weiland Könige von Preußen« (1786), die sich mit der Frage auseinandersetzt, ob es nach einer »vernünftig-christlichen Sittenlehre« nicht verboten sei, nach (Nach-)Ruhm zu streben. Auch hier übermannen den Prediger die Gefühle, er entschuldigt sein Schluchzen, seine Tränen. Ob diese Predigten allerdings wirklich so »an den Landmann« gerichtet sind, wäre zu fragen.
Sein hygienisches Engagement begegnet in der »Predigt zur Emp­fehlung des Einimpfens der Kinderpocken (4. Advent 1789)«. Hier geht er auf den Unterschied zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort ein: »Ich hof[f]te, daß diese Predigt noch weiter als in Joellenbeck würde wirken können«, deshalb habe er sie bearbeitet, »die Einkleidung nahm aber unvermerkt einen anderen Gang, wie dies zu geschehen pflegt, wenn man schreibt, wo sich uns ein anderer Styl aufdringt, als auf der Canzel.« (139) Inhaltlich enthält die Predigt interessante anthropologische Ansätze: Weil wir uns das natürliche Gefühl abgewöhnt haben, hat uns Gott den Verstand gegeben, damit wir nun das, was wir sonst durch das Gefühl gefunden haben, jetzt durch Nachdenken und Vergleichen finden (141).
Die hauptsächliche Arbeit ist sicherlich in Teil 3 geflossen, in dem Stückemann einen kompletten Jahrgang an handschriftlichen Predigtskizzen Schwagers aus dem Archiv der Kirchengemeinde Jöllenbeck aufbereitet und lesbar gemacht hat. Die Lektüre ist mühsam, aber erschließt detailliert eine homiletische Praxis dieser Zeit. Es sind Skizzen, Gedächtnisstützen für seine »Religionsvorträge« (17). Dazu benutzte er ein recht eigenes Kürzelsystem.
In den »Handschriftlichen Predigtskizzen für den Landmann: Über freie Texte, ein Jahrgang, angefangen den 28. November, Do­minica 1 Adventus 1779« finden sich immer wieder zuerst Inhalts bzw. Aufbau-Angabe, dann kurze Stichpunkte, was man dazu predigten könnte, nebst Bibelverweisen. Sie enthalten beeindruckende Elementarisierungen: Was ist ein Heiland? (Weihnachtspredigt 1779) (264), und auch in den Leichenpredigten sehr zu Herzen ge­hende Ausführungen (vgl. Leychenpredigt der alten Heyenbrockschen, 297 f.). Die Osterpredigt 1780 geht auf Zweifel an der Auferstehung ein, denen mit Beispielen von natürlichem Wachsen und Werden begegnet wird (306) – ein Paradebeispiel für die Orientierung am »Landmann« als Hörer.
Die »Predigtentwürfe über freye Texte« sind 1795 im Druck er­schienen. Seine psychologischen Fähigkeiten zeigt Schwager an­lässlich der Beerdigung eines Suizidopfers (384), in der er auf die »Herzensangst« eingeht: »Es war ein Kranker, ein Höchtsunglücklicher, ein Mensch, der schrecklich leiden mußte, ehe er den schrecklichen Vorsatz faßte« (387). Daneben dann wieder so handgreifliche Probleme wie der Schnapsverzehr von Schulkindern beim Leichenschmaus (393).
Die Gedächtnis-Predigt, die sein Schwiegersohn auf ihn hielt, enthält eine bis dahin kaum verwendete Charakterisierung als »Re­ligions-Lehrer«, die ansonsten (ohne besondere Bedeutung) synonym für den Pfarrberuf verwendet wurde.
Mit den vorgelegten Predigten findet sich ein Querschnitt über drei Jahrzehnte homiletischen Schaffens. »Sie belegen, dass sich Schwager als homiletischer Volksaufklärer bei aller Verschiedenheit der Themen, der Anlässe und der biographischen Lebenssituationen in erstaunlicher Weise treu geblieben ist.« (48) »Nicht exklusive Theologie, sondern elementare Religiosität spricht aus Schwagers Predigten.« (47) Dieser Summe Stückemanns ist nur beizupflichten.
Der Band macht darauf aufmerksam, dass noch viel Lesenswertes in Archiven und schwer zugänglichen Quellen schlummert, das das Bild des 18. Jh.s in Westfalen und andernorts noch bunter machen könnte, als es bislang ist. Dass sich Frank Stückemann der Mühe dieser Edition unterzogen hat, zeigt die Begeisterung, die die Auseinandersetzung mit historischen Quellen auslösen kann.