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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1264–1266

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Cavallar, Georg

Titel/Untertitel:

Gescheiterte Aufklärung? Ein philosophischer Essay.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2018. 202 S. m. Abb. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-17-035482-1.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Das schmale Büchlein hat es in sich! Sein Autor Georg Cavallar ist mit den Basistexten der europäischen Aufklärung ebenso vertraut wie mit der darauf bezogenen Forschungsliteratur. Und die von ihm gewählte Gattungsbezeichnung trifft es genau: Was er vorlegt, ist weder eine kompendiarische Gesamtschau noch eine historiographische Spezialuntersuchung, sondern ein Essay, also eine geist-reiche persönliche Auseinandersetzung mit einem kulturellen Ge­schichtsphänomen. Die Abhandlung bewegt sich auf einer sorgsam austarierten geistigen Höhenlage: Sie liest sich flüssig, verlangt aber anhaltende Aufmerksamkeit; sie erklärt in einem Glossar wichtige Grundbegriffe wie »Empirie«, »Fatalismus« oder »Metaphysik«, macht aber solide englische und französische Sprachkenntnisse unabdingbar; und sie bekennt sich durchweg zur eigenen Subjektivität, zielt aber gleichwohl auf intersubjektive Verständigung ab.
Zur »Einführung in das Thema« rückt C. acht gängige Zerrbilder zurecht, mit denen die Epoche der europäischen Aufklärung vielerorts diskreditiert zu werden pflegt. Über deren sachliche Korrektur hinaus mahnt er auch seriöse intellektuelle Diskursformen an: »Die Kritik an der Aufklärung sollte mindestens das argumentative und selbstreflexive Niveau halten, das sie bei den Aufklärern vermisst.« (20) Die hier thetisch vorweggenommenen Klarstellungen, wonach sich die Aufklärung weder zum Kampfbegriff eines eurozentristischen Superioritätsgehabes eigne noch in ihren Intentionen und Manifestationen blind vernunftgläubig oder nihilistisch oder athe-istisch gewesen sei, werden im Fortgang diskursiv verifiziert.
Das erste und sechste Kapitel umrahmen die materiale Darstellung mit klugen metafaktischen Reflexionen. Zunächst unterscheidet C., über die gängigen Distinktionen hinausführend, sechs verschiedene, einander teilweise überlappende Aufklärungsbegriffe. Hinsichtlich der damit konnotierten, vom mittleren 17. bis zum ausgehenden 18. Jh. sich erstreckenden Geschichtsperiode hält er zentrale transnationale Kennzeichen fest, so die »Wendung zum eigenen Verstand« (32), die Maxime des Selbstdenkens, den prozessualen, erfahrungsorientierten, kritischen und antisystemischen Grundimpuls sowie die Tendenz zu Anthropozentrik und dynamischem Geschichtsoptimismus. Diese basalen Feststellungen sind allesamt unmittelbar evident, hätten aber unter dem letztgenannten Aspekt durch den Hinweis auf das von der Aufklärung verfochtene individuelle und gesellschaftliche Perfektibilitätspostulat wo­möglich noch präzisiert werden können.
