Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1200–1201

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Albrecht, Christian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was leistet die Diakonie fürs Gemeinwohl? Diakonie als gesellschaftliche Praxis des Öffentlichen Protestantismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2018. XII, 125 S. Kart. EUR 19,00. ISBN 978-3-16-156268-6.

Rezensent:

Dörte Gebhard

»Das protestantische Engagement fürs Gemeinwohl gibt es nicht nur in der Form von Diskussionsbeiträgen, sondern insbesondere in den exemplarischen, lebendigen und anschaulichen sozialen Praktiken der Diakonie.« Mit dem letzten Satz des Buches sind die interdisziplinären Diskussionsbeiträge als nützlich, jedoch nicht ausreichend klassifiziert. Anlass für den kleinen Sammelband sind gravierende gesellschaftliche Entwicklungen, die am traditionellen Bußtagstreffen der Diakonie in der Evangelischen Akademie Tutzing im Herbst 2017 diskutiert wurden: »Die politischen Ereignisse der zurückliegenden Jahre haben gezeigt, wie fragil die Ideale von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Ausgewogenheit sind. […] Es zeigt sich, dass auch moderne, differenzierte Gesellschaften kaum ohne gemeinsame Vorstellungen des Guten auskommen.« (V)
Christian Dopheide, Theologischer Vorstand der Evangelischen Stiftung Hephata in Mönchengladbach, attestiert der Diakonie der jüngeren Vergangenheit (zu) große Staatsnähe, sieht Juristen und Theologen gut im Gespräch und verlangt: »Weniger Marktkritik – mehr unter Beweis gestellte Marktfähigkeit. Weniger Milieu- und Mitarbeiterorientierung – mehr Kunden-, Patienten- und Klientenorientierung.« (6) Dann aber erkennt Dopheide doch Herausforderungen »abseits der Märkte im zivilgesellschaftlichen Raum […] im Zuge der Flüchtlingskrise und ihrer Bewältigung« (9). Gemeinwohl wird befördert, wenn Kirche – nicht Diakonie – ihr »Wächteramt« (10) ausübt.
Hatice Akyün, Journalistin in Berlin, geboren in Anatolien, aufgewachsen in Duisburg, stellt »in der Außensicht« fest: »Interkulturelles Zusammenleben ist ein Kern unseres Gemeinwohls« (15). Bei leichter Verklärung der eigenen Kindheit legt sie die Finger in die akuten Wunden der Gesellschaft. »Dazu kommt eine schier unlösbare Situation – die Altersarmut einer ganzen Generation, die dieses Land aufgebaut hat. […] Ist es nicht auffällig, dass es nur noch um Anti-Themen geht? Gegen die Flüchtlinge, gegen die Muslime, gegen den Euro. … Man ist so konditioniert auf die Angst, etwas verlieren zu können, dass man übersieht, wie andere ungeniert abgreifen« (22). Akyün blickt auf die eigene gelungene Integrationsgeschichte zurück und verpflichtet sich selbst: »Ich […] werde alles dafür tun, was ich kann, um unser Land weltoffen, tolerant und sozial gerecht zu gestalten.« (28)
Christiane Kuller, Geschichtsprofessorin an der Universität Er­furt, gibt einen detailreichen Überblick, wie die Beziehungen zu den jeweiligen Staaten auf deutschem Boden (Kaiserreich, Krieg, Weimar, NS-Zeit, DDR, Sozialstaat im Westen) interpretiert wurden. Ihre Analyse bietet Stoff, ein »Niedergangsnarrativ« ebenso wie eine »anhaltende Erfolgsgeschichte« (57) zu erzählen. Da sich »Nächstenliebe und Professionalisierung«, so der Titel des Beitrags, zwar gelegentlich auszuschließen scheinen, sich jedoch bei gründlicher Betrachtung komplementär ergänzen, ist das Geschichtsstudium lehrreich und zukunftsorientiert.
Andreas Busch, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen, knüpft mit einer außergewöhnlichen Beobachtung an den vorherigen Beitrag an: »Ist also auf der staatlichen Seite ein hohes Maß an Wandel und Diskontinuität zu konstatieren, so gilt auf der Ebene des Sozialstaates das genaue Gegenteil: ein hohes Maß an Kontinuität fundamentaler Mechanismen, Institutionen und Verfahrensweisen, und mithin ein erheblicher Kontrast zwischen der staatlichen und der sozialstaatlichen Ebene.« (62) Kontinuität eines »semisouveränen Staates« (79), der delegieren kann und muss, kann träge wirken, ist aber effizient stabil, was durchaus den Neid der europäischen Nachbarn hervorruft.
Christian Albrecht, Praktischer Theologe an der Universität München, betrachtet den Öffentlichen Protestantismus und den diakonischen Beitrag zur sozialen Kohäsion. Diakonie hat intakte Möglichkeiten, da sie vom »gesellschaftlichen Bedeutungsverlust, den die Kirche und ihr Anspruch auf öffentliches Gehör in den vergangenen Jahrzehnten erleben mussten, […] deutlich weniger stark erfasst« (90) ist. Albrecht betont: »Die diakonische Praxis steht für die innergesellschaftliche Umsetzbarkeit der christlichen Glaubensgrundsätze« (103). Entdeckt man ihren »gemeinwohlfördernden« Modus wieder, leistet (sie) […] einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft und beugt gesellschaftlichen Spaltungen und Polarisierungen vor« (89). Keiner der genannten, sehr unterschiedlichen Wege zu mehr Gemeinwohl ist allein hilfreich, u. a. auch nicht die Marktfähigkeit; nur in ihrer Komplementarität sind sie gemeinsam gangbar.
Die Beiträge stimmen insgesamt hoffnungsvoll. Auch eine sehr unvollkommene Diakonie hat in guten und bösen Zeiten resilient zum Gemein- und damit zum Individualwohl beigetragen und ist fähig, dies auch in Zukunft zu tun.