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Ausgabe:

Dezember/2019

Spalte:

1239–1240

Kategorie:

Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Kostner, Sandra [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Identitätslinke Läuterungsagenda. Eine Debatte zu ihren Folgen für Migrationsgesellschaften.

Verlag:

Stuttgart: ibidem Verlag 2019. 314 S. = Impulse. Debatten zur Politik, Gesellschaft, Kultur, 1. Kart. EUR 22,00. ISBN 978-3-8382-1307-1.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Sandra Kostner, Soziologin und Migrationsforscherin an der Pädagogischen Hochschule in Schwäbisch Gmünd, legt hier einen en­gagierten Band zur aktuellen Debatte um Identitätspolitik im Allgemeinen und ihre Folgen für Migrationsgesellschaften im Besonderen vor. In einer ausführlichen Einleitung (7–16) und einem umfangreichen Impulstext (17–73) legt sie ihre These von der »Identitätslinken Läuterungsagenda« dar. Der sperrig klingende Titel fasst eine präzise soziologische Analyse zusammen, die sich knapp folgendermaßen umschreiben lässt: Es gibt in unseren Gesellschaften seit einigen Jahren eine von politisch links stehenden Personen vertretene Identitätspolitik, die Menschen aufgrund be­stimmter demographischer Merkmale eine Kollektividentität als Opfer oder Täter zuschreibt. Der Ressentiment-Logik Nietzsches folgend werden die einen moralisch schuldig für das erklärt, was die anderen zu Opfern macht. Wer Mann, heterosexuell, Nichtmigrant, Weißer und Christ ist, wird pauschal dafür verantwortlich gemacht, dass diejenigen, die Frau, anderssexuell, Migrant, Nichtweißer und Nichtchrist sind, Benachteiligungen erleiden. Den einen wird da­mit eine Schuldidentität zugeschrieben, den anderen ein Opferstatus. Das Ziel dieser Politik ist das Empowerment von Opfergruppen und die moralische Läuterung von Schuldgruppen.
Zur »Läuterungsagenda« wird das dadurch, dass es aus identitätslinker Sicht politisch nicht genügt, die Benachteiligungen und Abwertungen der Opfergruppe zu beenden. Die Tätergruppe muss vielmehr den Nachweis erbringen, dass sie von den Denk- und Handlungsweisen geläutert ist, denen sie ihren Schuldstatus verdankt. Das von K. aufgezeigte Paradox dieser Politik ist, dass die Opfergruppen gar kein Interesse daran haben, dass das gelingt, weil sie von dieser Situation nur so lange profitieren, als auf der Seite der Tätergruppe ein moralisches Läuterungsbedürfnis besteht. Dementsprechend werden ständig neue Opferdiskurse aufgemacht, um den ressentimentgetriebenen Mechanismus der identitätspoli-tischen Gerechtigkeitsforderungen in Gang zu halten. In Migrationsgesellschaften gelingt das besonders gut, indem man in im­mer neuen Versionen die Rassismus- und Kolonialismuskarte spielt. Die Folgen sind gravierend. Wie K. an vielen Beispielen aufzeigt, »wurde mit dem Modell der Identitätsgerechtigkeit eine toxische Version von Gerechtigkeit entworfen, die ihr Polarisierungs- und Fragmentierungsgift langsam, aber stetig in die betroffene Ge-­sellschaft einträufelt« (32). Das führt nicht nur zu einer schleichenden Auflösung demokratischer Gemeinsamkeiten durch die im­mer stärkere Atomisierung identitätspolitischer Gerechtigkeitsforderungen, es resultiert auch in einer immer stärkeren Asymmetrie zwischen der Mehrheitsbevölkerung und den Minoritätsgruppen. Die Identitätslinken seien zwar »aufgrund der Besetzung vieler Schlüsselpositionen einflussreiche Agenda-Setter«, aber sie stellen »nicht die Bevölkerungsmehrheit« (32). Das unterminiere die Er­wartungssicherheit, dass die Politik des Landes auf demokratischen Mehrheitsentscheidungen beruht, und das sei Wasser auf die Mühlen der Rechten im Land. Diese müssten sich gar nicht darum be­mühen, Mehrheiten für ihre Ansichten zu gewinnen, sondern könnten abwarten, dass ihnen die identitätslinke Läuterungspolitik diese Mehrheiten ins Boot spült. Die Politik der identitätslinken Läuterungsagenda habe daher rundum desaströse Folgen und sei ein wesentlicher Grund für den in den vergangenen Jahren steigenden Wählerzuspruch für rechtspopulistische Parteien in vielen westlichen Einwanderungsländern.
K.s Thesen werden im zweiten Teil des Bandes ausführlich diskutiert (75–309), vielfach zustimmend, aber auch mit kritischen Rückfragen und Präzisierungen. Daran beteiligten sich neben Dimitri Al­meida, Dagmar Borchers, Heike Diefenbach, Alexander Grau und Oliver Hidalgo auch Maria-Sibylla Lotter, Stefan Luft, Elham Ma­nea, Boris Palmer, Roland Preuß, Christof Roos und Roland Springer. Der Band wird so zu einem Vademecum der aktuellen identitätspolitischen Debatte in Deutschland. Trotz seines sperrigen Titels kann man ihn nur empfehlen, weil er nicht nur pointierte Thesen vertritt, sondern im Pro und Contra der Argumente auch eine eigene Meinungsbildung ermöglicht. Man muss nicht alles mögen, was hier gesagt wird, und man wird auch nicht allem zustimmen können, aber die grundlegende Problemdiagnose des Bandes wird niemand ignorieren können, der sich mit dem Thema der Identitätspolitik in der Gegenwart kritisch auseinandersetzen will.