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Ausgabe:

November/2019

Spalte:

1180–1182

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Mosebach, Martin

Titel/Untertitel:

Die 21. Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer.

Verlag:

Reinbek b. Hamburg: Rowohlt Verlag 2018. 270 S. Geb. EUR 20,00. ISBN 978-3-498-04540-1.

Rezensent:

Helmut Moll

Dem Klappentext zufolge hat der Frankfurter Jurist und Schriftsteller Martin Mosebach »elf Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen« geschrieben. Er er­hielt dafür zahlreiche Auszeichnungen und Preise, z. B. den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis, der re­nommierteste Literaturpreis der deutschen Sprache, und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.
Angeregt durch ein »Bild auf der Titelseite einer Zeitschrift« (11) reiste M. im Frühjahr 2017 nach Ägypten, um die Familien der 21 koptischen Männer zu besuchen, die am 15. Februar 2015 von IS-Terroristen an einem Strand in Libyen ermordet worden waren. Mit dem Ruf »Jarap Jesoa« (Herr Jesus) auf den Lippen gaben sie, aus dem Glauben vorbereitet, ihr junges Leben hin. Die Mörder hatten ein Video aufgenommen, »um ein Dokument von ihrer Tat zu schaffen und damit in der ganzen Welt Schrecken zu verbreiten« (12).
Das »Reisebuch« (Klappentext) zählt die Namen der 21 jungen Männer auf, Ledige, Verheiratete und Familienväter, von denen einer aus Ghana stammt. Es folgen 21 Kapitel, die mit einem »Epilog« (261) und einer »Danksagung« (269) enden. Diese Mitglieder der koptisch-orthodoxen Kirche, deren Porträtfotos jedes Kapitel schmücken, waren »Wanderarbeiter« (19.98.133.145 u. ö.), »Kleinbauern« (22), »Landarbeiter und Maurer« (72), die angesichts geringer Arbeitsmöglichkeiten in Ägypten nach Libyen gezogen waren. Die maskierten Täter enthaupteten sie nach »dreiundvierzig Tagen der Gefangenschaft« (107) und hinterließen eine »Botschaft an die Nation des Kreuzes, geschrieben mit Blut« (38). Die Muslime antworteten hiermit auf den »Kreuzzug der Amerikaner« (32), denn diese hatten den »Körper des Osama bin Laden ins Meer geworfen, und genauso wird das Meer jetzt euer Blut aufnehmen« (33). Einer der Wächter hatte die Gefangenen in ihrer Standhaftigkeit bewundert und war selbst Christ geworden. M. stellt fest: Dabei leben wir in einer »Zeit strikter Privatisierung der Religion und wollen sie der säkularen Gesetzlichkeit unterworfen sehen« (14). In einem fiktiven »Gespräch über das Martyrium« (43–50) bekundet M. einem Skeptiker von heute die Sinnhaftigkeit des gewaltfreien selbstlosen Sterbens als direkte Nachfolge des Gekreuzigten. Deshalb tragen die Kopten nicht ohne Stolz eine »Tätowierung an der Daumenwurzel, das kleine griechische Kreuz« (148).
M. schildert seine Begegnung mit dem Metropoliten (57–64), einem »Reaktionär« (64), den er bat, »die Familien der Martyrer zu finden« (ebd.). Bei den Begegnungen mit den Angehörigen bemerkt M. keinerlei Zeichen von »Rache« (111), im Gegenteil: Sie verzichten auf »Rache und Vergeltung« (266), sie sind stolz auf ihre Verwandten, weil sie freiwillig und aus Überzeugung das Martyrium erlitten haben, gehören sie doch zur »Kirche der Martyrer« (59.261.263). Von Papst Tawadros II. in Alexandria bereits heiliggesprochen, strahlen die koptischen Glaubenszeugen Vorbildcharakter aus, mit Heiligenschein ausgestattet, auf die jenseitige Welt ausgerichtet und dennoch gegenwärtiger als zuvor. Auf Ikonen leuchten diese Neomartyrer in realistischen Porträts, als gekrönte Häupter, verbunden mit C hristusfiguren und Martyrersymbolen. Sie wirken wie vergöttlicht. Aus ägyptischen Steuergeldern hat Staatspräsident General al-Sisi, den M. reserviert vorstellt (56.68.88), »den Bau« einer »Wallfahrtskirche zum Gedächtnis der Martyrer angeordnet, er wurde auf Staatskosten errichtet« (68). Nachdem die Leichname der 21 Wanderarbeiter gefunden worden waren, konnten deren Reliquien bestattet und zur Verehrung freigegeben werden.
