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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1240–1243

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Gertz, Jan Christian

Titel/Untertitel:

Das erste Buch Mose(Genesis). Die Urgeschichte Gen 1–11. Übers. u. erklärt v. J. Ch. Gertz.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018. XXVII, 348 S. = Das Alte Testament Deutsch – Neubearbeitungen, 1. Geb. EUR 80,00. ISBN 978-3-525-57055-5.

Rezensent:

Bernd Janowski

Wer in den vergangenen sieben Jahrzehnten Theologie studiert hat, ist in seinem Studium früher oder später auf den Genesis-Kommentar von G. von Rad gestoßen. Der 1949 zum ersten Mal erschienene, äußerlich schlichte, inhaltlich aber gewichtige Band (er erlebte bis 1987 zwölf Auflagen!) war das Glanzstück der alten ATD-Reihe und hat Generationen von Theologen und Theologinnen in ihrer Auffassung des ersten Buchs der Bibel und weit darüber hinaus geprägt. Seitdem hat sich viel verändert. So sind nicht nur die Selbstverständlichkeiten der klassischen Pentateuchforschung aufgelöst worden, auch der vergleichende Blick auf die sogenannte Umwelt des Alten Testaments mit ihren großen reli giösen Überlieferungen hat sich verändert. Das Ergebnis dieser Veränderungen kann man jetzt anhand des ebenfalls in der ATD-Reihe erschienenen Genesis-Kommentars von Jan Christian Gertz besichtigen, der gegenüber seinem Vorgänger wesentlich ausführlicher ausgefallen ist (von Rads Kommentierung zu Gen 1–11 um­fasste knapp 100 Seiten).
Nach allgemeinen Hinweisen (Druckgestaltung, Abkürzungs- und Literaturverzeichnis, XI–XXVII) beginnt G. mit einer Einleitung (1–25), die zunächst den Inhalt, die Gliederung und Abgrenzung der Urgeschichte (1 ff.), sodann ihre Entstehung (5 ff.) und schließlich ihre Position im Rahmen der altorientalischen Literaturen (Gilgamesch-Epos, Atramh˘asis-Epos, Marduk-Epos, Enu-ma Elisˇ u. a., mit Hinweisen zum religionsgeschichtlichen Vergleich und der Warnung vor komparatistischen Kurzschlüssen, 19 ff.) darstellt. Gegenüber der älteren Forschung unterscheidet G. drei Textbereiche (zu ihrem jeweiligen Umfang s. die Angaben 8.15.18), die in der Übersetzung auch durch unterschiedliche Schrifttypen kenntlich gemacht werden: die Priesterschrift (P, dazu Fortschreibungen), den nichtpriesterschriftlichen Textanteil (nP, dazu Fortschreibungen), der auch »weisheitlicher Erzähler« genannt und in das 7. Jh. v. Chr. datiert wird (Zeit Manasses?, s. 17 f.), sowie endredaktionelle Texte (nachpriesterschriftliche Redaktion und Zusätze dazu). Das ist ein sehr übersichtliches und trotz möglicher kritischer Rückfragen zu dieser oder jener literarhistorischen Einordnung nachvollziehbares Tableau.
Die Einzelauslegung beginnt mit dem priesterschriftlichen Text Gen 1,1–2,3 (26–79, Gen 2,1 wird als sekundärer P-Eintrag, Gen 2,4a als redaktioneller Brückentext eingestuft, s. 29.74 f.91 ff.). Sie ist so angelegt, dass zunächst die nach Sinnabschnitten gegliederte Übersetzung (samt textkritischen, grammatischen, sachlichen An­merkungen) gegeben und darauf die Analyse der Komposition (mit der Skizze, 30), der Entstehung, der Gattung (»theologische Ab­handlung über die grundlegenden Ordnungen der Welt«, 34) folgt. Bei der Einzelkommentierung, von der hier nur ausgewählte As­pekte zur Sprache kommen können, entscheidet sich G. für das Verständnis von V. 1 als Mottovers (Übersetzung: »Am Anfang …«), demgegenüber V. 2 in sachlicher Hinsicht vorzeitig ist (37 ff.). Bei V. 14–19 sieht er zu Recht keine antibabylonische Astralpolemik (55 ff.), und im Blick auf V. 26–31 werden der pluralische Kohortativ in V. 26 (»kommunikativer Plural«, Bezug zum himmlischen Hofstaat, 61 f.) sowie die imago Dei-Aussagen intensiv und in Aufnahme der neueren Forschung diskutiert (62 ff.). Der solenne Text endet in Gen 2,2 f. mit dem Topos der göttlichen Ruhe am siebten Tag, womit nicht auf den Sabbat angespielt, sondern auf den Zielpunkt des P-Gesamtwerks in der P-Sinaiperikope in Ex 24,15b ff. vorausgewiesen wird (75 ff.).
