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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1201–1203

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bärsch, Jürgen, u. Benedikt Kranemann [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Westens. Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte und kulturelle Kontexte. Hrsg. in Verbindung m. W. Haunerland u. M. Klöckener. 2 Bde.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2018. Bd. 1: Von der Antike bis zur Neuzeit. 667 S. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-402-13186-2. Bd. 2: Moderne und Gegenwart. 604 S. Geb. EUR 62,00. ISBN 978-3-402-13187-9.

Rezensent:

Bruno Bürki

Die zweibändige »Geschichte der Liturgie in den Kirchen des Wes­tens« (mit je 600 Druckseiten) wird in der Herausgeberschaft von vier bekannten katholischen Liturgiewissenschaftlern aus Deutschland und der Schweiz verantwortet. Das imposante Werk ist selbstverständlich mehrkonfessionell angelegt, neben den deutschen und französischen Traditionen auch für hispanische (Brasilien dient als Beispiel) Verhältnisse aufgeschlossen. Wir müssen trotzdem in un­serer ökumenischen Gegenwart die kritische Frage stellen, ob die hier schon thematisch angekündigte Konzentration auf die »Kirchen des Westens« in solcher Weise legitim und annehmbar ist. Der entscheidende Ausgangspunkt aller christlichen Liturgie ist bekanntlich in den ältesten liturgischen Ordnungen und Gewohnheiten der orientalischen und erst dann der westlichen Gemeinden zu suchen. Davon ist in den ersten Kapiteln des vorliegenden Werkes unter dem Titel »Antike« die Rede, insbesondere im Blick auf die »Alte Kirche des Ostens« ( Gerard Rouwhorst) und dann die »Alte Kirche des Westens« (Martin Klöckener). Das ist tatsächlich weit mehr als bloßes Vorspiel späterer westlicher Entfaltung (Johannes Calvin war sich dessen in seinem Liturgieentwurf von 1542/45 bewusst – wenngleich noch unbeholfen). Alle christliche Liturgie wurzelt in der Tat in der Anamnese des Christusgeschehens, die die christlichen Gemeinschaften aus der jüdischen Gottesdienstpraxis entwickelt haben. Entsprechend müsste dann im letzten Teil der vorliegenden Liturgiegeschichte ausführlich von den in den Limadokumenten von »Faith and Order« beim Ökumenischen Rat der Kirchen erarbeiteten und danach weltweit in den Kirchen verhandelten Gottesdienstkonzepten der Jahre 1980 die Rede sein. Die sonst höchst beachtenswerten Liturgieforscher Karl-Heinrich Bieritz und Ralph Kunz, aus Nord/Ost-Deutschland und Zürich, sind unserer Meinung nach daran zu leichtfertig vorbeigegangen (Bd. II, 156 und 416). Vielleicht ist schon der Titel des Gesamtwerkes – »Liturgie in den Kirchen des Westens« – nicht problemlos.
Aus dem zweiten Band möchten wir hier unter den 26 Kapiteln drei Titel herausgreifen und hervorheben – in der Annahme, dass diese Texte gerade in ihrer Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit ein echtes und lebendiges Bild von der Komplexität des liturgischen Lebens in den verschiedenen Kirchengebieten und damit in den vorliegenden Bänden des Handbuches vermitteln können. Zwei gegenwärtig aktive Lehrkräfte des katholischen Pariser Instituts Ur Liturgie (Hélène Bricout und Gilles Drouin) haben gemeinsam eine Beschreibung des französischen liturgischen Lebens in der nachtridentinischen Epoche verfasst. Der amerikanische Professor Paul F. Bradshaw von der Universität Notre Dame berichtet von der anglikanischen Liturgie im 19./20. Jh. Der Zürcher Professor Ralph Kunz behandelt die reformierte Liturgie im 20. Jh.