Mit dem zweiten Kapitel setzt die Arbeit der materialen Vergewisserung ein. Dabei führt C. den präzisen, differenzierten, souverän quellenkundigen Nachweis, dass der Vorwurf, die Aufklärung habe »einen naiven Glauben an die Vernunft« (44) kultiviert, eine sachwidrige Engführung und Verzerrung darstellt. Vielmehr sei der aufklärerische Rationalismus »spätestens seit John Locke« (45) reflexiv geworden, wobei sich selbstverständlich auch die kritische Auslotung der Reichweite und Grenzen rationaler Erkenntnis nur im Modus rationaler Selbstprüfung habe vollziehen lassen. Zudem verweist C. auf zwei für die Aufklärung insgesamt konstitutive Komplementärfaktoren: einerseits die zumal seit 1750 hervortretende Pointierung des empfindsamen Gefühls, das man unter der Parole »Kopf und Herz« in eine organische Balance mit der Verstandestä-tigkeit zu bringen suchte, andererseits die signifikante Neugier auf diverse Spielarten der »höhere[n] Vernunft« (49), die den Aufklärern transrationale Wirklichkeitswahrnehmungen wie Geisterglauben, Hermetik und Esoterik interessant werden ließ. In sorgsamer Differenzierung der nationalen und gruppenspezifischen Besonderheiten relativiert C. die extremen Positionen der französischen Enzyklopädisten und Materialisten zu Recht auf eine keineswegs den common sense des Zeitalters repräsentierende Seiten- und Randströmung. Das die gesamte Epoche durchziehende »Eingeständnis des eigenen Nichtwissens« (58), stellt er fest, kulminierte schließlich in der die Quellen und Grenzen unserer Erkenntnis meisterhaft auslotenden, den englischen Empirismus transzendental aufhebenden kritischen Philosophie Immanuel Kants (vgl. 65–70).
Das dritte Kapitel rückt eine besondere, von der Aufklärung nicht erfundene, aber programmatisch operationalisierte Methode der Horizonterweiterung in den Blick. Demgemäß hatte bereits Anthony Ashley Cooper Third Earl of Shaftesbury gegen die seinerzeit in England aufblühende, in hermetischem Fanatismus befangene Schwärmerei den »Test of Ridicule« (79) zum Einsatz gebracht. In Frankreich setzte namentlich Voltaire ein analoges Instrumentarium polemischer Überlegenheitsdemonstration ein. Und auch in der deutschen Aufklärung avancierten Spott, Satire und Sarkasmus zu wirksamen Depravationsinstrumenten. Die vielgestaltigen Erscheinungsformen eines positionell und reflexiv distanzschaffenden Hu­ mors konnten, wie C. betont, »menschliche Begrenztheiten und Ab­surditäten« aufdecken und erwiesen sich darin als »tendenziell subversiv« (83). Mit dieser »erweiterten Denkungsart« (Kant) korrespondierte das der Aufklärung eigentümliche prinzipielle Misstrauen gegen jede Ausprägung von Dogmatismus und Systemdenken. Dies betraf naturgemäß auch, ja bevorzugt den Bereich religiöser Da­seinsdeutung, richtete sich aber zumeist nicht gegen das Existenzrecht positiver Religionsgestalten als solcher, vielmehr gegen deren in verstocktem Aberglauben, schwärmerischem Enthusiasmus und blindem Hexenwahn hervortretenden, aus religiösem Irrationalismus genährten Auswüchse, die, indem sie »jede logische oder erfahrungsbasierte Überprüfung ihrer Überzeugungen« verweigern, sich in ihrem Denken als »zirkulär« (100) und dogmatistisch erweisen.
Mit dem vierten Kapitel wendet sich C. der schlichten, aber ge­wichtigen Frage zu, ob die europäischen Aufklärer »eine gemeinsame Sprache der Moral« (108) auszubilden vermochten. Solcher Annahme scheint die Entdeckung außereuropäischer Kulturen und das Problem eines sich daraus ergebenden moralischen Relativismus entgegenzustehen. Tatsächlich liefen die aufklärerischen Toleranzdiskurse, die sich nicht zuletzt auch aus konkreten eigenen Un­rechtserfahrungen speisten, auf eine Vielzahl moralphilosophischer, selbst das Modell eines »tugendhaften Atheisten« (125) einschließender Positionen hinaus. Angesichts dieser gravierenden Ambivalenzen plädiert C. für die ebenso sachhaltige wie hilfreiche Unterscheidung, dergemäß man zwischen der Fülle konkreter, gesellschaftlich und kulturell ge­prägter Normen und universalen moralischen Prinzipien wie Ge­rechtigkeit, Unparteilichkeit oder Menschenwürde zu differenzieren habe. Dabei seien der europäischen Aufklärung, so C., durchaus veritable Erfolge zu bescheinigen, etwa in ihrem Drängen auf Justizreformen und Rechtsstaatlichkeit, in ihren naturrechtlich grundiert en Toleranzbegründungen und selbst in den zaghaften Ansätzen eines kulturellen Kosmopolitismus (vgl. 139) bzw. eines »kosmo-politische[n] Patriotismus« (140). Diesbezüglich übersieht oder verharmlost C. keinesfalls die Mangelhaftigkeit, Begrenztheit und partielle Realitätswidrigkeit solcher Bestrebungen, will sie aber gleichwohl als geschichtliche Manifestationen eines relativen Fortschrittsprozesses gewürdigt wissen (vgl. 132 f.).