Die anschließende nicht-priesterschriftliche Paradieserzählung Gen 2, 4b–3,24 (80–149), die G. als »Mythos vom Uranfang« (90 f.) bezeichnet, ist nicht weniger bedeutungsvoll als der P-Schöpfungsbericht, im Gegenteil: Sie zählt zu »den bekanntesten und wirkmächtigsten Texten der Weltliteratur« (83). Auch hier müssen einige Hinweise genügen. So gehört, was m. E. aber fraglich ist, das Wort »Staub« in 2,7aα* G. zufolge zusammen mit 2,9(b*?).10–15; 3,19b.22–24 zu einer Bearbeitungsschicht (102 u. ö.). Wichtiger ist, dass der Begriff næpæsˇ in 2,7 von ihm nicht mit »Seele«, sondern die Wendung næpæsˇ h˘ajja-h mit »lebendiges Wesen« übersetzt wird (106 f.). Notorisch schwierig ist sodann die Frage, ob der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse und der Baum des Lebens gleichursprünglich sind (88 ff.). Die Lö­sung G.s: Da die Funktion und Identifikation des Baums der Er­kenntnis »überall dort eindeutig ist, wo er nicht in Konkurrenz zum Baum des Lebens tritt, bleibt zu er-wägen, dass er in Gen 2,9b zusammen mit dem Baum des Lebens sekundär eingetragen und in V. 17 erst nachträglich als Baum der Erkenntnis kenntlich gemacht wurde« (117, vgl. 147 f.149).
Im Blick auf die traditionell, aber zu Unrecht so bezeichnete »Erzählung vom Sündenfall« (dazu kritisch 129) wird sowohl die Rolle der Schlange als auch die Rolle der Frau und des Mannes analysiert und gegen die eingefleischte kirchliche und außerkirchliche Auslegungstradition plausibilisiert. Es geht eben in Gen 3,1–24 nicht um den in der dogmatischen Tradition breit diskutierten Urstand des Menschen vor dem Fall, sondern um die Antwort auf bestimmte Warum-Fragen: »Warum ist das Wesen des Menschen gleichermaßen durch Mängel und Fähigkeiten bestimmt? Warum müssen wir arbeiten, leiden und sterben? Warum sind wir zum Guten wie zum Schlechten befähigt? Warum erfahren wir uns gleichermaßen als selbständig und als unselbständig handelnde Personen?« (91) Es wird, wie G. durch seine sorgfältigen Exegesen einschärft, hohe Zeit, dass die Systematische Theologie der Gegenwart ein Verhältnis zu diesem ätiologischen Anliegen der biblischen Paradieserzählung bekommt.
Die Geschichte über »Die Nachkommen des ersten Menschenpaars« in Gen 4,1–26 (150–186) bildet den Abschluss des mit Gen 2,4b begonnenen nichtpriesterlichen Erzählbogens. Jetzt wird auch konkret, worin die Übertretung der Erlaubnis und des Verbots von Gen 2,16 f. besteht. Besonders kontrovers wird dabei die Brudermorderzählung Gen 4,1–16 und hier mit Gen 4,7 »der dunkelste Vers des Kapitels, ja der Genesis« (O. Procksch, Die Genesis, Leipzig 1924, 46) diskutiert. Das Problem besteht in der Genusdifferenz zwischen dem femininen Lexem h˘at.t.a-‘t »Sünde« und dem mas­kulinen Partizip robes.‚ »lagernd, Lagernder«, die G. natürlich nicht übersieht, die er aber auch nicht interpretatorisch auflöst (Übersetzung: »… dann ist zur Tür hin die Sünde ein Lagernder«, s. 150. 162  ff.), jedenfalls nach Meinung des Rezensenten (s. B. Ja­nowski, Jenseits von Eden, in: Ders., Der Gott des Lebens, Neukirchen-Vluyn 2003, 134–156). Immerhin: Die von G. vertretene traditio-nelle Interpretation »›bleibt […] eine Notlösung‹, scheint aber im­mer noch die wahrscheinlichste zu sein« (165).
