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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1266–1268

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Ernesti, Jörg

Titel/Untertitel:

Leo XIII. Papst und Staatsmann.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2019. 480 S. m. Abb. u. Ktn. Geb. EUR 38,00. ISBN 978-3-451-38460-8.

Rezensent:

Bernhard Schneider

Der in Augsburg und Brixen lehrende katholische Kirchenhistoriker Jörg Ernesti fügt seinen zwei Biographien zu Päpsten des 20. Jh.s nun einen dritten Band hinzu, der eine Gestalt des Übergangs in den Blick nimmt. Das gilt nicht nur für die Amtsjahre Leos XIII. (1878–1903), sondern – wie E. überzeugend zeigt – auch für das Handeln dieses Papstes zwischen Tradition und Moderne.
E. stützt seine Darstellung auf ein riesiges Werk gedruckter Quellen – allein die offizielle vatikanische Aktensammlung zu diesem Pontifikat umfasst 23 Bände – sowie eine breit rezipierte Se­kundärliteratur vorwiegend des romanischen Sprachraums, da die deutschsprachige Forschung zu diesem Pontifikat vergleichsweise wenig umfänglich ist – einzelne durchaus passende deutschsprachige Titel sind E. in der Flut der Literatur aber anscheinend schlicht entgangen (etwa René Schlotts Studie zur medialen Inszenierung des Papsttodes seit Pius IX., die bestens zu E.s These von Leo XIII. als Medienpapst passen würde). Allein schon durch diesen Wissenstransfer leistet E. mit seiner Biographie einen wertvollen Beitrag zur Papstgeschichte. E. überschreitet eine weitere Grenze dadurch, dass er einem breiten Lesepublikum die Möglichkeit eröffnet, an einem spannenden Kapitel der Papst- und Kirchengeschichte zu partizipieren. Dementsprechend ist das Buch nicht streng fachwissenschaftlich angelegt, was sich in einem weitgehenden Verzicht auf Spezialdiskussionen und auch in einem sich auf die nötigen Nachweise und einige weiterführende Literaturhinweise begrenzenden Endnotenapparat zeigt. Zudem gelingt es E., durch eine sehr gut lesbare sprachliche Gestaltun g den Verzicht auf gängigen Fachjargon und in den Text eingebundene Erklärungen von Begriffen einen leichten Zugang zu Person und Werk dieses Papstes zu schaffen. Ein umfangreicher Bildteil (362–402) eröffnet einen zusätzlichen Weg, sich dieser eindrucksvollen Persönlichkeit anzunähern.
Die Biographie – die erste umfängliche in deutscher Sprache zu diesem Papst seit 80 Jahren – kombiniert die chronologische Ordnung klug mit einer systematischen. Sie schildert chronologisch die langen Jahre bis zur in recht hohem Alter erfolgten Papstwahl (25–77), charakterisiert dann in einer knappen Skizze den Pontifikat (85–114) und beschreibt anschließend in sechs thematischen Kapiteln souverän das Denken und Wirken des Papstes. Die internationale Politik und die Staatslehre (115–188), die sogenannten jungen Kirchen (189–211), die getrennten Christen (213–233), die Erneuerung der Gesellschaft einschließlich der sogenannten sozialen Frage (235–258), die innerkirchliche Reform (259–304) sowie schließlich Leos Haltung zu Wissenschaft und Technik (305–329) werden thematisiert. Ein Kapitel zum Lebensende (331–340) greift den biographischen Faden wieder auf, bevor ein umfassender, thematisch gegliederter Epilog (344–360) den hauptsächlichen Ertrag dieses Pontifikats in prägnanter Form umreißt und so eine abschließende Würdigung des Papstes »an der Schwelle zur Moderne« (344) biete t. Diese Gliederung ist gelungen – lediglich das Kapitel zum Ordensleben (250–258) scheint