Das fünfte Kapitel entlarvt das Trugbild einer insgesamt reli-gionsfeindlichen europäischen Aufklärung als haltloses Klischee. Dabei macht C. auf die basale Wahrnehmungspflicht aufmerksam, dass man die vielfältigen Formen einer theologischen oder religiösen Religionskritik keineswegs mit einer pauschalen Ablehnung von Religion und Christentum, die sich nur an den Rändern der Epoche aufweisen lasse, verwechseln dürfe. So habe in Deutschland die Bewegung der Neologie eine wirksame Reform der Religiosität ins Werk gesetzt, indem sie die überkommene konfessionelle Polemik eindämmte, für religiöse Innerlichkeit und Toleranz eintrat, den moralischen Gehalt des Christentums akzentuierte (vgl. 153 f.) und das wahre Christentum nicht mehr am Anfang, sondern am Ende der Geschichte zu finden meinte (vgl. 163). Als Ergebnis dieses theologischen Reformprozesses lasse sich, was der Rezensent seinerseits unterstreichen möchte, »eine stärker individualisierte und personalisierte Religiosität« (161) ausweisen. Im Fortgang des Kapitels fokussiert sich C. dann auf die eingehende, sachhaltige Kritik der unlängst von Jonathan Israel vorgetragenen, verzerrt-einseitigen Aufklärungsdeutung sowie auf die bündige Rekonstruktion der Religionsphilosophie Kants.
Als Hochschuldozent und Gymnasiallehrer steht C. in omnipräsenter pädagogischer Verantwortung. Dies mag verständlich machen, weshalb er die vier materialen Kapitel jeweils in die Überlegung ausmünden lässt, wie, ausgehend von dem historisch Dargestellten, »zu einer heute gesellschaftlich tragfähigen Rezeption zu gelangen« wäre (rückseitiger Umschlagstext).
Als Pendant zu der eröffnenden »Einleitung« greift C. am Ende die Frage auf, ob man die Aufklärung womöglich als gescheitert würde ansehen müssen. Seine Antwort ergeht eindeutig und entschieden: Wenn die damit aufgerufene Geschichtsperiode ihre Ideale auch keineswegs vollständig zu realisieren vermochte, so könnten an der dem postulatorischen Aufklärungsbegriff inhärenten Verpflichtung, die Menschen jederzeit zu vernünftiger, eigenständiger, selbstreflexiver Wirklichkeitswahrnehmung anzuhalten, doch keinerlei Zweifel aufkommen (vgl. 184–195). Also weist das dem Titel des Bandes beigefügte Interpunktionszeichen die dort gebrauchte Wendung unmissverständlich als eine rhetorische Frage aus. Dass dieses Fragezeichen zwar auf dem Einband und Rücken des Büchleins verzeichnet ist, in der bibliographisch verbindlichen Titelei (3) aber vergessen wurde, legt die Vermutung nahe, C. habe sich nach getaner Arbeit die in seinem letzten Satz zitierte Aufforderung Walter Sobckaks »Let’s go bowling« (195) unverzüglich zu eigen gemacht.