M. begeistert sich an der Lebenseinstellung dieser 21 Kopten; gleichzeitig hält er dem Westen den Spiegel vor, weil das »westliche Christentum dabei ist, die Verbindung zu seinen Wurzeln in der Alten Kirche zu verleugnen. Westliche Ritenkritik wirft dem ›liturgischen Menschen‹ oftmals vor, durch die Überbetonung der Liturgie gedeihe ein Ästhetizismus, der die anderen Säulen der Kirche, die Diakonie, den Dienst am Nächsten, und die Martyria, das Zeugnis für den Glauben, zu kurz kommen lasse« (176). Mehr noch: Der Exorzismus stellt in der »westlichen Welt nur noch eine einzige Verlegenheit« (232) dar. M. verallgemeinert: »Jugend wird im Wes­ten mit Verständnislosigkeit gegenüber jeder Art von Tradition gleichgesetzt« (191). Beim Vergleich der orthodoxen mit der latei-nischen Liturgie wertet M. Letztere ab (vgl. 162–166). Anfechtbar ist s eine Behauptung, die Liturgiereform Papst Pauls VI. habe die »Form der Liturgie weitgehend zur Improvisation freigegeben« (165). M. kennt sich nicht immer in der Liturgie der Kirche aus, wenn er beispielsweise behauptet: »Die Kommunion wird, wie in der Alten Kirche üblich, in den Mund empfangen, und zwar in beiden Gestalten nacheinander« (175); Cyrill von Jerusalem schildert eine andere Praxis (vgl. Cat. Myst. V, 21 f.).
M. kritisiert auch die koptische Kirche, die »lange vor der Trennung der griechischen von der lateinischen Kirche schon aus der kirchlichen Einheit ausgeschieden ist« (169), hat doch die »koptische Hierarchie aus ihrem Kampf gegen die Vorherrschaft der Kirche von Konstantinopel nichts gelernt und später die von ihr ab­hängige orthodoxe Kirche von Äthiopien genauso bevormundet« (172). Die koptische Kirche sieht zudem die »Taufe einer anderen Kirche als ungültig an« (135). Ein Beispiel aus der Geschichte: »Der Druck der muslimischen Umwelt führte dazu, das (sic!) deren Sitten angenommen wurden – da und dort fand man nun sogar koptische Polygamie. Die Ehescheidung wurde trotz des ausdrücklichen Verbots Jesu von der Kirche gestattet, eine Lizenz, die erst in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit einer großen Kraftanstrengung wieder aufgehoben worden ist« (263).
Was M. in dieser Monographie zusammengetragen hat, verdankt sich zahlreichen Autoren. In seiner »Danksagung« (269–270) weiß er sich nicht nur den Eltern und Verwandten der 21 Männer verpflichtet, sondern auch kirchlichen und akademischen Fachleuten aus dem In- und Ausland.
Zusammenfassend: Das wie aus der Zeit gefallene Panorama der 21 Blutzeugen der koptisch-orthodoxen Kirche dient M. als Korrektiv seines eigenen Glaubens. Heiligen- und Reliquienverehrung sowie Wunderglaube haben im Nahen Osten die Zeiten überdauert. Die Rückkehr zu den Ursprüngen bildet die Bedingung der Möglichkeit einer Verjüngungskur für den gottlos gewordenen Westen. Die Leserschaft wird von M.s Faszination der Martyrer an­gesteckt und beeindruckt. Er will eine solche Begeisterung wecken, führt zugleich in politische und gesellschaftliche Fragestellungen, denen sich kein nachdenklicher Mensch des 21. Jh.s entziehen kann.