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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1205–1207

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

[Weyer-Menkhoff, Stephan]

Titel/Untertitel:

Raumbildungen. Erkundungen zur christlichen Religionspraxis. Hrsg. v. T. Kaspari.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018. 432 S. m. 18 Abb. = Theologie – Kultur – Hermeneutik, 26. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-374-05611-8.

Rezensent:

Sonja Keller

Unter dem Titel »Raumbildungen. Erkundungen zur christlichen Religionspraxis« versammelt Tobias Kaspari 27 Beiträge in einer Festschrift zum 65. Geburtstag für den Mainzer Praktischen Theologen Stephan Weyer-Menkhoff. Der Titel »Raumbildungen« be­schreibt den Fluchtpunkt dieser thematisch und disziplinär weit gefassten Aufsatzsammlung, in der ein mehrstelliger Raumbegriff angewandt wird, der neben historischen physischen (Kirchen-) Räumen auch auf Diskurs- und Handlungsräume bezogen wird. Die Autoren beziehen sich in vielfältiger Weise auf Weyer-Menkhoffs theologisches Schaffen, wobei die versammelten Aufsätze schwerpunktmäßig seine Impulse zur Ästhetik der christlichen Religion im Sinne der Auseinandersetzung mit den vielfältigen Überlieferungsmedien des christlichen Glaubens und seiner Tradierung rezipieren.
Die vom Herausgeber in der Einleitung formulierte Leitfrage »Wie gewinnt die Heilige Schrift Raum?« erweist sich als überaus produktiv, da facettenreiche und durchaus überraschende exemplarische Antworten gegeben werden. In Übereinstimmung und Fortführung von Weyer-Menkhoffs Konzeption von Räumen als für die christliche Religion zentrale Orte der Begegnung werden in diesem Sammelband verschiedene christliche Begegnungsräume dargestellt. Das Programm der ästhetischen Vermittlung der christlichen Religion zeigt sich dabei als hermeneutisch griffig und anschlussfähig für die Beschreibung biblischer, katechetischer, liturgischer, ritueller, ökumenischer, ethischer, baulicher, histo-rischer und musikalischer Räume der Vermitteltheit christlicher Religion. Die Beiträge, von denen hier nur einige aufgegriffen werden können, geben disziplinübergreifende Einblicke in Forschungen und Reflexionen, die objekt- und diskursnah religiöse Praxis und theologische Fragen als Erlebnis- und Aushandlungsräume skizzieren. Dass das Lehren von Religion mit der Wahrnehmung und Entdeckung ihrer unabschließbaren und immer wieder überraschenden Gestaltung und Rezeption verbunden ist, dokumentiert dieser Sammelband in sieben Abschnitten anhand einer beachtlichen Fülle von Themen und Perspektiven.
Eine Reflexion über die Entzogenheit und Begehbarkeit von Landschaften des Künstlers Gerhard Lang mit Blick auf Wolkenspaziergänge steht am Anfang des Bandes. Diese Erfahrung als Grundlage und Experimentierfeld künstlerischer Praxis lässt sich im übertragenen Sinne auch auf die Unabgeschlossenheit der Räume christlicher Theologie und Praxis beziehen. Dass der erste Ab­schnitt »Katechetische Bildungsräume« ausgerechnet mit Kasparis Beitrag zur 2015 intensiv geführten Debatte über die Kanonizität des Alten Testaments beginnt, verweist mit Nachdruck darauf, dass die Konzepte von Liminalität und Communitas im Anschluss an Victor Turner leistungsfähig sind, um die Ein- und Ausschlussmechanismen einer theologischen Debatte zu entfalten. Die von Kaspari eröffnete Perspektive auf diese theologische Auseinandersetzung erschöpft sich indessen keineswegs in der Darstellung der Ritualität solcher Debatten, sondern reflektiert in phänomenologischen und theologischen Kategorien, wie das Neue in Christus und seine Wahrnehmbarkeit notwendigerweise auf das Alte Testament b ezogen sind. Dass religiöse Räume und Orte sowie die Spuren ihrer Nutzung wertvolle Anknüpfungspunkte für die religionspädagogische Arbeit darstellen, wird facettenreich von Karlo Meyer im Hinblick auf gottesdienstliche Orte nicht-christlicher Religionen sowie in Hartmut Rupps Anregungen für eine Kirchenpädagogik, der die liturgische Nutzung und das Kirchengebäude als ge­staltetes performatives Gebilde aufgreift, beschrieben. Religiöse und gottesdienstliche Räume werden dabei von beiden Autoren als gestaltete Räume geschildert, deren Nutzung etwa in Anlehnung an eine performative Didaktik erschlossen werden kann. Dass