Bis hierher hat der vorliegende Kommentar gut die Hälfte seines Umfangs erreicht. Das entspricht auch der großen Bedeutung der ersten vier Kapitel der Urgeschichte. Das folgende Kapitel ist Gen 5,*1–32, der priesterschriftlichen Genealogie Adams (187–201), und seinem zentralen Begriff tôledôt »Zeugungen« (dazu 196 f.) gewidmet. Gen 5,1–5 knüpft dabei an Gen 1,26 ff. an und verbindet auf diese Weise beide Überlieferungen miteinander. Das besagt: »Vermittelt durch die Generationenkette haben alle Menschen Anteil an der Gottebenbildlichkeit des ersten Menschenpaars bzw. der Gattung Mensch« (197). Vor der ausführlichen Fluterzählung von Gen 6,5–9,17 steht schließlich die rätselhafte Überlieferung über die Göttersöhne und die Menschentöchter in Gen 6,1–4 (202–217), die immer wieder als Fremdkörper in der biblischen Urgeschichte empfunden wurde. Sie fügt sich aber in die »mythisch geprägte Vorstellungswelt der biblischen Urgeschichte« (202) ein und dürfte, ungeachtet der Frage nach der Herkunft ihres Stoffs, aus dem »Umfeld der redaktionellen Verbindung der Priesterschrift mit der Urgeschichte des weisheitlichen Erzählers« (206) stammen.
Einen breiten Raum nimmt dann wieder die Analyse der Flut-erzählung Gen 6,5–9,17 ein (218–285), die »gleichermaßen den Tief- und Wendepunkt der biblischen Urgeschichte« (223) markiert. G. bahnt auch hier einen nachvollziehbaren Weg durch deren Komposition (223 ff.), Entstehung (225 ff.) und religionsgeschichtlichen Hintergrund (231 ff.). Gemäß der literarischen Problematik verfügt die Fluterzählung über einen doppelten Prolog (Gen 6,5–8 P / 6,9–22 nP) und einen doppelten Epilog (Gen 8,20–22 nP / 9,1–17 P, s. dazu 224) mit jeweils unterschiedlichen Aussageintentionen. Dazwischen (Gen 7,1–8,19) wird das Kommen, der Scheitelpunkt und das Schwinden der Flut geschildert (zum Aufbau s. 224 f.). Es ist ein in jeder Hinsicht atemberaubendes Szenario, das dieser Stoff vor Augen führt. Man kann sich das exemplarisch anhand der nicht-priesterschriftlichen Texte Gen 6,5–8 (Prolog: 236 ff.) und 8,20–22 (Epilog: 270 ff.) deutlich machen, die den Blick auf das Innere JHWHs freigeben (Gen 6,5 ff.: Reue und Schmerz Gottes; 8,20 ff.: ›Umkehr‹ Gottes, im Anschluss an N. C. Baumgart) und den Kontrast von Vernichtung und Bewahrung der Schöpfung darstellen – und auflösen. So schildert der weisheitliche Erzähler einen dramatischen »Wandel in Gott« (274, im Anschluss an L. Perlitt), indem er »beschreibt, wie Jhwh zu dem Gott wurde, der seine ›Reue‹ über das Erschaffen des Menschen zu überwinden vermochte« (ebd.). Auf die verbleibenden Exegesen von Gen 9,18–29 (Noahs Söhne: 286–295), 10,1–32 (Völkertafel: 296–327), 11,1–9 (Turmbau zu Babel: 328–343) und 11,10–26 (Toledot Sems: 344–348) sei nur noch summarisch hingewiesen. Auch diese Texte gehören, wie etwa Gen 11,1–9 zeigt, zu den literarischen Stoffen, die unser kulturelles Gedächtnis geprägt haben.
Niemand, so lässt sich resümieren, wird der Meinung sein, dass ein Kommentar alle mit dem zu kommentierenden Text gegebenen Probleme löst bzw. lösen kann. Viele aber dürften sich dem Urteil anschließen, dass G. einen vorzüglichen Genesis-Kommentar vorgelegt hat. Das hat mehrere Gründe: G. hat einen Weg zur Lösung der verwickelten literarischen Probleme der Urgeschichte gefunden, der diese sorgfältig abwägt und der nie in Extreme verfällt. Wo diese Probleme (für ihn) nicht lösbar sind, wird das auch nicht verschwiegen. Sodann schreibt er einen klaren Stil, der die theologische Relevanz dieses grundlegenden biblischen Textes bis hin zu Gegenwartsfragen zur Geltung bringt. Und schließlich werden die großen Schöpfungsüberlieferungen des Alten Orients, Altägyptens und des antiken Mittelmeerraums ebenso einbezogen wie die kirchliche und außerkirchliche Auslegungstradition. Und das alles auf 350 Seiten. Angesichts dessen ist dringend zu wünschen, dass alsbald eine preiswerte Paperback-Ausgabe auf den Markt kommt, die sich auch Studierende leisten können.