Die beiden leitenden Personen des Pariser »Institut Superieur de Liturgie« an der Katholischen Theologischen Fakultät (Institut Catholique de Paris), Frau Bricout und Pater Gilles Drouin, be­schreiben und beurteilen die katholische Liturgie in Frankreich in der Epoche zwischen dem Tridentinum und der Französischen Revolution – also vor den restaurativen Unternehmungen durch Prosper Guéranger im 19. Jh. In dieser Epoche entfaltet sich die jansenistische Konzeption. Es kommt zu einem Aufschwung in den liturgiewissenschaftlichen Studien. Die römisch-französischen Li­turgien haben sich entfaltet – sie sind dann aber auch zu Fall gekommen. Offensichtlich war die Zeit einer liturgischen Erneuerung im französischen Bereich noch nicht gekommen. Die angesprochene Epoche ist gekennzeichnet durch die heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Trägern neuer religiöser Aspirationen – der Frömmigkeit der Jansenisten mit dem klösterlichen Zentrum in Port Royal und Blaise Pascal als markantem Denker, und einer traditionalistischen, gallikanisch verwurzelten Anhänglichkeit an das fränkische liturgische Erbe. Die Häufigkeit der eucharistischen Kommunion ist ein beispielhaftes Kontroversthema. Auf diesem Hintergrund entstand im 19. Jh. die restaurierende Bewegung von Prosper Guéranger.
Der Amerikaner Paul P. Bradshaw beschreibt zunächst die Kontroversen in England zwischen den Verteidigern des im 16. Jh. zur Ablösung der katholischen Messe entstandenen Common Prayer Book und den als »Ritualisten« bezeichneten Neuerern, welche Annäherungen oder Rückkehr zur traditionell katholischen Liturgie befürworteten. Schließlich kam es im anglikanischen Kirchenbereich zum Gebrauch eines Alternative Service Book. Die etwa mit der katholischen Erneuerung der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanum zeitgleiche Neugestaltung der anglikanischen Liturgie schuf so etwas wie einen gemeinsamen Nenner des gottesdienstlichen Lebens der Christen aller Welt. Darauf energisch hingewiesen zu haben, zuversichtlich, aber ohne Illusionen, ist Verdienst des Bradshaw-Kapitels im vorliegenden Liturgiewerk.
Der gegenwärtig im Amt stehende Professor für Praktische Theologie an der Universität Zürich, Ralph Kunz, fasst die reformierte Liturgiegeschichte im 20. Jh. ins Auge. Die reformierten Christen haben niemals eine sprachlich oder kulturell zusammenhängende Einheit gebildet – ihr »Auseinanderleben« hat sich in der jüngsten Vergangenheit nochmals intensiviert. Kunz schließt seine Darstellung mit einem »Rückblick und Ausblick«, der beim holländischen Religionsphämenologen Gerardus van der Leeuw an­setzt und bei Hughs Oliphant Old (1933–2016), als Brückenbauer zwischen Amerika und Europa, endet – mit der These: »Der Gottesdienst ist weit mehr als menschliches Werk. Der Gottesdienst ist ein Werk des Heiligen Geistes […] Der Gottesdienst ist die Werkstatt ( workshop), in der wir in sein Ebenbild verwandelt werden.« (431)
Die drei im Untertitel des Gesamtwerkes genannten Aspekte – Rituelle Entwicklungen, theologische Konzepte, kulturelle Kontexte – bezeichnen treffend die Domänen, in denen christlicher Gottesdienst (oder Kultus überhaupt) sich entfaltet, in welcher Epoche oder welchem Teil der Welt auch immer. Der Verdienst des vorliegenden Werkes besteht darin, dass für die verschiedenen Epochen und in unterschiedlichsten Konfessionen des »Abendlandes« die unterschiedliche Kultwerdung beschrieben wird, kompetent und unvoreingenommen. Wir stehen so – auf zweimal rund 600 Seiten – vor einer sachlichen Darstellung dessen, was Gottesdienst ist und werden kann. Der Leser sieht sich aufgefordert zur Bewertung und gegebenenfalls zur Implikation ins kultische Geschehen.