kirchliche Räume gestaltet und verändert werden und sie so zu Räumen des Übergangs und der Erfahrung werden, zeigen Sonja Beckmeyer und Kristian Fechtner in der Auseinandersetzung mit dem liturgischen Gestaltungspotenzial von Kerzenritualen. Vom mi­metischen Grundcharakter der Taufe ausgehend schildert Chris-tian Grethlein die gemeindepädagogische und liturgische Reformkraft von Tauffesten. Den Freiraum, den eine Predigt eröffnen soll, schildert Volker A. Lehnert anhand von frei gehaltenen Predigten, die durch ihre Offenheit in besonderer Weise dazu geeignet sind, auf die Predigtsituation zu reagieren und so mit den Hörerinnen und Hörern gemeinsam den vom Predigttext eröffneten Lebens- und Freiraum zu begehen.
Im Abschnitt »Rituelle Zwischenräume« werden verschiedene Übergangsrituale dargestellt. Dass Abendliturgien sensibel für unterschiedliche Abendgestaltungen sein müssen, betont Ansgar Franz, anhand verschiedener Streiflichter durch patristische, mo­nastische sowie zeitgenössische Liturgien zwischen Tag und Nacht. Die Schilderung der Taufe im frühen Christentum von Friedrich Wilhelm Horn zeigt indessen in Auseinandersetzung mit der jüngeren Forschungsgeschichte deutlich, dass diese Praxis damals Züge einer Initiationshandlung, eines Rituals und eines Sakraments trug. Dass Gemeinschaft Identifikationsgestalten und -geschichten braucht, um sich entwickeln zu können und gelebt zu werden, wird auch in den ganz unterschiedlichen Aufsätzen im Abschnitt »Ökumenische Begegnungsräume« von Marius Reiser und Hugh van Skyhawk deutlich. Reiser schildert, dass die im Magnifikat von Maria bezeugte Demut eine zentrale Tugend repräsentiert, die für das ökumenische Gespräch neue Wege zu eröffnen vermag. Die Aktualisierung biblischer Geschichten zur Legitimierung eines Martyriums erörtert van Skyhawk im Hinblick auf Predigten bedrängter Wiedertäufer in Pakistan. Im Teil »Ethische Re­flexionsräume« wird der Raumbegriff ebenfalls metaphorisch verwendet. Jörg Bauer zeichnet die Linien einer Friedensethik nach, indem er den Frieden Gottes als Frieden in Christus in Gemeinden und in Christen beschreibt, der die Menschen zum Friedensdienst in der Welt befähigt. Die Beiträge unter dem Titel »Gebaute Artefakträume« greifen Räume und Orte auf, an denen die christliche Tradition weitergegeben und verhandelt wurde. Dabei reflektiert Uwe Kai Jacobs das ästhetische Ideal der »Edlen Simplicität«, das als ästhetisches Gütekriterium Eingang in kirchenrechtliche Dokumente gefunden und damit einen beträchtlichen Einfluss auf die Gestaltung des Kirchenbaus hatte. Ulrich Volp schildert anhand des Beispiels der alten Mainzer Bischofskirche, dass die populäre Vermittlung von archäologischen und historischen Erkenntnissen auf überlieferte Konzepte der Geschichtsdarstellung zurückgeht. Auf die öffentliche Debatte über die historische Einordnung dieser Kirche in die Mainzer Kirchen- und Stadtgeschichte als »Alter Dom zu Mainz« oder »Johanniskirche« wirken verschiedene Formen der Geschichtsvermittlung ein. Im Abschnitt »Historische Erzählräume« schildert Wolfgang Zwickel in einem plastischen literarischen Beitrag den Jerusalemer Tempel aus der Sicht des Bauernjungen Joschua und verweist so auf das Wahrnehmungspotenzial literarischer Beschreibung.
Im letzten Abschnitt »Musikalische Klangräume« werden kirchenmusikalische Perspektiven auf das Raumthema skizziert, wobei deutlich wird, dass das (leibliche) Erleben von Musik in besonderer Weise dazu geeignet ist, Raum erfahrbar zu machen, wie Jürgen Blume anhand von Fernchören in der geistlichen Musik zeigt. Die nahezu physisch erlebbare, bergende bzw. seelsorgerliche Funktion von Musik schildert Christian Möller mit Bezug auf Bachkantanten.
Die Beiträge bleiben trotz der disparaten thematischen Programmatik der gewählten Diskurse und Phänomene auf die Vermitteltheit christlicher Religion und Theologie in ihrem bemerkenswerten Variantenreichtum bezogen. Die von den Autoren formulierten Raumbegehungen verweisen disziplinübergreifend und -verbindend auf das hermeneutische Potenzial einer weit gefassten ästhetisch-phänomenologisch suchenden wissenschaftlichen Praxis. Die theoretisch-konzeptionelle Offenheit sorgt dabei für überraschende Entdeckungen, die auch körperliche oder raumgreifende Tradierungsprozesse umfassen und reflektieren.