mir am falschen Ort zu stehen –, strukturiert sie doch den immerhin 25 Jahre dauernden Pontifikat sehr gut, so dass ein klarer Überblick entsteht. Schon der Umfang der einzelnen Kapitel signalisiert, worin E. die Schwerpunkte des Pontifikats erblickt: in der Politik und den binnenkirchlichen Reformen. Tatsächlich hat Papst Leo XIII. vor allem durch seine Ausführungen zur Staats- und Gesellschaftslehre – er ist der Papst der ersten Sozialenzyklika (Rerum Novarum 1891) – sowie durch sein theologisches Eintreten für die Neoscholastik am nachhaltigs-ten gewirkt, während seine praktische Politik weithin scheiterte. Für die Kirchengeschichtswissenschaft ist die von ihm veranlasste Öffnung der vatikanischen Archive für die wissenschaftliche Forschung ein bleibendes Verdienst dieses Pontifex.
E. schreibt mit spürbarer Sympathie für »seinen« Papst und lässt ihn, der allein 86 Enzykliken verfasst hat – kein Papst hat mehr geschrieben –, recht ausführlich in wörtlichem Zitat oder Paraphrase zu Wort kommen. E. verschweigt aber auch Grenzen, Schwächen und Fehlentscheidungen nicht, bringt sie allerdings in einer eher vornehm zurückhaltenden Art zur Sprache. Auffällig häufig gelangt E. so zu einem gleichsam zweigleisigen Urteil: Einerseits handelte oder schrieb der Papst konventionell, ander-erseits enthielt sein Wirken und Denken dann aber doch auch »durchaus neue Akzente« (so 267 im Blick auf die Priesterausbildung). Leos XIII. Eintreten für eine gründlichere wissenschaftliche Beschäftigung mit der Hl. Schrift würdigt er z. B. auf der einen Seite mit Recht als das Aufstoßen einer Tür, erkennt auf der anderen Seite aber doch auch an, dass der Papst noch keine Akzeptanz der damals schon vor allem in der protestantischen Theologie weit entwickelten historisch-kritischen Exegese aussprach und in seinem Pontifikat Alfred Loisy wegen seiner Studien zum Pentateuch sogar seine Lehrerlaubnis verlor (260–263). Die Hinweise auf die Grenzen des päpstlichen Denkens und Handelns hätte man deutlicher und kritischer formulieren können. Auch finden die negativen Konsequenzen der einseitigen Begünstigung des Neothomismus durch den Papst zu wenig Beachtung. Der Verweis auf die Causa Rosmini als »Kollateralschaden« (277) greift zu kurz. Dass E. auch deutlicher werden kann, zeigt seine Bemerkung zum Umgang des Papstes mit der christdemokratischen Bewegung in Italien, die er zutreffend als schweren Rückschlag für diesen Aufbruch im italienischen Katholizismus wertet (245). Den Umgang Leos XIII. mit der sozialen Frage schildert E. anschaulich und gründlich und würdigt mit Recht insbesondere seine Enzyklika »Rerum Novarum« als wegweisendes Dokument (238–245). Man hätte hier ein deutlicheres Wort dazu erwartet, dass es reichlich spät kam und inhaltlich neben Wegweisendem auch noch traditionelle Züge einer Überhöhung des kirchlichen Beitrags zur Lösung der sozialen Frage aufweist. Es schrieb auch eine problematische individualethische Grundierung des Rechts auf Privateigentum fest, die sich – anders als es E.s Ausführungen nahelegen (vgl. 239.275) – in dieser Form nicht auf Thomas von Aquin zurückführen lässt, sondern als Beispiel für eine verengte, spezifisch neoscholastische Rezeption des Aquinaten gelten muss, was etwa Oliver Müller 2005 erläutert hat (der Titel fehlt). Diese wenigen kritischen Anmerkungen schmälern das Verdienst E.s nicht, möchten aber mit E. selbst (14) deutlich machen, dass zu diesem Pontifikat und diesem Papst noch weitere Spezialstudien erwünscht sind.