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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1258–1260

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Westerholm, Stephen

Titel/Untertitel:

Law and Ethics in Early Judaism and the New Testament.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2017. X, 448 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 383. Lw. EUR 169,00. ISBN 978-3-16-155133-8.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Stephen Westerholm, Professor of Early Christianity an der McMas-ter University in Hamilton, Ontario (Kanada), steht in der großen Tradition der skandinavischen Bibelwissenschaft im 20. Jh. (er war Schüler von Birger Gerhardsson in Lund). Mit seiner Dissertation (Jesus and Scribal Authority, Lund 1978, Rez. H.-F. Weiß, ThLZ 106 [1981], 571 f.) knüpfte er an deren grundlegende Untersuchungen zur vorliterarischen Jesus-Überlieferung im Kontext des antiken, insbesondere frührabbinischen Judentums an. In der Debatte um eine neue Auslegungsperspektive auf Paulus entwickelte er später seine ganz eigenständige Stimme, die bei aller konstruktiven Be­rücksichtigung des neuen Bildes vom Frühjudentum und in kritischer Auseinandersetzung mit den theologischen Verkürzungen und Einseitigkeiten der jüngeren protestantischen Paulus-Exegese doch dezidiert an einer theologischen Interpretation der paulinischen Rechtfertigungsaussagen in der Nachfolge reformatorischer Theologie festhält. Diese seine eigene Paulus-Deutung hat er in mehreren Monographien zur Diskussion gestellt (Israel’s Law and the Church’s Faith. Paul and His Recent Interpreters, Grand Rapids 1988, Rez. H. Hübner, ThLZ 116 [1991], 433–437; Understanding Paul. The Early Christian Worldview of the Letter to the Romans, Grand Rapids 2004; Justification Reconsidered. Rethinking a Pau-line Theme, Grand Rapids 2013) und auch forschungsgeschichtlich verankert (Perspectives Old and New on Paul. The »Lutheran« Paul and His Critics, Grand Rapids 2004, Rez. D. Sänger, ThLZ 142 [2017], 170–173).
Die im vorliegenden Aufsatzband gesammelten 22 Studien aus rund dreieinhalb Jahrzehnten (bis auf zwei sämtlich schon früher zwischen 1982 und 2016 publiziert und nur leicht für den Wiederabdruck überarbeitet) stellen sozusagen den exegetischen Un-terbau für die Gesamtsicht W.s auf Jesus, Paulus und das antike Judentum dar. Sie kreisen alle mehr oder weniger eng um das Ge­setzesverständnis. Vier beschäftigen sich primär mit dem antiken Ju­dentum, fünf mit Jesus bzw. den synoptischen Evangelien (W. sieht zwischen beiden keinen gravierenden Unterschied) und elf mit Paulus. Alle sind aber miteinander verbunden durch eine übergreifende Forschungsfrage: Wie können Jesus, die Jesus-Überlieferung, die synoptischen Evangelien und das paulinische Wirken – und damit die Entstehung der frühchristlichen Bewegung insgesamt – besser verstanden werden, wenn sie im Kontext des ihnen zeitgenössischen antiken Judentums, speziell der Bedeutung der Tora in diesem Kontext, gelesen und interpretiert werden?
In dem einleitenden, für den vorliegenden Band neu verfassten Beitrag (Introduction: Old Skins, New Wine, 1–21) legt W. seine Antwort auf diese Frage noch einmal in wünschenswerter Knapp- und Klarheit dar: Aufgabe neutestamentlicher Exegese ist es, sowohl das Neue und Unterscheidende zwischen Jesus und dem zeitgenös-sischen Judentum als auch die Kontinuitäten zwischen beiden herauszuarbeiten. Nach dem Zeugnis der synoptischen Evangelien war Jesu Wirken von seiner Reich-Gottes-Verkündigung be­stimmt, schlug sich in bisweilen provokant akzentuierten Übertretungen einzelner Toragebote nieder (Sabbat!) und basierte auf einem Zeitverständnis, das als Erfüllung der endzeitlichen Hoffnungen Israels verstanden wurde. Daraus resultierte ein Gesetzesverständnis, das eine Ablehnung der Tora und ihrer Gebote dezidiert ausschloss, zugleich aber in der von Jesus geforderten und gelebten Torapraxis mehr sah als lediglich die erneute Forderung, die Tora und ihre Gebote zu halten (W. spricht von Relativierung, nicht Beseitigung der Tora). Jesus war mehr als ein autoritativer Ausleger der Tora, er sprach mit derselben Autorität wie sie und unterschied sich damit grundlegend von dem Autoritätsanspruch zeitgenössischer pharisäischer Toraausleger (6).
In der Überzeugung, dass die Tora angesichts eines endzeitlich ausgerichteten Verständnisses der Gegenwart zwar nicht beseitigt, wohl aber in ihrer Funktion im Zusammenhang mit dem Willen Gottes eschatologisch relativiert sei, liegt die fundamentale Verbindung dieser Haltung Jesu zur Tora mit dem paulinischen Gesetzesverständnis. Darauf basieren auch die vielfältigen Einzelaussagen des Paulus zur Tora in seinen Briefen und nicht zuletzt dessen eigene Haltung gegenüber Torageboten in seiner missionarischen Praxis. Hinzu kommt aber sein grundlegend kritisches Urteil ge­genüber der Tora im Blick auf deren Wert und Funktion im Rechtfertigungsgeschehen: Das Gesetz schreibt einen Weg zur Rechtfer tigung vor, den Sünder unmöglich gehen können, und auch das Gesetz selbst kann ihnen diesen Weg nicht ermöglichen (12). Die Frage, ob Paulus mit einer solchen Sicht auf die Tora noch »im Judentum verblieben« sei, verlangt nach W. eine differenzierte Antwort: Einerseits können die paulinischen Aussagen als Stellungnahmen eines frommen Juden, dessen Leben und Glauben sich ganz an dem einen Gott Israels und dessen Anforderungen an das Leben der Israeliten nach seinem Willen orientierte, durchaus in die Vielfalt frühjüdischer Positionen zur Tora und ihren Geboten eingeordnet werden. Andererseits wurzelt in der ihm endzeitlich offenbarten Erkenntnis des Paulus, dass dieser Gott Israels der Vater Jesu Christi ist, auch sein neues Verständnis der Schriften Israels und seine Überzeugung, dass für Juden und Nichtjuden gleichermaßen der Glaube an Jesus Christus den Weg zu ihrer Rettung eröffnet (14 ff.).